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"No Go Area" für Jesiden

Das friedliche Zusammenleben der Religionsgemeinschaften im nordirakischen Kurdistan ist in Gefahr

Karin Leukefeld berichtet aus dem Norden Iraks *

Die jungen Jesiden sind sauer. Seit die Angriffe auf ihre Glaubensgemeinschaft im kurdischen Nordirak zugenommen haben, können sie nicht mehr studieren. Der 22-jährige Diyar, Student der Anglistik, wohnt in Sheikhan, etwa 50 Kilometer nordöstlich der Universitätsstadt Mossul. Doch Mossul ist für Jesiden seit April dieses Jahres eine »No Go Area«, unzugängliches Gebiet. Nicht einmal ihre Abschlussexamen können die Studenten machen, die – wie Diyar berichtet – durch eine Demonstration auf ihre unhaltbare Situation aufmerksam machen wollen.

Ausgelöst wurden die Schwierigkeiten durch die Steinigung einer jungen Jesidin. Der Mord durch einen Mob junger Männer wurde mit der Kamera eines Mobiltelefons dokumentiert. Doa, die erst 17- jährige Jesidin, hatte sich in einen Muslim verliebt, ihn geheiratet und war zum Islam übergetreten. Die Steinigung war offenbar die Strafe für den Religionswechsel. Jesidische Organisationen und das Oberhaupt der Religionsgemeinschaft verurteilten den Mord scharf. Doch kurze Zeit später wurden 26 jesidische Arbeiter ermordet. Die Täter werden unter Muslimen der Region vermutet – möglicherweise ein Racheakt.

Seither sind die Universitäten Mossuls für jesidische Studierende geschlossen. Einige seiner Kommilitonen hätten ihre Examen an der Universität in Dohuk ablegen können, berichtet Diyar.

Meriam Hassan glaubt an eine Verschwörung

Die Jugendlichen seien ungeduldig und verärgert, bestätigt Meriam Hassan Ibrahim, eine von drei jesidischen Abgeordneten im kurdischen Regionalparlament in Erbil. Obwohl sie im Recht seien, hoffe sie, dass die Studierenden nicht demonstrierten. Ohnehin sei die Lage in Nordirak wegen der türkischen Invasionsdrohungen angespannt.

Meriam Hassan stammt aus Beschika, wo sich Kirche, Moschee und jesidischer Tempel friedlich um den Marktplatz gruppieren. »Wir haben nie unterschieden zwischen Muslimen, Jesiden, Christen«, erinnert sie sich, doch die ruhigen Zeiten seien vorbei. Die kleine Frau mit dem runden, freundlichen Gesicht ist seit zwei Jahren Parlamentsabgeordnete. Mit ihren zwei Kollegen vertritt sie die 500 000 Jesiden, die in den nordirakischen Provinzen Mossul, Ninova und Dohuk leben. Dass die Jesiden vernachlässigt würden, will die Abgeordnete nicht behaupten. Jesidische Berater gebe es immerhin auch in der Zentralregierung in Bagdad. Dennoch fühlten sich die Jesiden unsicher. »Seit den Geschehnissen in Sinjar denken wir, es gibt eine Verschwörung gegen uns.«

In der Region Sinjar starben im August bei vier Attentaten 330 Jesiden, mehr als 500 Menschen wurden verletzt, etwa 30 werden bis heute vermisst, berichtet Meriam Hassan. Doch die Menschen in Sinjar seien inzwischen vergessen. Hilfsgüter, die dort eintrafen, seien überaltert, verfallen und defekt gewesen. Das habe sie mit eigenen Augen gesehen. Ohne es auszusprechen, deutet Meriam Hassan Korruption und Diebstahl durch die Verantwortlichen an, doch sie wolle und könne »niemanden direkt beschuldigen«. Eine Parlamentskommission müsse das alles prüfen.

Im Internet sei zu lesen, dass die Anschläge von Sinjar erst der Anfang waren. »Wir sind gefasst, aber wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Wir wissen nicht einmal, ob es wahr ist, was da im Internet steht.« Lange zögert die Abgeordnete mit der Antwort auf die Frage, ob sie ahne, wer hinter Anschlägen und Drohungen steckt: »Ich kann nur sagen, dass ich nicht weiß, wer dahinter steckt. Sicher ist: Es sind unsere Feinde.«

Eine Stunde Fahrt trennt Erbil vom Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden in der türkisch-irakischen Grenzregion um Dohuk. Wenn Meriam Hassan die jesidischen Gemeinden dort besucht, meidet sie die gut ausgebaute Autobahn über Mossul. Lieber macht sie einen Umweg durch das Hinterland. Weite Ebenen erstrecken sich bis zu den Bergen am Horizont, gelegentlich ist ein Weiler zu sehen, dessen Lehmbauten sich kaum von der grünbraunen und grauen Erde abheben. Die Ernte ist eingebracht, sehr viel Weizen wächst auf den Feldern der Jesiden. Auch das könnte ein Grund sein, weshalb es immer häufiger zu Überfällen auf jesidische Gemeinden kommt, erzählt Meriam Hassan während der Fahrt. »Wir wissen nicht, woher sie kommen, aber sie überfallen unsere Dörfer, stehlen unsere Mädchen und entführen sie.«

Die Angreifer ordnet sie muslimischen kurdischen Stämmen zu, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Jesiden-Region siedeln. Weitere Zuzügler folgten während des Ersten Weltkriegs, als Armenier und Kurden im zerfallenden Osmanischen Reich tödlicher Verfolgung ausgesetzt waren. Einige der verfolgten Familien fanden Zuflucht in Sheikhan, einer Stadt im Bezirk Ain Sifni. Von deren rund 8000 Einwohnern seien 70 Prozent Jesiden, die anderen Muslime und Christen, erzählt Meriam Hassan. Auch zwei jüdische Familien hätten in Sheikhan gelebt, erinnert sie sich. »In den 50er Jahren traten sie zum Islam über, damit ihre Töchter verheiratet werden konnten.«

In Sheikhan residiert Babasheik, das religiöse Oberhaupt der Jesiden. »Wir ließen die Muslime in unseren Ort, weil sie eine neue Heimat suchten«, erklärt er beim Gespräch während seiner morgendlichen Audienz. »Das war für uns eine menschliche Pflicht.« Man habe für die Neuankömmlinge sogar eine Moschee gebaut, »denn sie hatten das Recht, gemäß ihrer Religion in einer Moschee zu beten«. Inzwischen hätten die Muslime eine weitere, große Moschee am Ortseingang gebaut, sagt Babasheik: »Sie haben viele muslimische Kurden hergebracht, und jetzt beanspruchen sie unser Land.« Doch es gehe nicht nur ums Land, ergänzt Meriam Hassan, »heute geht es um Identität«.

»Wir wollen nur leben, das ist alles«

Die einzige Straße nach Lalisch, dem Heiligtum der Jesiden, führt von Sheikhan etwa zehn Kilometer durch eine landschaftliche Idylle. Der schmale Zufahrtsweg wird von bewaffneten Söhnen jesidischer Stämme kontrolliert, für Sicherheit und Ordnung in Lalisch ist jeweils eine von den Jesiden gewählte Familie verantwortlich.

Zwei Kegel markieren die heilige Grabstätte von Scheich Adi al Mussafir, der im 12. Jahrhundert der jesidischen Religion wichtige Regeln und Rituale gab. Die Ursprünge dieser Religion sollen bis zu 4000 Jahre alt sein. Die Kultstätte darf man nur barfuß betreten, Türschwellen muss man übersteigen, da sie von den Gläubigen erfurchtsvoll geküsst werden. Lalisch liegt inmitten eines tiefgrünen Tales voller Quellen und unterirdischer Wasserläufe. In einer kleinen Grotte sprudelt »Kaniya Sipi«, die Weiße Quelle, mit deren Wasser die Jesiden getauft werden.

Unter dem Haupttempel liegt das Grab Scheich Adis, das über und über mit bunten Tüchern behängt ist. Die Gläubigen umkreisen die Grabstätte drei Mal und nehmen beim Sprechen ihrer Wünsche und Gebete ein Stück Tuch in die Hand, das sie während des Betens verknoten. In einem noch tiefer liegenden Gewölbe lagern steinerne Krüge, randvoll mit Olivenöl gefüllt. Jeden Abend vor Sonnenuntergang steigt einer der Wächter hinab und entzündet kleine Öllampen, die den ganzen Raum in wunderbares Licht hüllen.

Warum sollten sie Angst vor einem türkischen Einmarsch haben, meint Diyar, der Student der Anglistik. »Wir sind friedliche Menschen.« In wenigen Tagen hofft er, einen Posten als Lehrer annehmen zu können, die politischen Wirren um seine Heimat kümmern ihn offenbar nicht. »Wir leben hier in Kurdistan, wir teilen das gleiche Schicksal.« Wenn die türkische Armee ein Problem in Kurdistan habe und es lösen müsse, sei das ihr Job, er habe damit nichts zu tun. »Wir sind nur einfache Leute, die leben wollen. Das ist alles.«

* Aus: Neues Deutschland, 16. November 2007


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