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Irak: Am besten machens ein paar Amis

Von Karin Leukefeld*

Alle reden von nationaler Einheit - doch die scheint weit entfernt. Kann sie der US-Vertreter in Bagdad trotzdem durchsetzen?

«Was halten Sie denn von diesen Politikern, wie sie dasitzen und sich gegenseitig bekämpfen? Was meinen Sie denn, wer von ihnen fähig und ehrlich genug ist, um den Irak zu regieren?» Suhaila as-Sadun (Name geändert) ist eine kleine, eher schüchtern wirkende Frau aus Bagdad. Sie arbeitet für eine Hilfsorganisation. Aufrecht sitzt die fünfzigjährige Mutter von drei Kindern da und ringt mit den Händen. Das Gespräch darüber, wer die neue irakische Regierung bilden könnte, ärgert sie. Ihre Wangen sind gerötet. Bestimmt und ohne zu zögern antwortet sie auf die Frage, ob sie Vertrauen in den politischen Prozess in ihrer Heimat habe: «Nein. Überhaupt nicht.» Sie - damit meint sie die Politiker in Bagdad - seien mit leeren Händen gekommen. «Drei Jahre sind sie jetzt da, und nichts hat sich geändert. Die Lage wird sogar immer schlimmer. Und zu allem Überfluss streiten sie sich auch noch!» Dabei wünschten sich die IrakerInnen nichts sehnlicher als Ruhe, fährt as-Sadun fort. «Wer kümmert sich um uns Iraker, ohne an die Vermehrung seines eigenen Reichtums zu denken oder an seinen Sitz im Parlament?» Sie schüttelt den Kopf. «Uns ist es egal, wer regiert, zu welcher Glaubensgemeinschaft er gehört oder zu welcher Volksgruppe. Aber wir wollen jemanden, der sich ehrlich um uns kümmert.»

Vier Monate nach der Parlamentswahl wissen die IrakerInnen noch immer nicht, wer ihr nächster Regierungschef sein wird. An eine Regierung der nationalen Einheit mag kaum noch jemand glauben. Anders die Politiker. Ob Dschalal Talabani, Masud Barsani, Abdulasis al-Hakim oder Adnan Patschatschi, ob Ijad Allawi oder Ibrahim al-Dschaafari - alle reden ständig davon. Mit «nationaler Einheit» ist vor allem der Einbezug der sunnitischen AraberInnen gemeint, die sich bisher hartnäckig der amerikanisch-britischen Neuordnung des Irak entzogen haben.

Geheime Gespräche

US-Botschafter Zalmay Khalilzad, der hinter den Kulissen in Bagdad eine überaus aktive Rolle spielt, liess durchblicken, dass man zum Zwecke ebendieser nationalen Einheit - und nebenbei auch zur Eindämmung von Angriffen auf die US-Truppen - bereits seit Monaten im Irak und im Ausland intensive Gespräche mit den Aufständischen geführt habe. Diese Aufständischen, die sich selber Patriotischer Widerstand nennen, hatten zum Wahltag am 15. Dezember 2005 einen mehrtägigen Waffenstillstand erklärt und eingehalten. Man wolle allen ermöglichen, an den Wahlen teilzunehmen, gaben sie bekannt. Vom Al-Kaida-Netzwerk im Irak hingegen wurde der einwöchige Waffenstillstand scharf kritisiert.

Der Patriotische Widerstand steht unter Druck, sich deutlicher als bisher von den Terroranschlägen zu distanzieren, die gemeinhin dem Al-Kaida-Netzwerk zugeordnet werden. Die Morde an mittellosen jungen Männern, die sich von der Polizei oder dem Militär rekrutieren lassen, werden in der Bevölkerung ebenso abgelehnt wie willkürliche Anschläge auf ZivilistInnen.

Ein junger Iraker aus dem Umfeld der Aufständischen, der anonym bleiben will, erklärte vor kurzem, warum sich der Patriotische Widerstand den Terrorgruppen nicht widersetzt: «Manchmal kann ein Tumor nicht entfernt werden, weil er zu gross oder eine Operation zu gefährlich ist. Dann greift man zur konservativen Therapie mit Medikamenten und Bestrahlung. Doch wenn die Komplikationen zu massiv werden, wird eine Operation unausweichlich.» So sei das auch mit dem irakischen Widerstand, fuhr er fort. «Die terroristischen Gruppen schaden dem Widerstand, aber noch ist die Therapie konservativ. Denn es geht um den Irak, und die Zeit für interne Auseinandersetzungen, die den Widerstand sowieso nur schwächen würden, fehlt. Aber eines Tages wird dieser Tumor entfernt werden.»

Sunniten gegen al-Kaida

Nun ist dieser Zeitpunkt anscheinend gekommen. Bei verschiedenen Treffen haben sich Gruppen wie Ansar as-Sunna und die Islamische Armee offenbar auf ein 26-Punkte-Papier geeinigt, in dem sie sich unter anderem deutlich von terroristischen Anschlägen distanzieren. Seit Monaten kommt es in der Provinz Anbar, aber auch in der Umgebung von Bakuba und Samarra zu blutigen Auseinandersetzungen mit bewaffneten Einheiten ausländischer arabischer Kämpfer, die man nicht länger dulden will. Welche Zugeständnisse es seitens der US-Militärs in den geheimen Verhandlungen gegeben haben mag, ist nicht bekannt.

Auch die legalen sunnitischen Gruppen haben sich weitgehend geeinigt - mit Erfolg. Sie wurden mit insgesamt 55 von 275 Sitzen zur zweitstärksten Kraft im Parlament. Dass es noch immer keine Regierung gibt, liegt vorab an der Uneinigkeit der Wahlsiegerin, der aus schiitischen Gruppierungen bestehenden Vereinigten Irakischen Allianz. So stritt sie sich wochenlang, wen sie für den Posten des Ministerpräsidenten nominieren sollte. Mit nur einer Stimme Mehrheit machte schliesslich Interimspräsident Ibrahim al-Dschaafari das Rennen. Die knappe Mehrheit war mit der Unterstützung des radikalen Besatzungsgegners Muktada as-Sadr zustande gekommen. Diese Abhängigkeit von den Stimmen der Sadr-Bewegung verschärft die Skepsis gegen al-Dschaafari.

Auch die US-Regierung will al-Dschaafari nicht mehr. Als Ende Februar die Al-Askerija-Moschee in Samarra durch eine Explosion schwer beschädigt wurde, konnten die folgenden schweren Unruhen erst durch eine ausgedehnte Ausgangssperre und Mahnungen der religiösen Führer aller Konfessionen eingedämmt werden. Danach ging US-Botschafter Khalilzad in die Offensive. Die irakische Regierung müsse die richtigen Lehren ziehen, sagte er. Zu einer Regierung der nationalen Einheit gebe es keine Alternative.

Al-Dschaafari am Ende?

Khalilzad, gebürtiger Afghane und ranghöchster Muslim der US-Regierung, gilt als der stärkste Mann im Irak. Nachdem er an einem Krisentreffen der irakischen Regierung teilgenommen hatte, äusserte er sich im staatlichen Fernsehen al-Irakija. Die USA würden ihre finanzielle Unterstützung einstellen, sollten politische Schlüsselpositionen von Personen mit religiösem Hintergrund besetzt werden, drohte Khalilzad. Gemeint war einerseits al-Dschaafari. Khalilzads Favorit ist der amtierende Vizepräsident Adel Abdulmehdi, der bei der Wahl in der Vereinigten Irakischen Allianz al-Dschaafari mit nur einer Stimme unterlegen war. Abdulmehdi gilt als säkularer Pragmatiker und gehörte schon bei der Wahl im Januar 2005 zu den Favoriten des damaligen US-Botschafters im Irak, John Negroponte. Abdulmehdi, ein früherer Maoist, gehört seit den neunziger Jahren dem Hohen Rat für eine Islamische Revolution im Irak (SCIRI) an. Als Finanzminister einer früheren Übergangsregierung schaffte er im Irak die Voraussetzungen für Kredite des Internationalen Währungsfonds.

Eine andere Schlüsselposition, über deren Besetzung Khalilzad eigene Vorstellungen hat, ist das Innenministerium, das vom früheren Chef der im Iran ausgebildeten Badr-Brigaden, Bajan Dschabr, geleitet wird. Die Badr-Brigaden sind eine offiziell 12 000 Mann starke schiitische Miliz, die dem SCIRI untersteht. Khalilzad schlug Ijad Allawi, ehemaliger Baathist, CIA-Mitarbeiter, früherer Interimsministerpräsident und Pentagon-Protegé, als Innenminister vor, was von schiitischer Seite zurückgewiesen wurde. In der Zeitung «Al-Bajjan», die der irakischen Hisbollah zugeordnet wird, hiess es etwa, der «Afghane Khalilzad» habe «für die Regierung der Vereinigten Irakischen Allianz ein Hindernis nach dem anderen errichtet». Dieser Druck habe ausländische Kräfte gestärkt, die einen Religionskampf im Irak schürten und auch die Al-Askerija-Moschee in Samarra zerstört hätten.

Die provozierende Einmischung Khalilzads in die Regierungsbildung war aber auch erfolgreich. SunnitInnen, SäkularistInnen und KurdInnen lancierten eine Kampagne gegen al-Dschaafari und forderten die Vereinigte Irakische Allianz auf, einen anderen Kandidaten als Ministerpräsidenten vorzuschlagen. Mit insgesamt 133 Sitzen im Parlament können sie al-Dschaafari und eine von ihm ernannte Regierung blockieren. Für al-Dschaafari ist auch die hauchdünne Mehrheit in den eigenen Reihen keine stabile Basis. Die kriegsähnlichen Verhältnisse nach der Zerstörung der Al-Askerija-Moschee in Samarra und die fast täglichen Funde von Toten, die gefoltert und ermordet wurden, in der irakischen Hauptstadt erhöhen den Druck auf al-Dschaafari. So machte etwa Tarek al-Haschimi vom sunnitischen Einheitsblock Dschaafari «für die vielen Toten» verantwortlich.

Indem er Ijad Allawi als Innenminister vorschlug, nutzte Khalilzad das allgemeine Misstrauen gegenüber dem irakischen Innenministerium, das wegen Folter in geheimen Gefängnissen und des Einsatzes von Todesschwadronen in Verruf geraten ist. Es ist fraglich, ob al-Dschaafari wirklich die Macht hat, das von SCIRI geführte Ministerium zu kontrollieren. IrakerInnen berichten, dass in der obersten Etage des Innenministeriums nicht Iraker, sondern Iraner die Kontrolle hätten. Was dort geschehe, entziehe sich jeder Kenntnis.

Ob al-Dschaafari oder Abdulmehdi, viele IrakerInnen teilen die Skepsis von Suhaila as-Sadun, die keinem dieser Politiker traut. Wahrscheinlich, so folgert ein Zyniker, wäre es am besten, wenn US-Botschafter Khalilzad selber die irakischen Amtsgeschäfte führen würde. Die erste Sitzung des neu gewählten Parlaments soll - rechtzeitig zum dritten Jahrestag des Irakkrieges - am kommenden Donnerstag stattfinden - auf Druck von US-Botschafter Zalmay Khalilzad.


Hohe Hürde
Die Wahl des Ministerpräsidenten muss von einem dreiköpfigen Präsidialrat formal bestätigt werden. Dieser Rat muss zuvor mit einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments gewählt werden. Ein neuer Ministerpräsident hat sein Kabinett innerhalb von dreissig Tagen zu ernennen. Schafft er das nicht, wird eine neue Person mit der Kabinettsbildung beauftragt.


* Aus Wochenzeitung WoZ (Zürich), 16. März 2006


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