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Aufstieg und Fall der Tikriti

Saddam Hussein sicherte seine politische und militärische Macht stets durch regionale Bindung zu seiner Heimatstadt Tikrit

Als Saddam Hussein am 13. Dezember aus einem Erdloch heraus nahe Tikrit festgenommen wurde, rückte die Heimatstadt des einstigen irakischen Diktators ins Zentrum des Interesse. Karl Grobe beschreibt in dem nun folgenden Text, welcher tribalistischen und sozialen Verbindungen sich der Ex-Präsident zu seinem Machterhalt bediente. Wir haben den Text mit freundlicher Genehmigung des Autors der Dolkumentationsseite der Frankfurter Rundschau entnommen.


Von Karl Grobe

Die Tikriti - Leute aus der Stadt Tikrit am Tigris oder aus Stammesverbänden und Clans in deren Umgebung - erreichten in den vier Jahrzehnten seit dem ersten Baath-Putsch eine besondere Machtstellung. Das hängt mit der ökonomischen Entwicklung der Stadt nach dem Ende des Osmanischen Reiches, der Rolle des staatlichen Überbaus der Rentnergesellschaft und der Kader- und Personalpolitik der Baath-Partei eng zusammen. Die Tikriti sind keine einheitliche Gruppe. In der engeren Region lassen sich rund zehn Stammesverbände, Stämme und Clans unterscheiden. Der Aufstieg an die Spitze des irakischen Staates ist in den 24 Jahren der Alleinherrschaft Saddam Husseins fast ausschließlich seinem eigenen Stamm gelungen, den Albu Nasir.

Tikrit (gelegentlich auch Takrit oder Tekrit geschrieben) ist keine bedeutende Stadt. Selbst in den ausführlichsten Nachschlagewerken wurde sie höchstens als Geburtsort Saladins erwähnt, des Salah ad-Din Jusuf ibn Ajub (1138-1193), der Jerusalem von den Kreuzrittern zurückeroberte. Und im September 1917 hat in der Nähe eine der letzten großen Schlachten des Ersten Weltkriegs zwischen Briten und Türken stattgefunden, die allerdings eher mit dem Ortsnamen Ramadi bezeichnet wird. Erst mit dem wachsenden Personenkult um Saddam Hussein wurde sie bekannter; Saddam Hussein al-Tikriti ist in der Nähe geboren.

Die Stadt am Tigris hatte allerdings eine gewisse Rolle als Umschlagort gespielt, bevor die modernen Transportmittel Irak erreichten und das Land allmählich in den Weltmarkt integrierten. Waren aus den kurdischen Gebieten und Produkte der arabischen Nomaden wurden hier auf die Kelleks umgeladen, kleine Flussboote aus Holz, Fell und Leder, die nur für den Transport stromabwärts geeignet waren. Sie fuhren meist bis Bagdad, gelegentlich bis Basra, wurden dort auseinander genommen und verfeuert. Der Kellek-Bau war das Hauptgewerbe Tikrits. Nachdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Bagdadbahn gebaut wurde, konnte der traditionelle Flussverkehr der schnelleren, billigeren und zuverlässigeren Schienenkonkurrenz nicht mehr standhalten.

Chancen für die Unterschicht

Der heranwachsenden Generation bot das herkömmliche Gewerbe keine Aussichten mehr. Viele, die Schulen besucht hatten, suchten in Bagdad unterzukommen und sich zu Lehrern ausbilden zu lassen, das unabhängig gewordene Land brauchte die dringend. Andere - darunter vor allem jene, die für den Lehrberuf weniger qualifiziert waren, aber auch solche, die aber die rascheren Aufstiegsmöglichkeiten und das damit verbundene Sozialprestige reizte - verdingten sich bei den neu aufgestellten nationalen Streitkräften. Für Jugendliche aus der Unterschicht war dies die einzige Möglichkeit, der Arbeitslosigkeit und Verelendung zu entkommen. Das Offizierskorps jedenfalls rekrutierte hier Nachrücker, deren Bindung an die Streitkräfte lebenslang war, die zugleich aber engen Zusammenhang infolge der gleichen Herkunft bewahrten. Tikrit wurde so zur Basis einer definierten neuen Gruppe im Militär. Achmed Hassan al-Bakr aus Tikrit, ein Onkel (mütterlicherseits) von Saddam Hussein und dessen Freund und langjähriger Förderer, war zuerst Lehrer und dann Offizier, beim Putsch (1968) Generalmajor, führender Politiker der Baath-Partei (im Untergrund bis zum Putsch) und dann bis 1979 Präsident Iraks.

Eine große Rolle spielte dabei der aus einer anderen Gegend - Haditha am Euphrat - stammende Maulud Muchlis, worauf der israelische Wissenschaftler Amatzia Baram (Saddam's Power Structure: the Tikriti Before, During and After the War, in: Iraq at the Crossroads, Adelphi Paper 354, London) ausführlich hingewiesen hat. Muchlis hatte zu den scharifischen Offizieren gehört. Sein Clan hatte in Mossul und später in Tikrit umfangreichen Landbesitz erworben. Unter König Faisal I. gehörte Muchlis zu den einflussreichsten Politikern und Militärs. Er förderte geeignete Jugendliche aus Tikrit und verschaffte ihnen Zugang zur Militärakademie, weil er sich davon einen Kader ihm persönlich ergebener nachgeordneter Offiziere versprach, also Hausmacht. Als 1958 die Monarchie durch einen Militärputsch (sowie durch die noch kleine Baath-Partei, die sich allerdings auch auf mit ihr sympathisierende Offiziere verließ und die von Kommunisten geführten Gewerkschaften) gestürzt wurde, waren Offiziere aus Tikrit in den mittleren Offiziersrängen schon stark vertreten. Die Militär-Regimes Kassems und der Aref-Brüder sowie zwischendurch das kurzlebige erste Baath-Regime von 1963 beeinträchtigten die Tikriti nicht; die Säuberungen, die "Nasseristen", Anhänger des syrischen Baath-Flügels, Kommunisten und andere Linke trafen, verstärkten sogar ihr relatives Gewicht in den Streitkräften und beschleunigten individuelle Karrieren.

Den zweiten Baath-Putsch vom Juli 1968 organisierten Tikriti dann schon an führender Stelle, und zwar sowohl im Offizierskorps als auch im illegalen Apparat der nach 1963 verbotenen Baath-Partei. In dieser Partei leitete Saddam Hussein den internen - geheimen - Sicherheitsapparat. In den fünf Jahren seit dem ersten Parteiputsch war er sehr rasch aufgestiegen, ständig gefördert durch andere Tikriti, die ihrerseits "abgesehen von einigen wichtigen Ausnahmen schneller befördert wurden als die meisten ihrer Kollegen" (Baram).

Die Einwohnerzahl der Stadt Tikrit wird mit rund 100 000 angegeben, die des Einzugsgebiets mit höchstens 210 000. In dieser Bevölkerung ist der Stamm (Clan) der Albu Nasir mit rund 30 000 Mitgliedern recht gewichtig. Der spätere Präsident Achmed Hassan al-Bakr gehörte - wie erwähnt - zu diesem Stamm, und sein Freund Chairallah Tulfah (ein Albu Nasir) brachte ihm irgendwann Mitte der sechziger Jahre den Gedanken nahe, Saddam Hussein mit dem Aufbau eines parteiinternen Sicherheitsdienstes zu beauftragen. Die Loyalität der Baath-Führung hatte sich, wie er argumentierte, bei den Machtkämpfen im Sommer und Herbst 1963 - als die Baath-Partei erstmals die Macht erobert hatte - als brüchig erwiesen, auf verwandtschaftliche Beziehungen könne man sich eher verlassen. Es scheint kein anderer der bekannteren Baath-Politiker bereit gewesen zu sein, den "schmutzigen Job" zu übernehmen. Saddam Hussein nutzte indessen diese Position aus, um seine eigene Machtbasis systematisch aufzubauen - gestützt auf die Clan-Loyalität. Es trifft nicht zu, dass das Regime sich erst nach dem Ansehensverlust und den Volksaufständen in Nord- und Südirak 1991 umorientiert und auf Clan-Strukturen statt (modernerer) bürokratischer Hierarchien umorientiert habe. Tatsächlich hat das Regime sich stets beider Mittel bedient gegenüber einer atomisierten Gesellschaft, in der es festere Gegenstrukturen nicht mehr gab.

Ausbau der Apparate

Alle Apparate der inneren Sicherheit unterstanden Saddam Hussein schon im Jahrzehnt seiner Vizepräsidentschaft (1969 bis 1979). In allen diesen Diensten beförderte er loyale Anhänger auf die wichtigeren und wichtigsten Positionen - eine Selbstverständlichkeit -, mit dem besonderen Aspekt, dass die von ihm rekrutierten Kader und Funktionäre überwiegend aus Tikrit und einigen Nachbarorten stammten und unter den Tikriti dann wieder diejenigen die besseren Karrierechancen hatten, deren Familien mit der Saddams verwandtschaftliche Beziehungen hatte. Ebenso sorgte er durch systematische Kaderpolitik dafür, dass die Schaltstellen in der Baath-Partei, den Streitkräften und - in minderem Umfang - der Verwaltungsbürokratie von Tikriti besetzt wurden.

Auf den Namenszusatz al-Tikriti (oder al-Takriti) verzichteten Saddam Hussein und andere Spitzenpolitiker im Laufe der siebziger Jahre, um die Clan-Zusammenhänge nicht allzu öffentlich werden zu lassen. Diesen Namen tragen jedoch auch andere, nur weitläufig mit dem Saddam-Clan verwandte Familiengruppen, und zwar allein wegen der Herkunft aus dieser Stadt. Auch sie legten zum Teil den Namen ab. Andererseits sind Namen wie at-Tulfah (Familie der Mutter Saddams), al-Majid (Familie seines Vaters) oder al-Raschid Hinweise auf die Herkunft aus dem engeren Clan. Auch ohne den Namensbestandteil al-Tikriti ist erkennbar - und aus anderen Quellen umfangreich belegbar -, dass bis zum Ende der neunziger Jahre die Spitzenpositionen der Streitkräfte und der Geheim- und Sicherheitsdienste fast ausschließlich mit Tikriti bestückt worden waren.

Diese Personalpolitik nur als Ausdruck von Sippen- oder Familienherrschaft zu interpretieren ist jedoch irrig. Bürokratische Herrschaft ist nicht durch eine der engeren oder weiteren Familie ersetzt worden. Die Macht der Bürokratie und der verschiedenen Erzwingungs- und Kontrollapparate ist, im Gegenteil, unter der Baath-Herrschaft erweitert und ausgebaut worden, gerade auch in den 24 Jahren von 1979 bis 2003, in denen Saddam Hussein als Alleinherrscher auftrat. Der Ausbau der Apparate, die zuletzt über eine Million Menschen beschäftigten, erforderte vielmehr eine Zentralisierung der Kontrolle durch eine Schicht von Personen, die aus der Sicht des Machthabers weniger als andere zu Umsturzversuchen in eigener Sache oder zu formierter Opposition neigten. In den älteren Machtstrukturen, wie dem Militär (bis zum Ende des irakisch-iranischen Krieges), bestanden hierarchisch organisierte Gruppen weiter, die sich teils auf Clan-Gemeinschaft stützten - eine andere als die von Tikrit -, teils funktional zusammengewachsen waren und sich durch eine professionelle Karriere in einem moderneren, über die von Clans geformten Bindungen hinausreichenden Zusammenhänge auszeichneten. Aus diesen Kreisen und von anderen Clans konnte nach dem Zusammenbruch der irakischen Streitkräfte im Februar 1991 Opposition entstehen und sich in konspirativen Zirkeln behaupten, nachdem die Volksaufstände im schiitischen Süden niedergeschlagen und Kurdistan aus dem unmittelbaren Machtzugriff Bagdads herausgerückt war. Saddam Hussein dürfte die Geschichte des unabhängigen Staates Irak, deren zweite Hälfte er selbst mit bestimmt hat, auch unter dem Aspekt aufeinander folgender Putsche rezipiert haben; diesen vorzubeugen galt nach 1991 offenbar sein Hauptinteresse. Saddam Hussein nutzte darüber hinaus ein traditionelles irakisches Verhaltensmuster, die politische Absicherung durch regionale Bindungen. Die Wendung seiner Politik, die als Orientierung auf Clan- statt auf Bürokratie-Strukturen erscheint, bedeutete in der Sache eine relative Entmachtung jeder einzelnen Säule der Bürokratie. Damit wurde die Wahrscheinlichkeit verringert, dass die Bürokratie insgesamt sich gegen den Diktator zusammenfinden werde; jede einzelne Säule (Militär, Wirtschaftsbürokratie, Parteiapparat, Geheimdienste, Staatsverwaltung) konnte aber bei einem Umsturzversuch allein nur wenig Erfolgshoffnungen haben. Saddam Husseins Machtapparat, wie er Ende 2002 bestand, erfüllte die internen Aufgaben recht genau, zumal ein Teil der verantwortlichen Aufgaben inzwischen auf Saddams Söhne Udai und Kusai übertragen worden war.

Freilich ereigneten sich auch Säuberungen innerhalb der Gruppe der Tikriti. Wie weit es sich um innerfamiliäre Auseinandersetzungen, Macht- und Kompetenzstreit oder um tiefer reichende politische Meinungsverschiedenheiten handelte - meist wohl um alles zusammen -, ist im Einzelnen schwer festzustellen. Die Desertion zweier al-Majids nach Jordanien im Sommer 1995 war ein Politikum ersten Ranges: Ali Hassan al-Majid war Gouverneur von Kuwait während der Okkupation, und Hussein Kamal al-Majid war bis zu seiner Ausreise Minister für Industrie und Militär-Industrialisierung und damit zuständig für alle Waffenprogramme (insbesondere ABC-Waffen) gewesen. Er war ein Schwiegersohn von Saddam Hussein, beide al-Majids waren auch dessen Cousins. Auf Grund von Zusagen über Straffreiheit kehrten sie 1996 nach Bagdad zurück und wurden umgehend liquidiert.

* Dr. Karl Grobe-Hagel, Jahrgang 1936, ist seit 1963 Journalist und seit über 30 Jahren im außenpolitischen Ressort der Frankfurter Rundschau tätig. Im Neuen ISP Verlag erschienen von ihm "Russlands Dritte Welt" (1992), "Tschetschenien. Russlands langer Krieg."(2001) und "Krieg gegen den Terror. Al-Qaeda, Afghanistan und der ,Kreuzzug' der USA" (2002). Das hier dokumentierte Kapitel ist seinem neusten Buch entnommen: "Irakistan. Der Krieg gegen Irak und der ,Kreuzzug' der USA." Köln: Neuer ISP Verlag 2003; 237 S. ISBN 3-899000-109-5.

Aus: Frankfurter Rundschau (Dokumentationsseite), 22.12.2003


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