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Weltgefahr erkennen! Kofi Annan hat seine Verpflichtung nicht erfüllt

Ein Kommentar zur Lage im Irak

Von Luz María Destéfano de Lenkait*

Der UNO-Generalsekretär, Kofi Annan, hat seine im Artikel 99 der UNO-Charta vorgeschriebene zivile Verpflichtung nicht erfüllt; seinen Befugnissen zufolge hat er versäumt, hinsichtlich der Aggression und Invasion in Irak konsequent und angemessen zu reagieren. Eine Aggression und Invasion, die ein souveräner Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen seit dem 20.3 erlitten hat, eine maßlose militärische Invasion, die absolut ungerechtfertigt und in flagrantem Bruch mit der Charta von San Francisco (Art.2/4), Konventionen und humanitären Prinzipien steht. Der Generalsekretär Kofi Annan brachte diesen schwersten Verstoß nicht vor die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrates seinen Befugnissen entsprechend. Damit erweisen sich die Vereinten Nationen, aber vor allem das UN-Sekretariat durch den starken USA-Völkerrechtsbruch und die USA-Dominanz unfähig, den Frieden zu wahren.

Surrealistisch klingt Kofi Annans Ruf nach Wiederkehr der Inspektoren zur Suche nach Massenvernichtungswaffen in Irak. Bis wann will Kofi Annan diese amerikanische Masche spielen? Wofür? Für eine neue Inszenierung der Besatzungsmächte? In Irak gab es nie Massenvernichtungswaffen: Es war die Erfindung der Falken, um einen Vorwand für den Krieg zu konstruieren. Die ganze Welt kennt inzwischen diese Camouflage. Kofi Annan hat sich an diesem falschen Spiel beteiligt und sich dadurch völlig diskreditiert, indem er sich als Marionette der USA erweist.

Dagegen hat der frühere Stellvertretende UN-Generalsekretär Denis Halliday rechtmäßig wirtschaftliche und politische Sanktionen gegen die USA und Großbritannien gefordert. Angesichts des Völkerrechtsbruchs der Angreifer sollten ökonomischen Strafen verhängt und Diplomaten beider Staaten aus ihren jeweiligen Gastländern ausgewiesen werden (Meldung vom 2.4.03).

Der Sicherheitsrat hätte sofort am 20.3. zusammentreten müssen, um die lang geplante Invasion, von ein paar Ländern gewollt, anzuklagen und zu beenden, ein Überfallkrieg, der gegen den Mehrheitswillen aller Nationen begonnen wurde, gegen den Willen der Weltbevölkerung und gegen alle Rufe zur Vernunft und Besonnenheit, die an Bush die höchsten moralischen Instanzen der Welt gerichtet hatten, von Papst Johannes-Paul II bis zu seiner eigenen Kirche in Amerika.

Humanitäre Hilfe zu organisieren ist keine Aufgabe des Sicherheitsrates, keine Aufgabe der Vereinten Nationen, sondern vielmehr zentrale Aufgabe von Nicht-Regierungs-Organisationen, von Hilfsorganisationen. Der Sicherheitsrat muß sich mit der Gefahr eines Angriffskrieges befassen und das internationale Recht wiederherstellen. Er muß sich gegen die angelsächsischen Invasoren richten: Großbritannien und Amerika, die sich zuallererst für alle Konsequenzen ihrer verbrecherischen Eskapade verpflichten und sich aus dem angegriffenen Land zurückziehen müssen. Der Rechtsverstoß muß verurteilt und die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden: Ein Volk, Mitglied der internationalen Gemeinschaft, stand wochenlang unter ständigem Bomben-Terror; ein Land ist dadurch völlig zerstört worden, ohne daß sich der Sicherheitsrat damit befaßt hat.

Die Gerechtigkeit und der Anstand fordern unsere menschliche Solidarität mit dem Irak, mit der islamischen Welt in dieser tragischen Stunde, in der ein islamisches Volk von allen verlassen scheint mitten in einem Inferno, mitten in Chaos und Anarchie, provoziert von der Irrationalität gestörter Individuen mit Macht, aber ohne Gewissen, ohne Skrupel, ohne Menschlichkeit, ohne Scham. Wenn nicht der Sicherheitsrat muß sich die Vollversammlung konstituieren und eine entsprechende Resolution verabschieden. Wirksam wäre gewesen, mit der Arabischen Liga und der Islamischen Konferenz gemeinsam zu handeln, um die Vereinten Nationen unisono zu bewegen, ihre Verpflichtungen für den Weltfrieden zu übernehmen, damit die unmenschliche Abnormität gebremst worden wäre. Die Besatzungstruppen sind jetzt verpflichtet, Ordnung im Irak zu schaffen. Aber die Zukunft Iraks gehört dem irakischen Volk allein. Ein amerikanisches Besatzungsregime kommt nicht in Frage. Es wird strikt abgelehnt.

Die Täter dieser kriminellen feigen Aggression müssen sich international verantworten für alle Folgen ihrer Handlungen, ohne die Institutionen weiter zu mißbrauchen, um ihre Schuld und Verantwortung auf andere zu laden. Der Täuschungsmeister und golfskriegserfahrener Soldat-Minister Colin Powell verwies auf amerikanische Opfer, um die USA-Führungsrolle in Irak zu "rechtfertigen". Sein Zynismus ist schamlos und stellt alles auf den Kopf. Schon die irakischen zivilen Opfer sind eine Schande und ein Greuel für jedes Gewissen, sie demonstrieren in so tragischer und absurder Weise, daß ein Krieg immer das größte Verbrechen ist und immer sein wird. Dieser zwangsläufig fürchterliche Krieg mit allen seinen grauenvollen Konsequenzen geht allein auf das Konto von Colin Powells Patron, der am Rand aller Gesetze diesen feigen Angriffs-Krieg angeordnet hat. Colin Powell ist ein Kollaborateur dazu. Hinsichtlich der amerikanischen Opfer, die Bush verursacht hat, müssen sich die zuständigen demokratischen gerichtlichen Institutionen in Amerika einschalten, um die Verantwortungsträger dieses verbrecherischen Krieges zu ahnden und Schmerzensgeld für die Angehörigen der Opfer zu verlangen. Ein Einsatz von Finanzmitteln seitens Europa wäre unter den aktuellen Umständen das falsche Signal. Die UN darf keineswegs den Eindruck erwecken, es gebe eine rechtliche Grundlage für einen amerikanisch-britischen Angriffskrieg und für die Besetzung Iraks.

Man muß Druck auf die Vereinigten Staaten mit allen Institutionen der Zivilisation ausüben, damit Washington aus seinen Verpflichtungen für Schadensersatz, humanitäre Hilfe und Wiedergutmachung, die es dem angegriffenen Volk und Land schuldet, nicht entkommt. UNICEF und alle anderen humanitären Organisationen müssen gegen die Bush-Regierung Anklage erheben, gegen diejenigen, die sich für eine solche Unmenschlichkeit und humanitäre Kathastrophe verantworten müssen. Auch die UNESCO sollte die Invasoren verklagen wegen Plünderung von Museen und Raub wertvoller Kunst im Irak, die dem Weltkulturerbe gehören. Die fürchterlichen Konsequenzen des Völkerrechtsbruchs der Bush-Administration, die Unrechtsneuordnung, die ihre militärische Intervention im Irak mit sich bringt, sind am herrschenden Chaos und Anarchie zu messen, an der Gesetzlosigkeit, an der Zerstörung zur Unkenntlichkeit. Es gibt keine Legitimation für eine solche kriminelle Handlung und es kann auch keine geben. Die Besatzer sind anscheinend ihrer Verantwortung auch nicht gewachsen, Ruhe und Ordnung auf dem von ihnen okkupierten Land sicherzustellen.

Die Vereinten Nationen müssen die Weltgefahr einer fundamentalistischen Bush-Regierung erkennen, genauso wie damals die Weltgefahr einer Hitler-Regierung erkannt wurde. Die heutige amerikanische fundamentalistische Gefahr ist viel größer als die Hitler Regierung angesichts der modernsten destruktiven Waffen und angesichts der Camouflage einer angeblichen "Demokratie", die in die Gesetzlosigkeit verfallen keine Demokratie, kein Rechtsstaat mehr ist. Im Gegenteil, die USA-Falken wollen das Völkerrecht, die internationale Ordnung abschaffen und sie machen keinen Hehl daraus.

Saddam Hussein wurde ein Symbol für die islamisch-arabische Welt nicht aus innenpolitischen Gründen, nicht weil er ein Despot oder weil er sein Volk unterdrückte. Nicht deswegen ist Saddam Hussein eine Persönlichkeit in der Welt geworden, sondern weil er der einzige Staatsmann der Welt war, der der USA-Hypermacht die Stirn bot und Widerstand leistete. Er war der einzige arabische Staatschef, der den Mut und die Entschlossenheit zum Widerstand gegen den Kolloss gezeigt hat.

Donald Rumsfelds Vergleich der Einnahme Bagdads mit dem Fall der Berliner Mauer offenkundigt die krasse Ignoranz des Washingtoner Falken. Oder er tut es absichtlich, weil er bewußt die Realität verdrehen will: der Fall der Berliner Mauer war ein Akt der Selbstbefreiung der deutschen und ost-europäischen Bevölkerungen, worauf eine rapide realistische politische Entscheidung vom russischen Präsident Michail Gorbatschow folgte. Der Fall der Berliner Mauer erfolgte friedlich und statuierte ein Exempel für die gewaltfreie Überwindung von Diktaturen und totalitären Systemen in Europa durch friedliche Bewegungen der hiesigen Völker. Dagegen ist die gewaltsame militärische USA-Einnahme von Bagdad eine menschliche Schande für jeden anständigen Menschen, für jeden anständigen Amerikaner. Es genügt, die Krankenhäuser in Bagdad und in anderen irakischen Städte zu besuchen, um das unermeßliche Gesicht von Leid und Tod dieses abstoßenden Hi-Tech-Krieges der amerikanischen Falken zu konstatieren. Bagdad versinkt in Chaos und Plünderung. Nicht einmal Ordnung können bisher die Besatzungstruppen im Irak schaffen.

Vor der Demokratie kommen die Menschenrechte und der Rechtstaat. Stattdessen sind wir mit massiven Menschenrechtsverletzungen im Irak konfrontiert, als Folge der Unrechtsneuordnung des von aller Gesetzmäßigkeit und Institutionen "befreiten" Iraks.

Deutschland, Europa muß sich von Amerika emanzipieren. Es hat keinen Sinn, sich für Beziehungen mit einer autistischen amerikanischen Regierung zu bemühen. Die gestrigen CDU-FDP- Kriegstreiber sind blind und gefangen in einer gefährlichen Illusion genauso wie ihre Vorgänger-Parteien damals in Hitlers Wahn und Gefolgschaft. Unfähig, die enorme Gefahr einer amerikanischen Falken-Regierung zu erkennen, favorisieren sie eine Außenpolitik Europas in den Fußstapfen dieses gesetzlosen unkontrollierten Amerikas von Bush.

Gerhard Schröder ist der erste richtige souveräne deutsche Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein intelligenter mutiger selbstsicherer Kanzler mit großem Format, wie es in Deutschland niemals gegeben hat. Er ist der Kanzler dieser schweren Stunde. Ein Glück für Deutschland, ein Glück für Europa. Gerhard Schröder muß die Kraft und Entschlossenheit beibehalten, auf dem emanzipatorischen Weg weiter zu gehen, damit Europa mehr politische Verantwortung übernehmen kann. Dafür ist es inzwischen angebracht, sich von der US-Regierung klar zu distanzieren, solange die USA von diesem aggressiven fundamentalistischen Absolutismus regiert wird. Gerhard Schröder zusammen mit Vladimir Putin und Jacques Chirac sind aufgerufen, das Gesicht Europas als zivile Friedensmacht zu gestalten. Nur so konterkariert man den Wahnsinn jenseits des Atlantiks mit der Hoffnung, dieser Wahnsinn gehe vorüber. Nur dann kann man von einem normalen Verhältnis zu einem normalisierten Amerika anfangen zu sprechen. Nicht früher, nicht jetzt.

* Juristin und Diplomatin a.D., Meerbusch. Der Kommentar wurde am 14. April geschrieben.


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