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Diwanija auf der Barrikade

Lage der irakischen Bevölkerung verschärft sich weiter

Von Karin Leukefeld *

Der Alltag der Zivilbevölkerung in Irak wird immer schwieriger. Zugleich wächst ihr Protest gegen diese Lage.

In Diwanija, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, demonstrierten dieser Tage Tausende gegen steigende Preise, Benzin- und Strommangel, Entführungen und Morde. Ein Bündnis aus Parteien und Nichtregierungsorganisationen forderte den Gouverneur ultimativ auf, innerhalb von 15 Tagen die Lage zu verbessern, sonst werde man in die Protestaktionen auf die ganze Provinz ausweiten.

In Basra, wo seit Anfang Mai 250 Zivilisten getötet wurden, kritisierte derweil der Sprecher der »Friedensbewegung für Menschenrechte« (PMHR) die Darstellung der Regierung, die Sicherheitslage in der Stadt habe sich verbessert. »Die lokalen Polizisten behandeln die Bürger von Basra schlecht und nutzen ihre polizeilichen Befugnisse rücksichtslos aus«, sagte Hussein Haydary im Gespräch mit dem UN-Informationsnetzwerk (IRIN). Sie drangsaliere die Leute an Kontrollpunkten oder bei Hausdurchsuchungen. Ali Jalil, ein Betroffener, beschrieb, wie er die Polizei nach einem Durchsuchungsbeschluss fragte. Daraufhin wurden er und sein Sohn geschlagen. Man habe ihn dann drei Tage ohne Angabe von Gründen ins Gefängnis gesteckt, gefoltert und schließlich 30 Kilometer außerhalb der Stadt ausgesetzt. Er wurde gewarnt, der Polizei niemals mehr zu widersprechen. Hassan Ala'a, führender Offizier der Sicherheitskräfte von Basra, wies diese Darstellung zurück. Solche Polizisten seien »Einzelfälle« und würden dafür zur Rechenschaft gezogen, sofern die Misshandlungen nachgewiesen werden könnten. »Wir sind sicher, wenn die britischen Truppen erst mal weit weg sind von hier, wird auch die Gewalt abnehmen«, so Haydary. Doch ob die lokale Polizei dann die Menschenrechte respektieren würde, bleibt abzuwarten. Ein wachsendes Problem sind auch die Inlandsvertriebenen Iraks. Mehr als 1,3 Millionen gibt es heute, das sind nahezu fünf Prozent der Gesamtbevölkerung, hieß es jetzt in einer Erklärung der UNMission zur Unterstützung Iraks (UNAMI). Die Mehrzahl sei durch die Umsiedlungs- und Vertreibungspolitik von Saddam Hussein zu Binnenflüchtlingen geworden. Seit der USA-Invasion 2003 hat die Zahl weiter zugenommen, allein seit Februar 2006 wurden 150 000 Vertriebene gezählt. Seit vor zwei Wochen die Militäroffensive gegen die westirakische Stadt Ramadi begonnen hat, wurden 3200 neue Flüchtlingsfamilien (zwischen 20 000 und 25 000 Personen) registriert. Die irakische Regierung sehe sich außerstande, die Binnenflüchtlinge zu versorgen, so Nuridin Othman vom Migrationsministerium in Bagdad in einem Gespräch mit IRIN.

Kinder aus vertriebenen Familien seien gesundheitlich stark gefährdet, meint Dr. Muhammad Jarnon, der am Kinderkrankenhaus in Bagdad arbeitet. Familien, die fliehen mussten, haben andere Probleme, als sich um die eigene oder die Gesundheit der Kinder zu kümmern. »Sie können sich keinen Arzt leisten und ein Krankenhaus ist vielleicht nicht in der Nähe, darum kommen sie erst, wenn das Kind in einem kritischen Gesundheitszustand ist.« Die meisten Kinder, die er behandelt, seien unterernährt, so Dr. Jarnon. Sie leiden an Krankheiten, die durch das Wasser verbreitet werden, und Durchfall. Eine saubere und sichere Wohnung sei die beste Gesundheitsvorsorge, dafür aber sei die Regierung zuständig. Viele Kinder leiden zudem an Depressionen. Der zwölfjährige Barak Ahmed wird seit zwei Monaten psychologisch behandelt. Er kann nur schwer verkraften, nicht mehr zur Schule zu gehen: »Ich war immer der Beste in meiner Klasse und habe alles für meinen Traum getan – Arzt zu werden.« Nach Angaben des irakischen Migrationsministeriums sind von den Vertreibungen rund 40 000 Kinder betroffen. Das gesamte Schulsystem sei gefährdet.

Hinzu kommt ein neues Problem in Irak – Kinderhandel. »Mindestens fünf Kinder verschwinden jede Woche«, erzählt Omar Khalif von der Gesellschaft der irakischen Familien (IFA), die sich seit 2004 um vermisste Kinder kümmert. Die Dunkelziffer sei noch größer. »Manche werden für 5000 USDollar verkauft, andere kosten zehn Mal so viel«, so Fatah Hussein vom Innenministerium.

Manchmal sind es auch die Väter selbst, die ihre Kinder bis nach Europa verkaufen. Arbeitslosigkeit und Armut treibe sie dazu.

* Aus: Neues Deutschland, 3. Juli 2006


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