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"Uns geht es schlechter als während der Sanktionen!"

April 2005: Fünf Tage im Irak - Ein neuer Reisebericht von Dr. Eva-Maria Hobiger

Die Wiener Tageszeitung "Die Presse" berichtete Mitte Mai über die humanitäre Lage im Irak. Darin kommt auch die Ärztin Eva-Maria-Hobiger zu Wort, die kurz zuvor von einer Reise aus dem Irak zurcügekehrt war. In dem Artikel heißt es u.a.:
Der Tod ist billig geworden in Basra. Um 30 Cent kann man ihn kaufen, mehr kostet eine Handgranate nicht. Das Leben wird in der südirakischen Stadt aber immer teurer. "Eine Dose Trockenmilch kostet jetzt schon acht US-Dollar", berichtet die österreichische Ärztin Eva-Maria Hobiger der "Presse". Viele Mütter könnten sich das nicht mehr leisten und fütterten ihre Kinder deshalb mit Zuckerwasser. Die Folge: Unterernährung und Hirnschäden. Hobiger ist soeben aus Basra zurückgekehrt, wo sie ein Projekt im "Ibn Ghazwan"-Mutter-Kind-Spital betreut.
40 Grad hat es bereits in der südirakischen Stadt. Und mit dem Steigen der Temperaturen steigt auch die Zahl der Patienten. "Ins Krankenhaus werden immer wieder Kinder mit blutigen Durchfällen eingeliefert", erzählt die Ärztin. In Basra grassiere Cholera und Ruhr. Grund dafür sei der Mangel an sauberem Trinkwasser.
40 Prozent der Bevölkerung beziehen das Wasser aus dem - verschmutzten - Leitungsnetz, so Hobiger. "Der Rest trinkt dreckiges Flusswasser oder kauft es aus Tanklastwagen." Doch auch das gekaufte Wasser birgt Gefahren in sich. "Es gibt einige Händler, die das Trinkwasser mit Flusswasser strecken." Auch im Krankenhaus steht es mit der Hygiene nicht zum Besten. Duschen und Toiletten sind ständig verstopft. Hobiger sucht jetzt Sponsoren, um das Abwassersystem im Spital sanieren zu können - ein Projekt, das sich auf 20.000 Euro belaufen wird.
(Die Presse, 14. Mai 2005)
Im Folgenden dokumentieren wir den Reisebericht von Eva-Maria Hobiger in voller Länge.



April 2005: Fünf Tage im Irak

Von Dr. Eva-Maria Hobiger

Reise in den Irak: 18. bis 25. April 2005

Jedes Mal wenn ich in den Irak reise, tue ich das in der Erwartungshaltung, zumindest ein Anzeichen für eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung zu finden, aber jedes Mal werde ich aufs Neue enttäuscht. So auch jetzt. Am 18. April 2005 fliegen Bashar (unser Techniker) und ich nach Kuwait, um von da weiter nach Basra zu reisen. Noch immer gibt es keinen direkten Grenzverkehr zwischen Kuwait und Irak und so müssen wir zur Grenze gebracht werden, zu Fuß passieren, und auf der anderen Seite abgeholt werden. Auf der Straße zwischen der Grenze und Basra ging zwei Stunden bevor wir sie passierten, eine Bombe hoch. Am Tag vor unserer Ankunft explodierten vor der Universität drei Bomben, als ein Bus mit Polizisten attackiert wurde. Und am zweiten Tag unseres Aufenthaltes geht vor dem Polizeihauptgebäude eine Bombe hoch, sieben Polizisten werden verletzt. Das Polizeigebäude befindet sich in einer der Hauptstraßen in Basra, wo auch wir täglich vorbei müssen und wo es aufgrund der Absperrungen immer wieder Staus gibt. Ein wenig mulmig ist einem schon, wenn man da eingeklemmt zwischen all den Autos steht. Und später werden wir hören, mit welchen Ängsten die irakischen Polizisten leben müssen. Jeden Tag, wenn sie das Haus verlassen, um ihre Arbeit anzutreten, verabschieden sie sich von ihren Familien so, als ob sie nie wieder kommen würden. Die Todesangst ist ein ständiger Begleiter in ihrem Beruf. Waffen sind leicht und billig zu haben im Irak, eine Handgranate ist um 500 Dinar zu bekommen, das sind ca. 30 Cent.

Zuckerwasser statt Milch für Säuglinge

Einen Nachmittag lang verbringe ich in der Ordination der Kinderärztin Dr. Jenan. Für die zwei winzigen Räume (einer dient als Behandlungszimmer, einer als Wartezimmer) hat die Ärztin drei Stromleitungen, um sicher zu stellen, auch wirklich immer arbeiten zu können, denn die Räume sind fensterlos. Eine der Leitungen ist von der Hauptversorgung und zwei von verschiedenen Generatoren. Das was wir an diesem Nachmittag hier sehen, erschüttert uns. Die Zahl der unterernährten Kinder steigt kontinuierlich und besorgniserregend an. Was ist der Grund dafür? Die Frauen, die mit ihren kranken Kindern kommen, erzählen: Früher gab es Trockenmilch in der monatlichen Lebensmittelration, wenn man ein kleines Kind hatte. Diese Trockenmilch wurde nun gestrichen (warum weiß niemand) und in den Geschäften kostet eine Dose Trockenmilch (500 g) bis zu acht Dollar – ein Betrag, der astronomisch ist für die unzähligen Arbeitslosen im Irak, Frischmilch ist ohnehin kaum erhältlich. Vor dem Krieg kostete Trockenmilch ein paar Cent. Und so füttern die Frauen ihre Säuglinge und Kleinkinder mit Zuckerwasser. Das aber hat nicht nur eine Verminderung der Resistenz gegenüber Infektionskrankheiten zur Folge, sondern sogar bleibende Gehirnschäden. Immer mehr tuberkulosekranke Kinder werden verzeichnet, die Tropenerkrankung Kala Azar befällt immer mehr Kinder. Die Zahl der frühgeborenen Kinder und der Aborte steigt, viele Neugeborene haben ein zu geringes Geburtsgewicht. Die Mehrzahl von Jenans Patienten sind jünger als drei, vier Jahre und stark untergewichtig und die meisten leiden an schweren Durchfallserkrankungen. Ein Kind ist ohne Augen geboren, es ist 18 Monate alt und hat den Körperbau eines sechsmonatigen Säuglings.

Das ohrenbetäubende Rattern der Stromgeneratoren ist für mich schon zu einem Teil von Basra geworden, dieses Mal stoppen sie fast überhaupt nicht. Wenn es öffentliche Stromversorgung gibt, dann wird sie immer wieder unterbrochen. Mehr als zwei, drei Stunden pro Tag sind es sicher nicht. Nur die reichen Leute haben einen Generator, ein solcher kostet ein paar Tausend Dollar. Die Mehrzahl der Leute in Basra ist arm, und die können sich einen Generator sicher nicht leisten. Bereits jetzt im April hatte es 40 Grad, bald werden es mehr als 55 Grad sein. Das Abendessen findet meist bei Kerzenlicht statt, nicht weil das so romantisch wäre, aber es gibt keinen Strom – und wenn er angeht, dann nur für ein paar Minuten. Ein Telefongespräch nach Bagdad ist unmöglich, denn ein Anschlag auf den Telefonverteiler bei Kut hat alle Leitungen im Süden des Landes lahm gelegt. Noch immer liegt der Müll in den Straßen, stehen die Abwässer auf den Fahrbahnen. Es funktioniert einfach nichts und auch die Motivation zum Arbeiten fehlt weitgehend.

Die Qualität des Leitungswassers in Basra ist so schlecht, dass wir für unsere Trinkwasseraufbereitungsanlage, die wir für das Kinderspital installiert hatten, ein Sedimentationsbecken für den Schlamm brauchen, ansonsten würden die Membranen bald kaputt gehen. 40 % der Bevölkerung Basras sind an das Leitungsnetz angeschlossen. Die anderen trinken Flusswasser oder kaufen Trinkwasser aus Tanklastwägen, 20 Liter für 400 Dinar. Auch das ist nicht so wenig für arbeitslose Iraker. Von den Ärzten höre ich, dass in diesem Wasser Cholera- und Ruhrerreger nachgewiesen wurden, weil gewissenlose Geschäftemacher das gereinigte Wasser mit Flusswasser vermengt hatten, um mehr Gewinn zu erzielen. Im Allgemeinen Krankenhaus von Basra gibt es auf der geburtshilflichen Abteilung überhaupt kein Wasser und so werden die Patientinnen aufgefordert, ihr Trink- und Waschwasser mitzubringen. Viele Leute leiden unter Wurmbefall aufgrund der schlechten Wasserqualität und die mangelnde Abwasserentsorgung ist der Urheber von vielen Infektionskrankheiten.

„Wir haben so viel Hoffnung in die Wahlen gesetzt“ meinen die Leute, „aber jetzt sind schon drei Monate vergangen und wir haben immer noch keine Regierung. Wie soll hier irgendetwas funktionieren, wenn das Land keine Regierung hat!“ „Uns geht es schlechter als während der Sanktionen!“ Und eine Ärztin fügt hinzu: „Der neue Irak besteht aus Handys, Satellitenschüsseln und Bananen, das hatten wir vorher nicht. Ja, und über die Regierung kann man jetzt schimpfen, aber davon haben wir auch nichts. Früher haben wir uns das halt gedacht, aber nicht ausgesprochen. Aber sonst ist alles beim alten oder noch schlechter!“ Von den vielen neuen Parteien halten die meisten Leute nichts und sie erwarten sich auch nicht wirklich etwas von der neuen Übergangsregierung. Die Engländer sieht man kaum in Basra, wenn, dann fahren sie mit der Maschinenpistole im Anschlag durch die Straßen und einmal sahen wir englische Soldaten auch vor dem Spital mit schussbereiter Waffe. Dieses – die Iraker bedrohende und provozierende - Verhalten hatte ich zuvor nur von den Amerikanern in Bagdad beobachtet.

Aladins Wunderlampe: Hoffnung im Chaos

In all dem Chaos ist es schön zu hören, dass die von uns unterstützte Kinderkrebsabteilung die beste im ganzen Irak wäre. Die Patienten kommen von weither zur Behandlung, da es sich im ganzen Land herumgesprochen hat, dass hier die Medikamente vorhanden sind, sogar aus Bagdad kämen krebskranke Kinder hierher zu Behandlung, erzählt uns der Direktor. Auch Zaid ist da, der eineinhalbjährige Junge, der im vergangenen Dezember an Leukämie erkrankt war und uns mit seinem Lachen bezaubert hat. Zaid lacht noch immer, auch nach mehreren Zyklen Chemotherapie. Nach wie vor ist die Kinderkrebsabteilung nur von unserer Unterstützung abhängig. Hätten wir in den vergangenen Jahren nicht geholfen, die Kinder wären alle ausnahmslos gestorben. Und es sind nicht wenige, die hier behandelt werden: im Vorjahr waren es 836 Kinder. Vor kurzem war das gesamte Abwassersystem des Spitals verstopft, die Folge war, dass alle Nassräume der Kinderkrebsabteilung mit Abwasser überschwemmt wurden, sogar ein Teil der Abteilung wurde überflutet. Der entstandene Schaden in den Nassräumen ist enorm und die derzeitige hygienische Situation gefährdet die Kinder, die infolge der Chemotherapie sehr anfällig für Infektionen sind. Hier wäre ein rasches Handeln notwendig: eine Renovierung der Nassräume und eine Lösung des Abwasserproblems. Ich ließ sofort einen Kostenvoranschlag erstellen, er beläuft sich auf Euro 20.000,-. Nicht wenig Geld, aber ohne Behebung dieses Schadens ist unser guter Erfolg gefährdet.

Die Mütter von Basra weigern sich, ihre Kinder auf der Abteilung für Neu- und Frühgeborene aufnehmen zu lassen, weil der katastrophal schlechte Zustand dieser Station in ganz Basra bekannt ist und nur wenige Kinder überleben, die hier aufgenommen werden. Wir hoffen, dass das in wenigen Monaten anders sein wird, denn der Hauptgrund unserer Reise ist es, die Renovierungsarbeiten dieser Abteilung in die Wege zu leiten, die von Caritas Österreich finanziert werden. Es ist nicht leicht, im heutigen Irak eine verlässliche Firma für derartige Vorhaben zu finden. Tagelanges Feilschen um den Preis führt endlich dann doch zum Erfolg: der Vertrag wird unterschrieben, sobald der Spitalsdirektor die Station verlegt hat, können die Arbeiten beginnen. Nach ca. zwei Monaten sollen sie abgeschlossen sein – inshallah, wie man hier zu allem sagt, was in der Zukunft liegt (= so Gott will).

Wir werden in diesen Tagen förmlich „belagert“ von Eltern mit kranken Kindern und auch von kranken Erwachsenen. Wir hatten uns so bemüht, unsere Anwesenheit so weit wie möglich geheim zu halten, aber es hatte sich wie ein Lauffeuer in ganz Basra herumgesprochen, dass wir da waren. Alle wollen einen Rat von uns, wollen im Ausland behandelt werden. Viel Hoffnung kann ich diesen Leuten nicht geben, denn es ist nicht leicht, einen Behandlungsplatz in Österreich zu bekommen. Manche von den Leuten sind schon froh, wenn man sich ihre Sorgen anhört, einige Kinder kann ich weiter zu Dr. Jenan zur Behandlung schicken. Von einigen nehme ich die Befunde mit nach Österreich, in der Hoffnung eine Behandlung zu ermöglichen. Es gibt zur Zeit keine andere humanitäre Organisation in Basra, die Behandlungen im Ausland ermöglicht. Die wenigen Hilfsorganisationen, die hier noch vertreten sind, arbeiten mit lokalem Personal und sind in ihrer Arbeit sehr eingeschränkt, denn keine internationale Hilfsorganisation entsendet derzeit einen Vertreter in den Irak, da das Risiko einfach viel zu hoch ist.

Sie werden gehen – wir aber bleiben

Bei der Stadteinfahrt in Basra ist eine überdimensionale Tafel angebracht, auf dieser steht: „Sie werden gehen, wir aber bleiben“ - gemeint sind die Terroristen, die tagtäglich Anschläge im ganzen Land verüben. Unter der Bevölkerung aber wird darüber gewitzelt, wer diese Tafel wohl veranlasst hätte. Denn dass die Besatzungstruppen im Land bleiben werden, darüber gibt es für die Leute keinen Zweifel, während sich die meisten Iraker den Kopf darüber zerbrechen, wie sie das Land verlassen könnten, um diesem Chaos hier zu entkommen. Und so sehen sich die Iraker als diejenigen, die gehen werden.

Als wir einmal beim Abendessen im Haus des Erzbischofs sitzen, schreit die Köchin auf. Ihr Mann hatte die Nachricht gebracht, dass ein Verwandter, der entführt worden war, tot aufgefunden wurde. Obwohl Lösegeld für ihn bezahlt wurde, wurde er förmlich hingerichtet. Der Tod ist überall gegenwärtig im Irak und seit mehr als zwei Jahren denkt jeder, der morgens das Haus verlässt, daran, ob er seine Familie wohl am Abend wieder sieht. Längst nicht von allen Anschlägen und Morden hören wir hier in Österreich. Der Tod oder auch die Invalidität eines Mannes stürzt eine ganze Familie in den Abgrund, denn oft ist er der Erhalter einer erweiterten Familie und nicht selten hängen bis zu 20 Menschen von seinem Verdienst ab. Wenn Iraker beisammen sitzen, lieben sie es seit jeher, sich Witze zu erzählen, die auf die jeweilige Situation Bezug nehmen. Auch wenn es damals unter Lebensgefahr streng verboten war, so war früher naturgemäß Saddam Hussein häufig Inhalt dieser Witze. Jetzt sind es die Amerikaner, die Engländer – und selbst der Tod wurde zum Gegenstand dieser Witze – eine Form der Bewältigung des erbärmlichen Alltags und ein Ventil für die Angst, die häufig unausgesprochen bleibt.

Im Namen der kranken Kinder in Basra möchten wir unseren herzlichen Dank an DHL Österreich aussprechen, 230 kg Reagenzien für das Blutanalysegerät in Spital wurden gratis von Wien nach Basra transportiert, darüber hinaus danken wir auch diesmal Dr. Faisal in Kuwait, der uns wieder seine Gastfreundschaft und Unterstützung gewährte. Er ist nicht nur uns, sondern auch den kranken Kindern in Basra zum Freund geworden. IPPNW Deutschland danken wir für die wiederholte Unterstützung (Finanzierung der Reagenzien). Und wir bitten DRINGEND um weitere Unterstützung, vor allem suchen wir einen Spender für die Finanzierung der dringend erforderlichen Arbeiten auf der Kinderkrebsstation. Denn unsere Hilfe MUSS vorläufig noch weiter gehen, die kranken Kinder in Basra brauchen UNS!

Spendenkonto:
  • Spendenkonto in Österreich: Bank Austria Creditanstalt Wien (BLZ 12000), Konto Nr. 0055-52880/03 "Kinder im Irak"
  • Spendenkonto in Deutschland: Hypo Vereinsbank AG München (BLZ 700 202 70), Konto Nr. 665 821 595 "Kinder im Irak"

Aus: Aladins Wunderlampe. Im Internet: www.saar.at/aladin/


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