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US-Wissenschaftler: 100.000 Tote infolge Krieg und Besatzung
100 000 excess deaths, or more have happened since the 2003 invasion of Iraq, US-Researchers say

Sterblichkeit im Irak vor und nach der Invasion 2003 - Eine Cluster-Stichprobenuntersuchung
Mortality before and after the 2003 invasion of Iraq: cluster sample survey

Infolge des US-geführten Kriegs im Irak sind US-Wissenschaftlern zufolge etwa 100.000 Iraker zu Tode gekommen. Für eine Studie, die am 29. Oktober 2004 im renommierten britischen Wissenschaftsmagazin "The Lancet" veröffentlicht wurde, befragten amerikanische Wissenschaftler mit irakischen Kollegen knapp tausend Haushalte in 33 zufällig ausgewählten Gegenden im Irak. Die Familien wurden gebeten, die Zahl der seit Anfang 2002 gestorbenen Angehörigen sowie die Todesumstände zu nennen. Die Wissenschaftler berechneten daraufhin die durchschnittliche Sterberate im Irak vor und nach dem Beginn des Kriegs im März 2003 und rechneten die Ergebnisse auf die Gesamtbevölkerung hoch.

Die Untersuchungsergebnisse haben zum Teil heftige Reaktionen ausgelöst. Während aus Washington lediglich zu hören war, dass das Pentagon "keine Strichlisten über zivile Opfer" führe (Süddeutsche Zeitung, 30.10.2004), zeigt sich der britische Außenminister besorgt (siehe Ausschnitt aus dem FR-Artikel). Die Zahl 100.000 übersteigt beträchtlich die Schätzungen der Website iraqbodycount.net, die von einer unabhängigen Forschergruppe laufend aktualisiert werden. "iraqbodycount" wertet in erster Linie Medienberichte aus. Auf die Nachricht von der Veröffentlichung in "The Lancet" reagierte der US-Wissenschaftler Scott Lipscomb von "iraqbodycount" mit dem Hinweis darauf, dass sie selbst ja auch immer behauptet hätten, "dass die wahre Zahl viel höher" sein müsse. Die Schätzungen von "iraqbodycount" lagen am 29. Oktober bei rund 16.000 zivilen Opfern.



Frankfurter Rundschau:

(...) Die neue Untersuchung stammt von einem unabhängigen, US-irakischen Ärzteteam. Nach den Ermittlungen von Professor Les Roberts und seinen Mitarbeitern waren etwa die Hälfte der 100 000 Opfer, die seit März 2003 ums Leben kamen, Frauen und Kinder. "Schlechte Planung" und "ein Klima der Gewalttätigkeit" werden unter anderem für die Todesfälle verantwortlich gemacht. Die meisten Opfer sollen aber bei Luftangriffen der Alliierten getötet worden sein.

Militäraktionen und Gewalttaten sind der Untersuchung zufolge, heute bereits die häufigste Todesursache in Irak: Vor dem Krieg starben die meisten Menschen noch an Herzversagen, Hirnschlägen oder chronischen Krankheiten. Mittlerweile soll das Risiko für irakische Zivilisten, einen gewaltsamen Tod zu sterben, 58 Mal höher liegen als vor Kriegsbeginn. Zu ihren Zahlen kamen die Forscher durch Einzelbefragungen von 988 irakischen Familien. Bei den Erhebungen ergab sich unter anderem eine Verdoppelung der Rate der Kindersterblichkeit seit März 2003.

Außenminister Jack Straw versprach, die Forschungs-Ergebnisse "sehr sorgfältig zu prüfen". Er bescheinigte den Erhebungen am Freitag, seriös zu sein, sprach allerdings auch von Methoden der Studie, "die von Standard-Methoden abweichen". Kritiker der Regierung nannten die Zahlen "entsetzlich".

(Peter Nonnenmacher in der FR, 30. Oktober 2004)



Im Folgenden dokumentieren wir eine kurze Zusammenfassung der Studie. Die in "The Lancet" erschienene Studie (in englischer Sprache) können Sie als pdf-Datei hier herunterladen:

Mortality before and after the 2003 invasion of Iraq


In der Zusammenfassung der Studie schreiben die Wissenschaftler Les Roberts, Riyadh Lafta, Richard Gar.eld, Jamal Khudhairi, Gilbert Burnham u.a.:
Verglichen wurde die Periode von 14,6 Monaten vor mit der Periode von 17,8 Monaten nach dem Beginn des Krieges im März 2003.
Zur Methode heißt es: Die Untersuchung wurde im September 2004 durchgeführt, und zwar in 33 nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Regionen ("clusters"). Jeweils 30 Haushalte wurden befragt hinsichtlich Haushaltszusammensetzung, Geburten und Todesfälle seit Januar 2002. In jenen Haushalten, in denen Todesfälle vorkamen, wurde nach deren Ursachen gefragt. Daraufhin wurde das Sterberisiko bewertet. Beim Vergleich der beiden genannten Zeiträume vor und nach dem Beginn des Krieges ergab sich ein um 2,5 Mal höheres Sterberisiko in der Periode nach Beginn des Krieges. Da zwei Drittel aller durch Gewalteinwirkung Getöteten in Falludscha gezählt wurden, einer extrem umkämpften Stadt, wurden die Daten von Falludscha ausgeklammert. Nun ergab sich für den übrigen Irak in der Kriegsperiode ein um 1,5 Mal höheres Risiko, durch Gewalteinwirkung zu sterben, verglichen mit der Zeit vor dem Krieg.

Die Wissenschaftler errechneten so, dass 98.000 Todesfälle zusätzlich zu den an sich zu erwartenden Sterbefällen auftraten. Haupttodesursachen vor dem Krieg waren Herzversagen, Hirnschlägen sowie chronische Erkrankungen, während seit Beginn des Krieges die durch Gewaltweinwirkung verursachten Todesfälle überwiegen, wobei Hauptverursacher die alliierten Streitkräfte waren (also vor allem die US-Truppen sowie die britischen Truppen). Frauen und Kinder waren am stärksten von den Agriffen betroffen, heißt es weiter in der Studie.

Schließlich weisen die Wissenschaftler darauf hin, dass es sich bei ihren Berechnungen um eine "konservative", d.h. eher zurückhaltende Schätzung handelt. In Wirklichkeit dürfte die Zahl der Kriegstoten über 100.000 liegen.

Mortality before and after the 2003 invasion of Iraq: cluster sample survey

Les Roberts, Riyadh Lafta, Richard Gar.eld, Jamal Khudhairi, Gilbert Burnham

Background
In March, 2003, military forces, mainly from the USA and the UK, invaded Iraq. We did a survey to compare mortality during the period of 14·6 months before the invasion with the 17·8 months after it.

Methods
A cluster sample survey was undertaken throughout Iraq during September, 2004. 33 clusters of 30 households each were interviewed about household composition, births, and deaths since January, 2002. In those households reporting deaths, the date, cause, and circumstances of violent deaths were recorded. We assessed the relative risk of death associated with the 2003 invasion and occupation by comparing mortality in the 17·8 months after the invasion with the 14·6-month period preceding it.

Findings
The risk of death was estimated to be 2·5-fold (95% CI 1·6–4·2) higher after the invasion when compared with the preinvasion period. Two-thirds of all violent deaths were reported in one cluster in the city of Falluja. If we exclude the Falluja data, the risk of death is 1·5-fold (1·1–2·3) higher after the invasion. We estimate that 98 000 more deaths than expected (8000–194 000) happened after the invasion outside of Falluja and far more if the outlier Falluja cluster is included. The major causes of death before the invasion were myocardial infarction, cerebrovascular accidents, and other chronic disorders whereas after the invasion violence was the primary cause of death. Violent deaths were widespread, reported in 15 of 33 clusters, and were mainly attributed to coalition forces. Most individuals reportedly killed by coalition forces were women and children. The risk of death from violence in the period after the invasion was 58 times higher (95% CI 8·1–419) than in the period before the war.

Interpretation

Making conservative assumptions, we think that about 100 000 excess deaths, or more have happened since the 2003 invasion of Iraq. Violence accounted for most of the excess deaths and air strikes from coalition forces accounted for most violent deaths. We have shown that collection of public-health information is possible even during periods of extreme violence. Our results need further veri.cation and should lead to changes to reduce noncombatant deaths from air strikes.

Source: www.thelancet.com


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