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Hinter den Schlagzeilen

Alltägliches Chaos im Irak

Von Karin Leukefeld

Zum Abschluß seines USA-Besuchs, hat sich der irakische Ministerpräsident Nouri al-Maliki mit den Vereinten Nationen auf ein 5-Jahres-Abkommen zum Wiederaufbau Iraks geeinigt. Ziel sei, Iraks „nationale Vision eines vereinten, föderalen, demokratischen Landes“ zu erreichen. In 5 Jahren soll der Irak auf eigenen wirtschaftlichen Beinen stehen. In Übereinstimmung mit den „UN-Milleniumszielen“, will die Regierung die Grundversorgung seiner Bürger gewährleisten, ihre Rechte schützen und die Ressourcen des Landes „optimal zum Gemeinwohl nutzen.“ Ein Komitee, dem neben Irak und der UN auch die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) angehören, soll „die Entwicklung (im Irak) leiten“ und der irakischen Regierung mit Rat und Tat zur Seite stehen. Dieser ‚Masterplan’ dürfte die irakische Wirtschaft mit IWF-Krediten und unter Aufsicht der Weltbank auf Generationen hin von internationalem Kapital und Multis abhängig machen. Durch Sanktionen, Krieg und Besatzung ist die irakische Ökonomie extrem geschwächt und von Korruption bestimmt. Trotz internationaler Bewachung werde die nationale Ölförderung nach Aussage des irakischen Ölministeriums zur Hälfte von international organisierten Schmugglerbanden abgezweigt. Eine weitere Belastung für die irakische Wirtschaft sind die anhaltenden Reparationszahlungen für die Kuwait-Invasion 1990. Ende Juli hat die UN-Kompensationskommission weitere 396,5 Millionen US-Dollar an Einzelpersonen ausgezahlt, die durch die Invasion Verluste erlitten hatten. Weitere 49 Klagen stehen noch an. Fast 21 Milliarden US-Dollar hat der Irak bis heute an Reparationen gezahlt.

Durch den Krieg im Libanon sind auch die neu erblühten libanesisch-irakischen Wirtschaftsbeziehungen gestoppt. Libanon und Syrien gehören zu den wichtigsten Handelspartnern Iraks, so der Ökonomieprofessor Muhammad Rushi von der Bagdad Universität. Millionen von Dollar seien beim Verkauf von Medikamenten, Gemüse und Getreide monatlich umgesetzt worden. Trotz der eigenen Not, hat die irakische Regierung 35 Millionen US-Dollar an Hilfsgeldern für den Libanon zugesagt. Vizeministerpräsident Barham Saleh erklärte, man könne die „libanesischen Brüder nicht leiden lassen.“

Dabei hätten die Iraker selber Hilfe und Solidarität nötig. Ihr Blutzoll stieg in den letzten drei Monaten nach UN-Angaben auf 6000 getötete Zivilisten. Bei seinem USA-Besuch bestätigte Maliki die Zahl und musste einräumen, dass sein Sicherheitsplan für Bagdad gescheitert ist. Ein neuer, mit den US-Truppen abgestimmter Sicherheitsplan soll nun erneut die Entwaffnung aller Milizen umsetzen, berichtet die irakische Tageszeitung Sabah. Neben Razzien und Festnahmen ohne richterlichen Beschluss, sollen die Kompetenzen der Geheimdienste erweitert werden. Parallel dazu will man die Gespräche mit den bewaffneten Oppositionsgruppen verstärken. Amerikanische Soldaten werden zusätzlich in die irakische Hauptstadt verlegt, versicherte US-Präsident George W. Busch.

Ein Beamter des irakischen Innenministeriums, der namentlich nicht genannt werden wollte, machte die irakische Armee für die schlechte Sicherheitslage in Bagdad verantwortlich. Einige der schlimmsten Gewalttaten seien in Vierteln verübt worden, in denen kurz zuvor die irakische Armee die US-Soldaten abgelöst habe.

Wie Großayatollah Ali al-Sistani unterstützt auch der konservative schiitische Religionsführer Abdul Asis al-Hakim die Entwaffnung der Milizen, auch die von ihm kontrollierten Badr-Brigaden wären davon betroffen. Man müsse stattdessen die Bürger bewaffnen, so al-Hakim, dann könnten sie sich in Zukunft selber verteidigen. Der Sicherheitschef von Bagdad, Riad Abdullah, beschuldigte Parlamentsabgeordnete so sehr mit Milizen verstrickt zu sein, dass es „schwer ist herauszufinden, wer für eine Gewalttat verantwortlich ist“, so Abdullah in einem Interview. Die Milizen seien wie „verschiedene Chemikalien“ und „hochexplosiv“, wenn man sie miteinander vermische. Die Milizführer fühlten sich nicht dem Gesamtwohl der Iraker, sondern ihren jeweiligen Parteien oder Auftraggebern verpflichtet, so Abdullah. „Das ist der Grund, warum sich die Sicherheitslage weiter verschlechtert.“

Nicht nur die Sicherheitslage ist eine Katastrophe in Bagdad, auch die staatliche Stromversorgung sei katastrophal, so Khamis al-Dhari (65), der im Westen Bagdads lebt. Es gäbe zwischen 2 und 4 Stunden Strom pro Tag. Familien ohne Generator leben wie in einem Backofen, ohne Kühlschrank, ohne Wasserpumpe, ohne Ventilatoren. Gas (zum Kochen) und Benzin sind inzwischen teurer als in den Nachbarstaaten Syrien und Jordanien, wer Benzin nicht auf dem Schwarzmarkt für bis zu 1 US-Dollar pro Liter kaufen kann, wartet bis zu 36 Stunden in seinem Auto vor einer Tankstelle, Übernachtung inklusive, berichtet al-Dhari. „Neben den vielen Militärpatrouillen sieht man auf unseren Straßen jede Menge Möbelwagen, die in alle Richtungen fahren“, erzählt al-Dhari. Schiitische und sunnitische Nachbarn, die seit Generationen beieinander wohnten, fühlten sich nicht mehr sicher. Manche Familien sind dazu übergegangen, ihre Wohnung miteinander zu tauschen.

„Als die Welt während des Krieges 2003 Tausende irakischer Flüchtlinge erwartet hatte, kamen keine“, sagt ein anderer Einwohner von Bagdad, der ungenannt bleiben möchte. „Heute fliehen sie zu Tausenden und sind froh, wenn sie ihr nacktes Leben retten können.“ Einfach ist es nicht, den Irak zu verlassen. Viele sind schon froh, wenn sie aus dem Zentralirak in die nördlichen Provinzen reisen können, wo es weniger Gewalttaten gibt.

Einige Studenten der Anbar Universität haben sich allerdings angesichts der katastrophalen Situation in ihrer Heimat entschlossen, ihre Sommerferien als freiwillige Helfer in Krankenhäusern und Flüchtlingslagern zu verbringen. „Wir können uns doch nicht einfach hinsetzen und zusehen, wie alles schlimmer wird“, meint der Medizinstudent Othman Bakr im Gespräch mit dem UN-Informationsnetzwerk IRIN. Viele Ärzte und Fachkräfte fehlen, weil sie mit Drohungen aus dem Land vertrieben wurden. Das Migrationsministerium gab im Juni die Zahl der Inlandsflüchtlinge mit 150.000 an. Mariam Dera’a, die Lehrerin werden will, hilft in einem Flüchtlingslager bei Ramadi, ihrer Heimatstadt. „Ich helfe ihnen beim Kochen und unterrichte die Kinder“, erzählt sie. Andere, wie Ayman Razak, ein Student aus Falludscha, hat mit Freunden in Bagdad Lebensmittelspenden gesammelt und sie zu den Flüchtlingslagern gebracht. „Wir haben unsere Autos mit Reis, Bohnen und Kochöl gefüllt und sie an die vertriebenen Familien verteilt. Viele haben sich gewundert, dass wir Studenten ihnen helfen.“ Es sei, als würden sie wieder als Menschen respektiert, kommentierte eine Mutter von vier Kindern, die ihr Haus in Ramadi verlassen musste. „Gott segne diese jungen Leute, die so ein gutes Herz haben. Solche findet man heute im Irak selten.“

Zu den Inlandsflüchtlingen im Irak gehört auch eine Gruppe von 198 iranischen Kurden, seit Januar 2005 in einem provisorischen Lager an der irakisch-jordanischen Grenze ausharrt. Aus Protest gegen ihre Situation hatten 8 der Flüchtlinge vor mehreren Wochen einen unbefristeten Hungerstreik begonnen, um die Aufnahme in einem sicheren Drittland für sich und ihre Gruppe sowie medizinische Versorgung in ihrem Lager zu erzwingen. Nachdem dem Besuch eines Teams von UNICEF und dem Jordanischen Gesundheitsministeriums, haben die 6 Männer und 2 Frauen ihre Aktion abgebrochen. „UNICEF hat uns jetzt medizinische Versorgung zugesagt“, sagte Khabat Mohammadi, der Sprecher der Flüchtlinge. Darum sei der Streik abgebrochen worden. Außerdem hätten viele ausländische Journalisten angerufen und ihnen versprochen, über ihre Lage zu berichten. Jordanien weigert sich, die Flüchtlinge aufzunehmen.

An einer anderen Front zeigte sich der jordanische König Abdallah hingegen großzügig. Bei einem Treffen mit Nouri al-Maliki erklärte er sich bereit, die im April kurzfristig abgesagte Versöhnungskonferenz irakischer Parteien und Religionsführer erneut auszurichten. Sicherheit und Stabilität im Irak sei im vitalen Interesse Jordaniens, so der König. Beide Politiker wollen die bilateralen Beziehungen verstärken, vor allem bei der Grenzsicherung, im wirtschaftlichen Bereich und bei der Ölförderung. Maliki erklärte, möglicherweise werde Jordanien irakisches Öl zu einem Vorzugspreis erhalten. Auch unter Saddam Hussein war Jordanien, einer der engsten Partner der USA in der Region, mit billigem Öl aus dem Irak versorgt worden.


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