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"Was immer Sie hier im Fernsehen sehen, es ist nur ein Prozent von dem, was wir täglich erleben"

HELP e.V. führt Entminungsprojekte und Wasserprojekte in ländlichen Gegenden durch. Ein Interview*

Maysoon al Shukri (56) leitet seit 2003 das Verbindungsbüro der deutschen Hilfsorganisation HELP e.V. in Bagdad. Die Mutter von drei Kindern unterrichtete bis 1994 an der Bagdad Universität Englisch, dann war sie bis zum Krieg 2003 Lehrerin an der Internationalen Schule, zu der ausschließlich Kinder von diplomatischem und UN-Personal Zugang hatten. Die Schule wurde nach der Invasion im April 2003 von unbekannten Plünderern und Brandschatzern komplett zerstört. HELP e.V. versorgte nach dem Krieg Krankenhäuser mit Lebensmitteln und frischem Wasser, später entstanden ein Entminungsprojekt und Wasserprojekte in ländlichen Gegenden nordöstlich von Bagdad.



Frage: HELP ist eine der wenigen ausländischen Organisationen, die im Irak mit lokalem Personal im Bereich der Wasserversorgung arbeiten. In welcher Region sind Sie tätig?

Maysoon al Shukri: Wir arbeiten in verschiedenen Dörfern der Provinz Diyala. Angefangen von Khanaquin im Norden bis hinunter nach Balad Ruz haben wir in 25 Dörfern Wasseraufbereitungsanlagen entweder repariert oder neu aufgebaut und die Haushalte mit einem Leitungssystem versorgt. Das Wasser stammt aus dem Tigris und verschiedenen Bewässerungskanälen in der Region.

Hatte die Bevölkerung bis dahin keine Frischwasserversorgung?

Es gab Wassertanks, die aber sehr veraltet und oft defekt waren. Außerdem gab es Tanklastzüge, die von Dorf zu Dorf fuhren. Wem diese Wasseranlieferung aber zu teuer war, der fuhr mit dem Motorrad oder einem gemieteten Kleintransporter in die nächste Stadt und füllte seine Kanister selber. Wasserleitungen oder einen Wasserkrahn zu Hause kannten die Leute nicht.

In der Provinz Diyala wird viel gekämpft, wie können Ihre Mitarbeiter dort arbeiten?

Die Gegend um Balad Ruz und Mandeli ist derzeit sehr, sehr gefährlich. Unsere Teams dort arbeiten geheim. Sie sagen nie, dass sie von HELP, einer ausländischen Organisation sind. Wenn sie gefragt werden sagen sie immer, sie kommen von der Wasserbehörde der Regierung. Das ist nicht gelogen, denn wir arbeiten mit der Genehmigung des Ministeriums und erhalten von dort auch Chlor und andere Chemikalien zur Wasserreinigung.

Wurden Ihre Mitarbeiter bedroht?

Als HELP 2003 anfing, hier zu arbeiten, trugen alle Mitarbeiter das Logo von HELP auf ihren Hemden, auch die Autos waren gekennzeichnet. Das haben wir jetzt alles entfernt, aus Sicherheitsgründen.

Und welcher Art waren die Drohungen?

Meistens telefonisch. Ich erhielt auf meinem Handy Drohungen mit Koransuren, aber ich habe einfach die Nummer geändert und weiter gearbeitet. Einige der Ausbilder im Minensuchprogramm wurden auch bedroht, aber die Arbeit war ihnen wichtiger. Ein Wasseringenieur allerdings gab seine Arbeit auf, nachdem ihm gedroht worden war, Angehörige zu entführen. Man hielt ihn offenbar für einen reichen Unternehmer. Der Druck war für ihn zu stark.

Sie entfernen auch Minen und Blindgänger aus Wohngebieten, wo arbeitet das Team?

Wir arbeiten in Bagdad und Vororten von Bagdad. Unser Team besteht jetzt aus 40 Soldaten der ehemaligen irakischen Armee. 20 von ihnen sind ausgebildete Minenräumer, sie werden angeleitet von ehemaligen hochrangigen Offizieren. Dann gibt es Fahrer und Übersetzer –

Wofür brauchen Sie bei der Arbeit Übersetzer?

Nun, manchmal treffen sie bei der Arbeit auf amerikanische Soldaten.

Gibt es Probleme mit dem US-Militär? Sie führen ja auch Hilfsprojekte durch, da können Sie doch leicht verwechselt werden.

Nein, es gibt keine Probleme mit den Amerikanern, die Übersetzer helfen bei der Verständigung mit den Truppen. Ihre Hilfsprojekte machen die Amerikaner entweder im Norden oder im Süden des Landes, dort ist es sicherer. Im Zentralirak machen sie – außer Militäroperationen – nichts. Egal ob in Diyala, Bagdad, Anbar oder auch in Hilla und Babel, hier ist die Infrastruktur sehr vernachlässigt.

Die gesamte Infrastruktur im Irak hatte ja enorm unter den UN-Sanktionen gelitten, wie ist die Lage heute?

Wenn wir die Zeit damals mit heute vergleichen, dann bevorzugen wir wirklich die Sanktionen, die „gute alte Zeit“. Natürlich war es damals keine gute Zeit, aber während der Sanktionen hatten wir immerhin Lebensmittelkarten. Es gab genug an Grundnahrungsmitteln für die Familien, wie Reis, Mehl, Öl, Zucker, Tee, es gab fünf verschiedene Sorten Getreide, zwei Sorten Seife, Milchpulver für die Kinder und vor allen Dingen, es kam regelmäßig. Ich hatte so viel, dass ich manches in den Geschäften gegen etwas anderes umtauschen konnte. Aber jetzt? In einem Monat bekommt man ein bisschen Reis, im nächsten vielleicht ein bisschen Öl, nie können wir uns darauf verlassen, ob wir überhaupt etwas bekommen. Und viele Menschen sind dringend darauf angewiesen.

In Deutschland können die Menschen sich schwer vorstellen, wie Ihr Alltag aussieht.

Unser Leben ist sehr, sehr hart. Was immer Sie hier im Fernsehen sehen, es ist nur ein Prozent von dem, was wir täglich erleben. Überall an den Straßen liegen Bomben und Minen herum. Ob Sie es glauben oder nicht, wenn wir von zu Hause fort gehen, wissen wir, dass unsere Chance, lebend zurückzukommen, 50:50 ist. Aber wir müssen gehen, wir müssen arbeiten, einkaufen, die Kinder müssen zur Schule gehen. Auch ich muss meine Tochter zur Schule schicken. Manchmal haben wir Ausgangssperren, das erfahren wir über das Radio oder den Fernseher. Dann fühlen wir uns sicher, weil alle zu Hause eingeschlossen sind. Dauert es aber mehrere Tage, werden wir unruhig, sind frustriert. Man kann doch nicht ständig im Haus sein. Wir brauchen Lebensmittel, unsere irakischen Familien sind groß, 6, 7, 8 Leute oder auch mehr leben in einem Haus. Woher soll man für alle das Brot bekommen, woher Käse, Gemüse, Obst? Diese Ausgangssperren und auch die Checkpoints, die es in der ganzen Stadt gibt, behindern unseren Alltag.

Offiziell soll sich die Versorgungslage ja gebessert haben.

Gut, manche haben ein höheres Einkommen, aber alles ist unglaublich teuer geworden. Das rechnet sich nicht. Früher haben wir für einen Liter gereinigtes Benzin 50 Dinar bezahlt, heute bezahlen wir 550 Dinar, wenn wir es überhaupt irgendwo kaufen können. Und was Lebensmittel betrifft, ja, alles, alles was man sich nur vorstellen kann, kann man kaufen. Für die meisten Leute aber, die keine Arbeit haben, ist es viel zu teuer. Auch darum haben sich Kriminalität und Entführungen verdoppelt und verdreifacht. Früher gab es so etwas nicht.

Sie arbeiten seit 2003 für HELP e.V. Wie hat sich die Lage für humanitäre Arbeit seitdem verändert?

Vor dem Krieg gab es ja nur sehr wenige internationale Hilfsorganisationen in Zentral- und Südirak. Doch direkt nach dem Krieg überschwemmten sie unser Land geradezu mit ihrer humanitären Hilfe. Wir hatten untereinander immer Kontakt, es gab regelmäßige Koordinierungstreffen mit dem Planungsministerium. Wir trafen uns auch privat, tauschten unsere Erfahrungen mit den Projekten aus. 7, 8 Monate ging das so. Aber dann verließen sie nach und nach das Land.

Das war nach den Angriffen auf die Vereinten Nationen (UN) und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (KRK), Ende 2003?

Ja, wie alle diese Bombenangriffe haben uns die Zerstörung des UN-Sitzes und des IKRK sehr traurig gemacht. Sie haben den Irakern so viel geholfen. Auch diese Morde an Irakern und Ausländern sind wirklich katastrophal. Die Entführung von Margret Hassan von Care International war auch so ein Fall. Sie hat 30 Jahre im Irak gelebt, für die Iraker gearbeitet, für uns war sie eine Irakerin.

Haben Sie nie darüber nachgedacht, Ihre Arbeit einzustellen?

Nein, ich habe einfach weiter gemacht, ich hatte keine Angst, warum weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich Irakerin bin?

Viele, die es sich leisten können, verlassen das Land.

Ich möchte im Irak bleiben, in Bagdad, in Adhamija, wo ich wohne. Hier ist meine Heimat, mein Haus, meine Familie, meine Nachbarn, mein Hund, einfach alles. Geht das nicht jedem Menschen so, dass er dort leben möchte, wo seine Heimat ist?

Ihre Heimat ist Adhamiya, einer der ältesten Stadtteile von Bagdad?

Ja, genau, dort lebe ich. Es ist eine Gegend, wo vor allem Sunniten leben, das liegt an der großen Moschee dort, der Grabmoschee von Abu Hanife. Der große Turm mit der Uhr und Teile der Moschee wurden während des Krieges durch einen amerikanischen Angriff beschädigt, was aber nach dem Krieg schnell wieder aufgebaut wurde. Vor dem Krieg gab es nicht diese Aufteilung in Sunniten und Schiiten, selbst unter Saddam Hussein war es nicht so. Es gab keine Konflikte unter uns, es war einfach kein Thema, ob wir Schiiten, Sunniten, Christen oder Kurden waren. Wir haben alle zusammen gelebt, gearbeitet, haben uns untereinander verheiratet, waren befreundet. Diese Probleme haben nach dem Krieg angefangen, auch bei uns in Adhamiya. Ja, unser Viertel gehört zu den ältesten Teilen der Stadt, und es ist eines der schönsten Viertel. Wir haben hier ein sehr schönes Einkaufsviertel, aus ganz Bagdad kamen die Leute hierher, um spazieren zu gehen, um einzukaufen. An religiösen Feiertagen war es wie im Karneval. Die Gegend ist sehr, sehr schön, direkt am Tigris, oft saßen die Leute am Ufer und machten Picknick. Jetzt sind die Straßen leer. Überall gibt es Betonmauern, die Kinder spielen Fußball auf den Straßen. Nachts hört man nichts außer Schüssen und Explosionen. So ist das heute in Adhamiya, leider.

Im vergangenen Dezember (15.12.2005) gab es Parlamentswahlen, auch eine Verfassung wurde angenommen. Dennoch ist es bisher nicht gelungen, eine neue Regierung zu bilden. Haben Sie Vertrauen in den politischen Prozess?

Nein, überhaupt nicht. Diese Politiker kamen mit leeren Händen. Jetzt sind sie drei Jahre hier und nichts hat sich verändert, im Gegenteil, alles wird schlimmer. Jetzt streiten sie auch noch untereinander, Sunniten, Schiiten, Kurden, Turkmenen. Nein, wir vertrauen ihnen nicht.

Und wer soll in Zukunft die irakischen Regierungsgeschäfte führen?

Genau diese Frage stellen wir uns schon die ganze Zeit! Wer wird sich um uns kümmern, ohne an die eigene Bereicherung zu denken und in die eigene Tasche zu wirtschaften. Wir haben keine Ahnung, wer das sein kann. Ich spreche nicht von einer Einzelperson, sondern von einer Gruppe, einer Regierung. Dabei ist es uns egal, welche Konfession diese Leute haben oder zu welcher Volksgruppe sie gehören, Hauptsache sie sind ehrlich und übernehmen die ihnen übertragene Verantwortung.

Engagieren Sie sich selber in einer Partei oder in einer der vielen Frauenorganisationen?

Nein, ich habe so viel Arbeit bei HELP, das ist mir wichtiger. Aber ich denke, die Frauen müssen in Zukunft eine wichtige Rolle in der Politik unseres Landes übernehmen.

Sie arbeiten für eine ausländische Organisation, glauben Sie, dass nur das Ausland den Irakern aus ihrer jetzigen Situation helfen kann?

Die Hilfe aus dem Ausland ist wichtig und willkommen, aber vor allem müssen wir uns selber helfen.

Nach Ihren Beschreibungen ist die soziale und politische Lage in Ihrem Land wirklich desolat, welche Kraft treibt Sie an, ihre schwierige Arbeit dennoch zu tun?

Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, wir müssen stark bleiben, um weiterzumachen. Ich weiß wohl, dass es für die nahe Zukunft keine Hoffnung gibt, aber dennoch, wir müssen darum kämpfen, müssen uns den Schwierigkeiten stellen. Trotz aller Probleme bin ich sicher, dass wir Erfolg haben werden, diese Hoffnung gebe ich nicht auf.

Interview: Karin Leukefeld, Bonn

Eine gekürzte Version dieses Interviews, das uns die Autorin freundlicherweise zur Verfügung stellte, erschien im "Neuen Deutschland" vom 24. März 2006


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