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Ein neuer Irak - ein neues Leben?

Eine Reise in den Irak: 6. bis 13. Dezember 2004

Von Dr. Eva-Maria Hobiger, Wien*

Im Juni 2004 waren wir zuletzt im Irak (siehe den Bericht: "Der Krieg geht weiter ..."), spätestens für Oktober hatten wir die nächste Reise geplant. Es sollte Dezember werden, bis es endlich so weit war und die Vorbereitungen für diese Reise führten zeitweise zum Verbrauch aller unserer Geduldreserven und auch die Vorzeichen für diese Reise waren alles andere als erfolgversprechend. Seit unserem letzten Hilfstransport im Juni hatte sich die Sicherheitslage im Irak erneut deutlich verschlechtert und die Gewaltakte gegen Ausländer und Iraker, die für Ausländer arbeiteten, nahmen täglich an Frequenz und Brutalität zu. Auch Mitglieder von Hilfsorganisationen wurden vermehrt zum Ziel von Entführungen und Hinrichtungen. Einen absoluten Tiefschlag für die humanitäre Arbeit im Irak bedeutete die Nachricht von der wahrscheinlichen Ermordung von Margaret Hassan, der Leiterin der Hilfsorganisation „Care“ im Irak. Diese Meldung erschütterte wohl alle, die im Irak Hilfe geleistet hatten und noch leisten und verständlicherweise hatten auch wir Zweifel, ob eine Reise in diesem Jahr wohl noch möglich wäre. Dem stand die Tatsache entgegen, dass der Medikamentenvorrat im Kinderspital in Basra zur Neige ging und unsere Hilfe dringendst gebraucht wurde.

Im November 2004 begannen die Koalitionstruppen eine militärische Großoffensive in Falluja, was zu einer Sperre der Transitstraße führte und damit war uns der Weg, über den wir unsere Hilfsgüter immer transportiert hatten, nämlich über Amman und dann per LKW nach Basra, verwehrt. Auch nachdem die Offensive für beendet erklärt wurde, blieb die Straße gesperrt und keine jordanische Spedition nahm einen Transportauftrag in den Irak an.

Kein Geld für den Irak

Wieviele Tote hat dieser Krieg tatsächlich gefordert? Die genauen Zahlen werden wir nie kennen, aber Anfang November erschien in der renommierten Zeitschrift „Lancet“ ein Artikel, in dem von 100.000 toten Irakern im Gefolge des Krieges im Frühjahr 2003 die Rede ist. Nicht eingerechnet in dieser Zahl sind die, die aufgrund der miserablen Zustände in den Spitälern sterben, infolge von verunreinigtem Trinkwasser etc. Und täglich hören wir die Meldungen über Anschläge, bei denen vorwiegend Iraker ums Leben kommen. Wir sind diese Meldungen schon so gewohnt, dass wir sie kaum mehr wahrnehmen, großteils wird darüber auch gar nicht mehr berichtet. Das Thema „Irak“ ist kaum mehr interessant für die Medien und so kam es, dass einer der Gründe des Aufschubes unserer Reise auch die mangelnde Finanzierungsmöglichkeit eines Hilfstransportes war. Wer spendet noch für irakische Kinder? Unser Hilfsprojekt – und damit das Leben der schwerkranken Kinder in Basra - aber ist einzig und allein von Spenden abhängig. Die wenigen Spenden, die seit Monaten eingingen, reichten für eine Hilfslieferung einfach nicht aus. Es waren schließlich drei Organisationen, die einen neuerlichen Hilfstransport doch noch ermöglichten: Caritas Österreich, Difäm in Tübingen und IPPNW Deutschland.

Unsere Trinkwasseraufbereitungsanlage, die wir im September auf die lange Reise Hallein – Hamburg – Abu Dhabi – Kuwait – Basra geschickt hatten, stand vorläufig in Kuwait auf einem Lagerplatz und wartete auf den Weitertransport nach Basra. Die österreichischen Ingenieure, die die Anlage in Basra hätten installieren sollen, hatten aus verständlichen Gründen ihre Mitarbeit abgesagt. Irakische Ingenieure, die die Installation vornehmen konnten, mussten nun erst gesucht werden, Preise mussten ausgehandelt werden. Soviel an Organisationsarbeit forderte noch kein Hilfstransport zuvor.

Wien-Kuwait-Basra

Schließlich aber stand fest: wir (d.h. DI Bashar Hindo und ich) und auch unsere Hilfsgüter (8,3 Tonnen Medikamente und medizinisches Material) werden über Kuwait nach Basra reisen, allen Warnungen zum Trotz. Uns fehlte jegliche Erfahrung auf diesem Weg. Als schon alles geklärt schien, die Fracht schon in Wien am Flughafen war und sogar unsere Flüge reserviert waren, fiel die wöchentliche Frachtmaschine von Amman nach Kuwait aus. Neuerliches Verschieben, neuerliches Umbuchen. Aber am 30. November war es dann endlich soweit: Unsere Hilfsgüter reisten über Wien-Maastricht-Amman-nach Kuwait. Von dort sollten sie weiter nach Basra transportiert werden.

Am 6. Dezember flogen wir beide von Wien nach Amsterdam und von dort nach Kuwait City. In den Nachrichten an Bord hörten wir, dass die USA neuerlich Luftangriffe gegen Falluja fliegen und die Helfer des Roten Halbmondes die Ruinenstadt erneut verlassen mussten, weil „die Lage in der Stadt nicht genügend Schutz biete“. Endlich im Flugzeug, wich auch langsam die Spannung, die mir in den letzten Wochen zugesetzt hatte. Es ist nicht leicht, eine Entscheidung zu treffen, von der einem nahezu alle, ob in Österreich, ob im Irak, abraten. Vor uns lag eine große Ungewissheit, schließlich waren wir noch nie über Kuwait in den Irak gereist. Bashar ist irakischer Staatsbürger, wird er Probleme in Kuwait haben? Wir hatten nur ein Eintrittsvisum nach Kuwait erhalten, keines für einen Wiedereintritt nach unserem Irakaufenthalt. Was, wenn man uns die Wiedereinreise verweigern würde? Wenige Tage vor unserem Abflug hatten wir eine Kontakttelefonnummer genannt bekommen, Dr. Faisal Alkazemi, Unternehmer in Kuwait, und er hatte mir versprochen, für alles zu sorgen. Acht Stunden dauerte der Flug von Wien über Amsterdam nach Kuwait und es war schon nach Mitternacht, als wir in Kuwait City landeten. Trotzdem standen Dr. Faisal und General Mohammed am Flughafen, um uns willkommen zu heißen, sicher durch den kuwaitischen Zoll zu leiten und uns dann auch noch in einem sehr guten Hotel unterzubringen. Unserem zaghaften Protest wegen des teuren Hotels wurde entgegengehalten: „Ihr seid unsere Gäste!“ Am gleichen Abend kam auch die Frachtmaschine mit unseren Hilfsgütern in Kuwait an.

Der nächste Tag war ausgefüllt mit der Erledigung aller bürokratischen Hürden. Während Dr. Faisal sich um unsere Wiedereinreisevisa und um unsere Hilfsgüter kümmerte, sorgte General Mohammed für meine Ausreisegenehmigung aus Kuwait in den Irak (Bashar als Iraker brauchte diese nicht) Am späten Nachmittag war alles geregelt, und am nächsten Morgen verlassen wir Kuwait City auf einer vierspurigen Autobahn und werden zur kuwaitsch-irakischen Grenze gebracht. Das Niemandsland passieren wir mit einem Shuttlebus, da Autos mit kuwaitischen Kennzeichen im Irak nicht fahren dürfen. Dann langes Warten im eisigen Wüstenwind, es geht zu Fuß weiter samt unserem Gepäck. Auf der irakischen Seite erwarteten uns drei Männer, die uns nach Basra bringen sollten. Ab jetzt reise ich mit dem „Hidjab“, dem Kopftuch. Auf der kurzen Strecke von Safwan an der kuwaitischen Grenze bis Basra (ca. 1 Autostunde) gab es unzählige Kontrollposten (Checkpoints), oft war einer in Sichtweite des anderen angebracht. Einige der Checkpoints waren mit maskierten Bewaffneten besetzt, als wir uns näherten, dachte ich, das müssten Terroristen sein, aber dann erfuhren wir, dass es sich um irakische Nationalgardisten handelte. Die „Iraqi National Guards“ werden von der Bevölkerung geschätzt, da sie hart durchgreifen und zumindest versuchen, für Ordnung zu sorgen. Englische Soldaten sahen wir auf der ganzen Strecke nicht.

Dann schließlich in Basra: Größer könnte der Gegensatz nicht sein, noch die Bilder des reichen und luxuriösen Kuwait im Kopf, sieht man hier die Slums von Basra. Dort alles sauber und gepflegt, hier alles verwahrlost. Es hat in der letzten Nacht geregnet und da das Kanalsystem nicht funktioniert, steht das Wasser überall in den Straßen. Der Müll schwimmt auf den riesigen Pfützen. Verfallene Häuser, die Polstermöbel, die direkt auf der Straße ausgestellt sind, sind mit Plastik abgedeckt. Der Gegensatz verdeutlicht, was in diesem Land schief gelaufen ist in den letzten Jahrzehnten. „New Iraq, new life, new Basra“(Ein neuer Irak, ein neues Leben, ein neues Basra) kann man am Stadtrand auf einer überdimensionalen Tafel lesen. Bis jetzt allerdings nur leere Worte. Fotografieren auf der Straße ist nun genauso unmöglich geworden, wie es früher war, wenn auch aus anderen Gründen. Wir fahren durch die Straßen von Basra. Immer wieder sehe ich überdimensionale Tafeln, auf denen Parolen für den Aufbau des „neuen Irak“ prangen. Eines zeigt einen Mann, die Kalaschnikow in der einen Hand, eine Schaufel in der anderen. Kaum hält das Auto vor einer Kreuzung, stehen sofort mehrere bettelnde Frauen davor. Die Zahl der unterernährten Kinder hat sich nach Angaben von UNICEF während der vergangenen zwei Jahre fast verdoppelt. Hunderttausende Kinder unter fünf Jahren seien unternährt, sagte Carol Bellamy, die Sprecherin des UN-Kinderhilfswerks am 5. Dezember, viele leiden unter chronischem Durchfall. Kein Wunder, zwei Tage später werde ich hören, dass das Abflussrohr eines der großen Spitäler die Abwässer ungeklärt in den Fluss leitet – leider kein Einzelfall im Irak.

So kalt habe ich Basra noch nie erlebt, mich friert erbärmlich an diesem Tag. Es hat acht Grad, es regnet in Strömen und hier gibt es nirgends eine Heizung. Wir wohnen wie immer im Haus des Erzbischofs und als man Radiatoren in unsere kalten Zimmer stellt bin ich sehr dankbar. Meine Freude währt aber nur kurz: Es gibt kaum Strom in Basra, die Generatoren rattern überall – solang es Treibstoff gibt. Oft genug ist auch der nur am Schwarzmarkt zu weit überhöhten Preisen erhältlich. Der Generator im Bischofshaus muss jedes Mal bei Stromausfall manuell eingeschaltet werden, daher gibt es nachts keinen Strom im Haus und also auch keine Wärme. Es gibt auch kein warmes Wasser morgens. Warum die Stromversorgung noch immer nicht funktioniert, weiß niemand wirklich, dafür zirkulieren aber unzählige Gerüchte. Es gibt auch wieder tagelang kein Fließwasser und das Telefon funktioniert ebenfalls seit Tagen nicht. Es gelingt uns während der ganzen Zeit nicht, in die benachbarte Stadt Nasiriya zu telefonieren. Mein Tagebuch schreibe ich nachts bei Kerzenlicht, in meinem Schlafsack eingewickelt.

Plastikblumen anstelle von Medikamenten

Auch im Ibn Ghazwan Mutter-Kind-Spital hat sich nichts verändert, bis auf die Tatsache, dass es immer mehr verfällt. Ein Kuriosum fällt mir gleich beim Eingang auf: In der Halle stehen etliche Plastikpflanzen, man hat einige auch auf den Stationen verteilt. Vom Direktor werden wir später hören, dass diese vom Gesundheitsministerium zur „Verschönerung“ des Krankenhauses geschickt worden wären. Medikamente gäbe es allerdings keine vom Ministerium und die Medikamentenversorgung wäre so schlecht wie nie zuvor. Die ganze Region Basra hat z.B. soviel Infusionen erhalten wie ein einziges Krankenhaus in Bagdad. War das nicht auch schon vor dem Krieg so?

„Unsere“ Kinderkrebsabteilung ist in einem sehr guten Zustand und Prof. Jenan, die Leiterin, präsentiert uns stolz die Statistiken über den Rückgang der Todesfälle auf dieser Station seit wir sie regelmäßig mit dem erforderlichen Medikamentenvorrat versorgen. Die Sterblichkeit wäre von 100 % auf 30 % zurückgegangen. Es gäbe viele, viele Kinder, die aufgrund unserer Hilfe geheilt werden konnten. Weiterhin aber steigt die Zahl der Neuerkrankungen bei kindlichem Krebs und Leukämie. Fast unglaublich die Tatsache, dass die Station kein einziges Medikament vom Gesundheitsministerium erhalten hat, nach wie vor hängt das Leben der kleinen Patienten hier ausschließlich von unserer Unterstützung ab. Das ist keine leichte Verantwortung, die wir tragen, die Station ist überbelegt. Unser Medikamententransport wird schon sehnlich erwartet. In einem der Zimmer ringt ein Mädchen nach Luft trotz der Sauerstoffmaske. Sie leidet an einer schweren Lungenentzündung und Dr. Jenan meint, dieses Kind bedürfte dringend unserer Medikamente (die tags darauf ankommen werden).

Vom Bett gegenüber höre ich eine vergnügte Kinderstimme: Zaid, eineinhalb Jahre alt strahlt über das ganze Gesicht. Das Blitzlicht meiner Kamera fesselt ihn und er bezaubert uns mit seinem kleinkindlichem Charme. Die Mutter traf vor wenigen Tagen die Diagnose wie eine Keulenschlag: ihr einziges Kind leidet an Leukämie. Sie spricht Englisch und bestürmt mich mit Fragen, die alle einen einzigen Inhalt haben: „Wird mein Kind geheilt werden?“ Dr. Jenan antwortet an meiner Stelle: „Ja, mit Gottes Hilfe und mit den Medikamenten aus Österreich und Deutschland wird Zaid überleben!“ Wieder wird mir unsere Verantwortung bewusst, die wir tragen. Wir müssen das, was wir erreicht haben, fortsetzen, aber wir erhalten kaum mehr Spenden. Vor zwei Jahren, als sich schon der Krieg abzeichnete, dachten auch wir – vielleicht gegen besseres Wissen – dass sich die Situation in zwei Jahren so weit stabilisiert hätte, dass der Irak selbst für seine kranken Kinder sorgen könnte, denn die Ressourcen wären ja vorhanden. Als ich diesen Gedanken in Basra zuletzt erwähnte, meinte ein Arzt, das irakische Volk hätte noch nie in der Geschichte seinen natürlichen Reichtum nützen können und das werde sich in der Zukunft nicht ändern. Das Erdöl wäre der Fluch für das Land. Wird der Mann recht behalten oder ist diese Befürchtung nur ein Ausdruck der allgemeinen Hoffnungslosigkeit?

Die Sicherheitslage in Basra wäre deutlich besser als in Bagdad, versichern uns die Leute. Trotzdem hören wir, dass am Tag nach unserer Ankunft ein Arzt auf der Straße erschossen wurde und am nächsten Tag ging unweit vom Spital eine Bombe hoch, wobei einige Polizisten verletzt wurden. Es gibt zwar keine Ausgangssperre, aber es gilt die Regel, sich nach 19 Uhr nicht mehr auf der Straße aufzuhalten. Wir müssen einige Male diese Regel übertreten, weil wir sonst einfach unsere Aufgaben nicht bewältigen können. Die Fahrt nach Hause im Regen gleicht dann einem Blindflug, denn der Sand hat auf den Autoscheiben dicke Schlieren gebildet, die selbst dem starken Regen widerstehen. Nachts hörte ich öfters Schüsse auf der Straße und das Dröhnen der britischen Militärhubschrauber. Tagsüber sieht man die britischen Besatzer kaum, ein einziges Mal in diesen Tagen sehen wir zwei Militärautos in den Straßen. Alle paar Minuten heulen die Sirenen von Polizeiautos. Die Tatsache, dass das 340-Betten-Spital von insgesamt 30 Polizisten geschützt werden muss, zeigt die wahre Situation in Basra auf. Aber auch dadurch konnte nicht verhindert werden, dass vor kurzem ein Sprengsatz unweit der Eingangstüre zur Krebsabteilung aufgefunden wurde, der aber rechtzeitig entschärft werden konnte. Die Polizisten haben auch die Aufgabe, das Spital vor Diebstählen zu schützen und sie untersuchen die Taschen von allen, die in das Spital gehen und das Spital verlassen. Die Stehlerei wäre nur sehr schwer in Griff zu bekommen, erzählen sie uns. Wie unsicher die Lage tatsächlich ist, konnte ich daraus schließen, dass uns immer zumindest einer unserer Freunde begleitete und man uns verbot, ein Taxi zu benützen – aus Angst um unsere Sicherheit. Wir wurden immer von Tür zu Tür gefahren und ich durfte das Auto erst verlassen, nachdem die Haustür aufgesperrt war. Dabei war ich all diese Tage wie eine Irakerin gekleidet und fiel in der Öffentlichkeit daher gar nicht auf. Dass meine Verkleidung aber auch nicht ausreichte, musste ich im Spital erfahren. Als ich am ersten Tag über die Gänge ging, hörte Bashar jemanden hinter uns sagen: „Das ist ja Dr. Eva!“ Allerdings fragte mich eine Mitarbeiterin des Spitallabors, ob ich wohl zum Islam konvertiert wäre? Nachdem unser LKW angekommen war, wusste ohnehin halb Basra, dass wir da waren.

Was erwarten sich die Leute von den Wahlen im Januar? Nichts, meinen die meisten, und sie würden ohnehin nicht hingehen, denn sie hätten Angst. (Allerdings tauchte bereits das Gerücht auf, dass die Lebensmittelbezugskarte für das Jahr 2005 nur ausgehändigt würde, wenn man zu den Wahlen ging.) Eine Verschlechterung, meinen andere, denn jetzt wäre die Stadtverwaltung Basras in der Hand einer einzigen Partei, das aber würde sich dann ändern und die Kämpfe würden erneut losgehen. Könnte sich nichts verbessern für den Irak? Na ja, hoffen könne man ja, aber glauben würde man es nicht. Denn jetzt gehe alles ständig und täglich weiter den Berg hinab. Mehr denn je lähmt die Resignation die Leute, sie haben aufgegeben, das Leben außerhalb ihres Hauses interessiert sie kaum mehr, die Bewältigung des Alltags kostet ihre ganze Energie. Denn es funktioniert einfach überhaupt nichts mehr, und die Teilnahmslosigkeit und das Desinteresse nährt diesen Teufelskreis mehr und mehr. Diejenigen, die engagiert in ihrem Beruf sind, werden zunehmend depressiv. Die Verwegenen unter den jungen Männern meldeten sich zur Polizei oder aber auch die Idealisten. Für 400 Dollar Monatslohn riskieren sie jede Minute ihr Leben. Mehr als 1000 irakische Polizisten sollen innerhalb der letzen sechs Monate ermordet worden sein.

Friede auf Erden?

Im Haus des Erzbischofs von Basra, Gabriel Kassab, deutet nichts darauf hin, dass bald Weihnachten ist: „Für uns wird es heuer kein Weihnachten geben“ meint er bitter, „keine Mitternachtsmette, keine Feiern“. Das gab es noch nie im Irak, erinnert er sich. Die Christen leben in großer Angst, vor der Kirche stehen während der Messe Männer mit Maschinengewehren. In Mossul war erst vor zwei Tagen wieder eine Kirche zerstört worden, zugleich mit ihr auch eine über 1000 Jahre alte Bibliothek mit unersetzlichen Handschriften. In Mossul würde man Frauen, die auf der Straße kein Kopftuch tragen, Säure ins Gesicht schütten und es hätte mehrere Morde an Christen gegeben. Auch wenn die Situation hier in Basra – noch – besser ist, Bestechungsgelder und Morddrohungen sind auch hier an der Tagesordnung. Korruption, Diebstähle, Entführungen sind der bittere Alltag. Die Arbeitslosigkeit steigt weiter, diejenigen, die bei englischen oder amerikanischen Firmen Arbeit gefunden hatten, haben ihre Posten wieder aufgegeben, nachdem sie Morddrohungen erhalten hatten und nachdem einige tatsächlich ermordet wurden. „Friede auf Erden“ – so lautet die Weihnachts-botschaft, für die Menschen im Irak hat es seit Jahrzehnten keinen Frieden mehr gegeben. Wird es irgendwann möglich sein, in diesem Land in Frieden zu leben?

Immerhin hat der Erzbischof nach mehr als eineinhalb Jahren den Kindergarten wieder eröffnet, allerdings nur mit 40 Kindern, denn für mehr besteht keine Transport-möglichkeit, außerdem befürchtet er Entführungen. Die Armenapotheke, in der jeder, der mit einem ärztlichen Rezept kommt, sein Medikament – je nachdem ob vorhanden oder nicht – erhält, funktioniert weiterhin und wird von vielen Leuten frequentiert.

Die Hilfsgüter erreichen Basra

Der Erzbischof hatte uns sein Mobiltelefon geliehen und so konnten wir mit Dr. Faisal in Kuwait in Verbindung bleiben. Zwei Tage nach unserer Ankunft erhielten wir den erlösenden Anruf: unser LKW wird am Nachmittag in Basra ankommen. Das Eintreffen des LKWs vor dem Spital war dann die Sensation des Tages im Viertel um das Spital. Unzählige Schaulustige sammelten sich an. Allerdings waren auch wir selbst beeindruckt, denn das Lastauto war von einem 13köpfigen „Security-Team“ begleitet. Drei Autos mit insgesamt 13 Bewaffneten, die teilweise maskiert waren, hatten den randvoll gefüllten LKW eskortiert und sicher nach Basra gebracht. Auf einem der Autos, einem Chevrolet-Pickup saß ein Maskierter bei einem Maschinengewehr. Zu den 13 Sicherheitsleuten gesellten sich dann auch noch 10 Polizisten des Spitals und unter dieser Bewachung wurde der LKW entladen. Wie immer dauerte die Entladung mehrere Stunden, da alles händisch gemacht wurde, wobei zeitweise auch die Polizisten anpackten, vor allem als es darum ging, die 500 kg schwere Blutseparationszentrifuge ohne technische Hilfsmittel aus dem LKW zu entladen. Einige Spitalsarbeiter waren glücklich über den zusätzlichen Verdienst. Es war längst dunkel geworden, als der große LKW endlich leer war und sich alles im Lager des Spitals befand. 30 Paletten mit Medikamenten, medizinischem Material (wie Spritzen, Venenkanülen, Nadeln, Katheter etc.) und einigen Geräten, insgesamt 8,3 Tonnen hatten die weite Reise von Wien nach Basra gut überstanden. Jedesmal wenn ich dann die Paletten in Basra wieder sehe, die ich zuvor in Wien beschriftet hatte, kann ich es kaum glauben, dass alles unversehrt und vollzählig angekommen ist. Dr. Faisal erzählte uns später, dass dieses Security-Team pro Tag 10.000 Dollar kostet – für uns war es aber kostenlos, da Dr. Faisal die Bezahlung übernahm. Er meinte, er hätte es für notwendig erachtet, dieses Team mitzuschicken, da immer wieder LKWs samt ihren Fahrern von der Straße verschwinden. Tatsächlich haben die Groß-Diebstähle ein Ausmaß angenommen, das wirklich nicht mehr übersehbar und kontrollierbar ist. Das Land wurde zu einem großen Selbstbedienungsladen.

Am Tag darauf sortieren wir dann die Kartons im Lager, erklären deren Inhalt, erstellen Listen. Die Zeit vergeht wie im Flug. Das Blutbildgerät, das wir im Juni gebracht hatten, war durch einen Bedienungsfehler außer Funktion gesetzt worden. Die verzweifelten Versuche seitens des Personals, das Gerät zu reparieren, verschlechterte die Ausgangslage für uns nur noch mehr. Bashar hatte in Wien ein mehrtägiges Training absolviert und so begannen wir bereits am Tag nach unserer Ankunft mit der Reparatur. Bashar gelang es, die Funktion des Gerätes wieder voll herzustellen und das Laborpersonal war überglücklich. Nur wenig Zeit blieb für eine neuerliche Einschulung. Jede Minute dieser Tage in Basra waren wir im Stress. Wir hatten unseren Aufenthalt aus Sicherheitsgründen so kurz wie möglich gewählt, aber wie immer wurden unzählige Probleme an uns herangetragen und um diese alle zu lösen, hätten wir viel mehr Zeit gebraucht. Einige Kinder wurden uns vorgestellt, die im Irak nicht behandelt werden können. Fadi, ein 13jähriger Junge mit einer schweren Knochenwachstumsstörung und dadurch bedingten extremen X-Beinen, die das Gehen massiv erschwerten, hatte ich im Juni bei Kerzenlicht untersucht (es gab wieder einmal keinen Strom und die Familie hat keinen Generator), seine Röntgenbilder hatte ich mit der Taschenlampe betrachtet. Am 9. Januar 2005 kam Fadi nach Wien und wurde inzwischen schon operiert. Vier weitere Kinder wurden mir vorgestellt, mit der Bitte um eine Behandlung in Österreich. Für diese fehlen uns noch die Behandlungsplätze. Die kleine Sarah mit der Glasknochenerkrankung, die acht Monate lang in Österreich war, sah ich wieder und ihr Zustand war sehr erfreulich. Sie kann nun endlich die Schule besuchen (was ihr zuvor aufgrund ihrer Erkrankung verwehrt war). Stolz zeigt sie mir das Foto, wo sie inmitten der Kinder ihrer Klasse sitzt. Auch Zainab sah ich wieder, die vor einem Jahr in Innsbruck zur Behandlung war. Ihr ging es leider nicht so gut wie zuletzt, der Grund dürfte darin liegen, dass der Vater die letzten Kontrollen nicht regelmäßig einhalten konnte. Die Familie wohnt in einiger Entfernung von Basra und der öffentliche Transport funktioniert nicht. Was funktioniert hier eigentlich? Öfters während dieser Tage fühlen wir unsere eigene Hilflosigkeit in diesem Chaos und unsere Verbitterung darüber, wie schwer es hier ist, den ganz normalen Alltag zu leben. Davon kann sich niemand wirklich ein Bild machen, wenn er es nicht am eigenen Leib erfahren hat. Ich habe aufgehört, die Leute zu verurteilen, wenn sie sich um nichts mehr kümmern, denn ich verstehe ihre Resignation. Man kann nicht sein ganzes Leben lang permanent, jede Minute des Tages, gegen Widrigkeiten ankämpfen. Keine Arbeit, kein Strom, kein Wasser, kein Telefon, dazu die ständige Bedrohung – irgendwann gibt man dann einfach auf. „Es ist schwer, ohne Hoffnung zu leben“ meinte ein junger Mann. „Wenn du ein Ziel hast, wenn du z.B. weißt, dass das Haus, das du baust, erst in fünf Jahren fertig ist, so kannst du damit leben, auch wenn es noch so lange dauert. Aber in diesem Land gibt es für uns kein Ziel und keine Hoffnung.“

Wasser ist Leben – eine Trinkwasseraufbereitungsanlage für das Kinderspital

Sauberes Trinkwasser ist für ein Spital eine absolute Notwendigkeit, die leider seit Jahren in Basra nicht gegeben ist Dadurch erkranken jährlich Hunderte Kleinkinder an Durchfällen, die in einer Vielzahl zum Tod der Kinder führen. Dies hat uns zu der Idee bewogen, eine Trinkwasseraufbereitungsanlage für das Ibn Ghazwan Hospital zur Verfügung zu stellen. Dankenswerterweise haben Caritas Bozen und Caritas Österreich den größten Teil der Finanzierung übernommen. Die Produktion wurde zu Jahresende 2003 in Auftrag gegeben, die Arbeiten wurden im März 2004 abgeschlossen. Zur gleichen Zeit wurden in Basra Vorbereitungsarbeiten (Fundament, Wassertanks, Verlegung der Anschlussrohre etc.) durchgeführt. Aufgrund der schwierigen Lage im Irak verzögerte sich der Abschluss dieser Arbeiten. Anfang April waren alle Arbeiten abgeschlossen, jedoch verschlechterte sich die politische Lage im Irak zu diesem Zeitpunkt derart, dass an einen Transport der Anlage, die fix in einem Container montiert ist, nicht zu denken war. Monatelang stand der Container deswegen auf einem Lagerplatz in Wals/Salzburg bis er dann Anfang September per Schiff auf die lange Reise nach Basra geschickt wurde. Ende November kam die Wasseraufbereitungsanlage in Basra an und seither arbeiteten irakische Ingenieure an der Inbetriebnahme. Nun standen die Arbeiten vor dem Abschluss, die Anlage lief im Probebetrieb. In wenigen Tagen schon sollten pro Tag 120 Kubikmeter sauberes Trinkwasser für das Spital bereit stehen. Unsere Anlage kann somit den gesamten Trinkwasserbedarf des Spitals sowie den Nutzwasserbedarf der chirurgischen Abteilungen abdecken und damit eine wichtige Arbeit in der Vorbeugung von Erkrankungen leisten. Das Mutter-Kind-Spital in Basra verfügt nun über eine der modernsten Trinkwasseraufbereitungsanlagen (Containerized Reverse Osmosis System), die es derzeit auf dem Markt gibt. Die Zeit, dass Kinder im Spital neuerlich aufgrund des schlechten Trinkwassers erkrankten, sollte nun endgültig vorbei sein.

Der letzte Tag ist für uns in Basra angebrochen. Jeden Morgen stellten wir fest: Wieder haben wir eine Nacht überlebt. Tagsüber hatten wir nie Zeit, an die Gefahr zu denken, wir waren einfach zu beschäftigt. In wenigen Tagen ist Weihnachten, gibt es tatsächlich irgendwo auf dieser Welt einen Einkaufsrummel? Für mich war es, als ob ein Film gerissen und an einer falschen Stelle wieder zusammengeklebt worden wäre: Vorweihnachtliches Treiben in Wien, Stau auf den Straßen, übervolle Geschäfte, die Menschen mit der Vorbereitung des Weihnachtsfestes beschäftigt. Szenenwechsel nach Basra, Südirak: Hoffnungslosigkeit, Resignation, Chaos, Gewalt. Es war ein extrem kurzer Aufenthalt dieses Mal und ich wünschte, wir könnten länger bleiben. Angesichts all der Schwierigkeiten und widrigen Umstände müssen wir dankbar sein, dass unser Vorhaben wieder einmal so gut gelungen ist. Der Erfolg unserer Bemühungen aber darf nicht hinwegtäuschen über die tatsächliche Situation im Irak, die schlechter ist als je zuvor. Verbessert hat sich die Lage nur für die Kriegsgewinnler.

Ein letzter Besuch auf der Kinderkrebsstation, ein herzlicher Abschied von allen, die Putzfrauen zeigen uns stolz, wie sie mit ihrem neuen Reinigungswagen arbeiten, Kontrolle der Wasseranlage, Besuch im Ingenieursbüro, Kinder, die uns zur Behandlung vorgestellt werden, Ratschläge, Abschied vom Erzbischof. Dazwischen ruft Dr. Faisal an und teilt uns mit, dass die kuwaitische Grenze gesperrt wäre. Was nun? Heute Nacht ist unser Flug nach Amsterdam. Gott sei Dank sind wir so beschäftigt, dass wir keine Zeit haben, uns Sorgen zu machen. Kurze Zeit später gibt es Entwarnung: die Grenze ist wieder offen. Na also, schon sitzen wir im Auto von Adnan, dem Onkel von Mustafa (Der 10jährige Mustafa ist zur Zeit in Behandlung in Österreich und wird am 15. Dezember heimreisen). Viel zu spät verlassen wir Basra, um 16 Uhr – noch vor Einbruch der Dämmerung – wird die kuwaitische Grenze gesperrt. Fünf Minuten davor erreichen wir die Grenzstation, es ist sich wieder einmal ausgegangen! Der Fahrer von Dr. Faisal empfängt uns auf der anderen Seite und nach eineinhalb Stunden sind wir in Kuwait City. Um 1.30 Uhr morgens heben wir vom Flughafen Kuwait ab und sind am Vormittag zurück in Wien. So lange war die Vorbereitungszeit für diese Reise, so viele Schwierigkeiten gab es zu überwinden. Die Reise selbst war so kurz und problemlos, dass wir es selbst noch gar nicht begreifen können.

Zaids Lachen

Allen, die dieses Mal zum Gelingen dieses Hilfstransportes beigetragen haben, möchte ich ein herzliches Danke sagen. Diese Hilfslieferung wurde ermöglicht durch Spenden aus Österreich, Südtirol und Deutschland sowie durch die Zusammenarbeit mit Caritas Österreich - und durch großartige, völlig unerwartete Hilfe durch Menschen in Kuwait, allen voran „DHL Kuwait“ und „Faisal Alkazemi Group of Companies“. Dass Kuwaiter sich für irakische Kinder einsetzen, ist keine Selbstverständlichkeit, wenn man die konfliktbeladene Geschichte der beiden Länder kennt. Das zeigt von einer menschlichen Größe und umso mehr gilt ihnen unser Dank und unsere Hochachtung. Unser Projekt „Aladins Wunderlampe“ hat neben der direkten Hilfe für kranke Kinder die Versöhnung zwischen Kulturen und Religionen zum Ziel und den Abbau von Feindbildern. Dies so konkret zu erfahren, war das größte Weihnachtsgeschenk für uns.

Werden wir das Lachen des kleinen Zaid erhalten können? Wird er später, wenn er all die Schmerzen und das Leid während der Chemotherapie, die jetzt noch auf ihn wartet, vergessen hat, ein normales Leben führen können? Das liegt auch in unserer Hand. Er wird dann eines der irakischen Kinder sein, denen eine großartige Zusammenarbeit von Menschen in Österreich, in Deutschland, in Südtirol und in Kuwait das Leben neu gegeben haben – wenn, ja wenn wir unsere Arbeit auch fortsetzen können, denn Zaids Behandlung wird noch zwei Jahre dauern. Und monatlich erkranken fünf bis acht weitere Kinder an Krebs und Leukämie. Sie alle brauchen uns.

Ein Muslim sagte mir vor wenigen Tagen in Basra: „Menschen, die Gott besonders nahe stehen, schenkt er die Gabe, anderen helfen zu können.“ Ich glaube, dass wir alle diese Gabe bekommen haben, wir müssen sie vielleicht nur neu in uns entdecken. Unsere Hilfe in Basra ist dringender als je zuvor und sie muss fortgesetzt werden. Das Leben dieser Kinder hängt einzig und allein von unserer Unterstützung ab! Der „Neue Irak“ wird noch lange ein Wunschtraum bleiben und bis zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen in diesem Land werden die Menschen unsere Hilfe brauchen. „Ein neues Leben“ können wir den kranken Kindern in Basra geben – mit Ihrer Hilfe!

* Ärztin; Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen

e-mail: office.vienna@saar.at
Web: http://www.saar.at/aladin




Frau Dr. Hobiger bittet um Spenden für das Projekt "Aladins Wunderlampe":
In Österreich:
Bank Austria Creditanstalt Wien (BLZ 12000); Konto Nr. 0055-52880/03; „Kinder im Irak“
In Deutschland:
Hypo Vereinsbank AG München (BLZ 700 202 70); Konto Nr. 665 821 595; „Kinder im Irak“





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