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Irak: Kein Glaubenskrieg

Ziel des Anschlags auf die Goldene Moschee in Samarra war die Torpedierung des Einigungsprozesses der Besatzungsgegner

Von Joachim Guilliard*

Auf den Bildern der großen Demonstrationen gegen den Bombenanschlag auf die Goldene Moschee in Samarra am 22. Februar sind mächtige schwarze und weiße Turbane islamischer Geistlicher zu sehen. Schwarz tragen die schiitischen und Weiß die sunnitischen Prediger. Auch wenn die Grabmoschee der Imame Ali Al Hadi und Hassan Al Askari als eines der wichtigsten Heiligtümer der Schiiten gilt, wurde sie von Sunniten ebenso geschätzt und viel besucht. Über ihre religiöse Bedeutung hinaus war das berühmte Bauwerk zudem der Stolz der gesamten Stadt. Im Westen hielt man sich nicht lange mit Nachforschungen auf, paßte der Anschlag und die folgenden brutalen Racheaktionen doch gut in das seit langem gepflegte Bild von einer tiefen Feindschaft zwischen den Konfessionen. Dabei ist es in diesem Fall ziemlich abwegig, religiöse Sunniten als Urheber des Anschlags zu vermuten. Ebenso absurd ist die Annahme, Schiiten würden die Gemeinschaft der Sunniten als solche und per se für das Verbrechen verantwortlich machen.

Selbst führende Schiiten wie Muqtada Al Sadr hätten zur Rache an den Sunniten aufgerufen, meldeten die Medien und malten den Ausbruch eines umfassenden Bürgerkriegs an die Wand. Tatsächlich hatte der einflußreiche Schiitenführer die Möglichkeit jedoch kategorisch ausgeschlossen, Sunniten könnten für den Anschlag verantwortlich sein und seiner Mahdi-Armee befohlen, die heiligen Stätten der Sunniten zu schützen.[1] Wenig später rief Al Sadr sogar zu einer großen friedlichen Demonstration der Einheit und für einen unverzüglichen Abzug der fremden Truppen sowie zu einem gemeinsamen, kommunalen Gottesdienst von Sunniten und Schiiten auf. Erneut machte er die Besatzungsmacht für den Anschlag in Samarra verantwortlich. »Manchmal beschimpfen sie den Propheten auf übelste Weise mit ihren Karikaturen, und manchmal jagen sie unsere Imame in die Luft. Die Serie von Angriffen ist nicht die erste und wird nicht die letzte sein.«[2] Des weiteren vereinbarten bei einem Treffen von Al Sadr und Scheich Jawad Al Khalisi, dem Führer des Irakischen nationalen Gründungskongresses (INFC), mit Vertretern der einflußreichen Vereinigung Islamischer Gelehrten (AMS) die schiitischen und sunnitischen Organisationen Schritte, die Gewalt zwischen den Religionsgruppen einzudämmen.

Auch die oberste geistliche Führung der Schiiten wies, so Ayatollah Hussein Ismail Al Sadr, den Vorwurf energisch zurück, daß Sunniten diese Tat begangen hätten. Er schloß die Möglichkeit eines Bürgerkrieges aus, warnte aber vor dem Aufkommen religiöser Konflikte, die die Terroristen durch die Bomben zwischen den Irakern entfachen wollen. »Die Moscheen unserer muslimischen Brüder müssen geschützt werden«, so der dringende Appell des Ayatollahs, »und wir müssen zusammenstehen gegen Terrorismus und Sabotage.«[3] Auch der schiitische Führer Ayatollah Sistani hat sich mäßigend geäußert und zur Ruhe aufgerufen.

Wut auf Besatzer

Nicht nur in Samarra, auch in vielen anderen Städten gingen Hunderttausende wütende Iraker gemeinsam auf die Straße. Ihr Zorn richtete sich eindeutig gegen die Besatzer, die sie direkt oder indirekt für die Bomben verantwortlich machten: »Kalla, kalla Amrica, kalla kalla lill-irhab« – »Nein zu Amerika, nein zum Terrorismus«, hieß die Parole, die Schiiten und Sunniten einte. In Samarra, einer der Hochburgen des Widerstands, haben sunnitische Freiwillige mit dem Wiederaufbau der Moschee begonnen.

Neben der Frage nach den Urhebern des Anschlags in Samarra stellt sich eine weitere, nicht weniger interessante: Wer organisierte die gewalttätigen Racheaktionen gegen sunnitische Moscheen und Geistliche, die die Atmosphäre erst bis zum Siedepunkt anzuheizen drohten.

Überraschend für viele Beobachter war schon die Schnelligkeit gewesen, mit der sie begannen. Es scheint, als hätten die Akteure nur auf ihren Einsatz gewartet, meinte die international bekannt gewordene irakische Bloggerin »Riverbend«.[4] Keiner der vielen bewaffneten Angriffe auf sunnitische Moscheen, so der irakische Politologe Sami Ramadani im britischen Guardian vom 24. Februar, machte den Eindruck eines spontanen Protests. Die Berichte darüber deuten vielmehr darauf hin, daß sie meist von vermummten Bewaffneten initiiert worden waren.

Die anschließende Eskalation von Mordanschlägen war ebenfalls gut organisiert und zielte nur teilweise auf Sunniten. Opfer wurden, so Ramadani weiter, auch gemischte Gruppen, wie beim Mord an 46 Arbeitern am 23. Februar bei Bakuba. Die Mehrheit der Demonstranten brachte diese Morde mit den vielfältigen Gerüchten über Todesschwadrone in Verbindung und machte die USA und die mit ihnen verbündeten irakischen Regierungsparteien für die Gewaltwelle verantwortlich.

Nicht grundlos: Wie beispielsweise die Londoner Times erfuhr, konnten die schwerbewaffneten Kämpfer nach einem Angriff auf die sunnitische Al-Quds-Moschee unbehelligt wieder in ihre Autos klettern und unter dem Beifall der unter US-amerikanischer Führung stehenden irakischen Nationalgarde davonfahren. Die US-Truppen blieben in ihren Kasernen. Sie wollten nicht durch ihre Präsenz noch mehr Gewalt provozieren, begründeten Sprecher der US-Armee ihre völlige Untätigkeit angesichts bewaffneter Angriffe auf religiöse Einrichtungen und Zivilisten.

Professionelle Sprengung

Erstaunlich wenig Aufmerksamkeit richten westliche Medien auf die Art und Weise, wie der Anschlag auf die Moschee in Samarra durchgeführt wurde. Überzeugt davon, daß nur sunnitische Terroristen vom Schlage Abu Musab Al Sarkawi dahinter stecken können, interessierte sich kaum ein Journalist für die Details.

Die planmäßige Sprengung der goldenen Kuppel paßt jedoch in vieler Hinsicht nicht zu den anderen verheerenden Anschlägen, für die Al Sarkawis Gruppe verantwortlich gemacht wird. Die Sprengladungen waren hier nicht einfach an einem leicht zugänglichen Ort, in einem Auto, Koffer oder ähnlichem versteckt, sondern genau kalkuliert an den vier Hauptsäulen des Mausoleums angebracht worden. Sie wurden sorgfältig in zuvor gebohrte Löcher gesteckt und miteinander sowie mit einer weiteren Ladung direkt unter der Kuppel und einem Fernzünder verbunden. Eine Arbeit, die mit dieser Präzision, so der irakische Bauminister Jassem Mohammed Jaafar, nur von Spezialisten durchgeführt werden konnte. Allein das Bohren der Löcher dürfte dabei vier Stunden in Anspruch genommen haben.[5]

All diese Vorbereitungen geschahen in einer der am besten bewachten Moscheen Iraks, in einer Stadt, in der zwischen acht Uhr abends und sechs Uhr morgens eine strikte Ausgangssperre herrscht. Augenzeugen berichteten von ungewöhnlich starken Aktivitäten der Irakischen Nationalgarde rund um die Moschee. Ihre Fahrzeuge wären die ganze Nacht zu hören gewesen. Auch US-Truppen wurden gesehen. Um sechs Uhr morgens hätten die irakischen Soldaten das Gebiet verlassen, um 6.30 Uhr folgten die US-Soldaten. Um 6.40 Uhr explodierten die Sprengsätze.[6]

Inwieweit irakische Sicherheitskräfte und US-amerikanische Einheiten tatsächlich in den Anschlag verwickelt sind, könnte nur eine unabhängige Untersuchung klären. Diese ist so wenig wie bei vorangegangenen Terrorakten in Sicht. Auch die Irakischen Demokraten gegen die Besatzung (IDAO) lassen in einer Stellungnahme verlauten, daß es praktisch nicht möglich sein wird zu erfahren, wer für den Bombenanschlag verantwortlich ist. Denn der Irak habe mittlerweile viele geheime Armeen – geschaffen, ausgebildet und kontrolliert von der Besatzungsmacht – sowie die fundamentalistischen »Takfiri«-Kräfte. Es sei daher eine seltsame Ironie, wenn nun alle, von George W. Bush bis zu Dschalal Talabani, den Anschlag als Versuch verurteilen, Zwist zwischen den Bürgern zu säen, und ausgerechnet der britische Außenminister Jack Straw die Iraker zur Einheit aufruft. Tatsache sei, daß seit Beginn der Besatzung des Irak die eingedrungenen Mächte zum Mittel der willkürlichen Teilung der Iraker in Sunniten, Schiiten und Kurden gegriffen haben, um das Land zu kontrollieren.[7]

Doch wer auch immer hinter der Sprengung der Moschee stehen mag, für die Besatzungsmächte kam das Ereignis zu einem sehr günstigen Zeitpunkt. Waren sie doch in den letzten Wochen wieder heftig unter Druck geraten. Ein Video, das britische Soldaten bei der brutalen Mißhandlung irakischer Jugendlicher in Basra zeigt, brachte für viele Schiiten im Süden, die bisher noch mit den Besatzern kooperierten, das Faß zum Überlaufen. Die Regionalregierungen der Provinzen Basra und Maysan stellten nun die Zusammenarbeit mit den Briten ein und hoben das Gesetz auf, das allen Besatzungssoldaten Immunität vor irakischen Gerichten gewährt. Diese Gesetz ist eines der vielen, die der ehemalige US-Statthalter Paul Bremer erlassen hatte und die nach wie vor in Kraft sind. Sollten die Provinzen mit ihrer Absicht ernst machen, würde dies nicht nur eine direkte Konfrontation in der Frage der Strafverfolgung britischer Soldaten bedeuten, sondern generell die von den Besatzern auferlegten Spielregeln einer beschränkten Selbstverwaltung unter ihrer Hoheit in Frage gestellt.

Dem Video aus Basra folgte die Veröffentlichung neuer Fotos von Folteropfern aus Abu Ghraib. Auch diese Mißhandlungen werden weithin als Demütigung aller Iraker verstanden und empören Sunniten und Schiiten gleichermaßen. Der Gouverneur von Maysan forderte die britische Armee auf, Mitgliedern des Provinzrates unverzüglich Zugang zu den von ihnen geführten Gefängnissen zu gewähren. Basra und die von US-Truppen kontrollierte Provinz Kerbala kündigten ähnliche Schritte an.

Wachsende Einheit

Eine andere für die Besatzungsmächte bedrohliche Entwicklung ist die wachsende politische Einheit des bewaffneten Widerstands und seine steigende Akzeptanz im schiitischen Süden durch das aktive Vorgehen gegen terroristische Gruppen. Immer mehr bewaffnete Gruppierungen einigen sich nun darauf, ihre Angriffe allein auf Besatzungstruppen zu konzentrieren und »keine Zeit und Energie mit Konfrontationen mit der (irakischen) Armee, Polizei und Nationalgarde zu vergeuden, während sich die Besatzungssoldaten erholen können«. Angriffe auf Armee und Polizei sollten nur noch erfolgen, wenn diese »›Mudschaheddin‹ angreifen, Leute schlecht behandeln oder überfallen«.[8]

Sie grenzten sich damit nicht nur klar von den Terrorgruppen bzw. »Takfiri« ab, wie die sunnitischen Fundamentalisten genannt werden, die andere Muslime als Ketzer und Ungläubige verdammen. Sie kündigten auch an, aktiv gegen diese, Al Sarkawi zugerechneten Gruppen vorzugehen, die sowohl für die verheerenden Anschläge auf schiitische Zivilisten als auch auf Polizisten und Rekruten verantwortlich gemacht werden. Die sunnitischen Araber würden nun zwei Kämpfe führen, so ein Sprecher der dem sunnitischen Widerstand nahestehenden Vereinigung Islamischer Gelehrter (AMS): einen »gegen die Besatzer und den von ihnen eingesetzten Regierungsapparat« und den anderen »gegen die terroristischen Banden«.

Offensichtlich konnten die Organisationen, die ihren Kampf schon immer auf die Besatzungstruppen konzentrierten – wie z. B. die »Islamische Front des irakischen Widerstands« –, auch radikal-islamische Gruppen überzeugen, daß Angriffe auf irakische Sicherheitskräfte oder gar Zivilisten kontraproduktiv sind. Durch Aufklärungsarbeit über den »wahren Charakter der bewaffneten Gruppen, die im Namen der Religion und des Widerstands töten«, sei es gelungen, so ein Stammesführer aus Ramadi, die logistische Unterstützung »für die terroristischen Elemente« durch Einwohner zu unterbinden.

Seit letztem Sommer gab es in Ramadi immer wieder bewaffnete Zusammenstöße zwischen Al-Sarkawi-Anhängern und der Guerilla sowie Angehörigen sunnitischer Stämme, die sich schützend vor die schiitische Minderheit in der Stadt stellten (Washington Post, 14.8.2005). Nach einer Welle von Attentaten auf sunnitische Politiker im Vorfeld der letzten Wahlen und der Ermordung von 42 Polizeirekruten in Ramadi erklärten die sechs großen Widerstandsgruppen der Provinz der Al-Sarkawi-Gruppe den Krieg. »Volks-« und »Clan-Komitees« begannen in Ramadi und anderen sunnitischen Städten, Jagd auf seine Anhänger zu machen, um die »Terroristen« aus dem Land zu vertreiben.

Im schiitischen Süden wurde dies mit großer Genugtuung aufgenommen. Vor allem Sprecher der Bewegung Al Sadrs priesen daraufhin die Bürger von Ramadi in ihren Freitagsgebeten.[9] Vieles deutet auf ein weiteres Zusammengehen der schiitischen und der sunnitischen Besatzungsgegner hin. Indizien lassen vermuten, daß der Anschlag auf die Goldene Moschee und die folgende Welle der Gewalt gegen Sunniten einen neuen Keil zwischen die wachsende Einheit der Widerstandskämpfer treiben sollte.

Die meisten arabischen Kommentatoren sahen vor allem die irakische Regierung, in der islamistische Fanatiker und Milizenführer die wichtigsten Ministerien übernommen haben, als Drahtzieher der Unruhen. Auch die großen, von den USA und der Regierung gesponserten Medien, spielen offensichtlich eine entscheidende Rolle dabei, die »Atmosphäre mit sektiererischem Gift in Rausch zu versetzen,« so die Zeitung Al-Quds Al-Arabi (23.2.2006).

Doch wenn der Irak tatsächlich in einen Bürgerkrieg gestützt wird, dann wird dies – da ist sich der Politologe Sami Ramadani gewiß – kein Krieg der Araber gegen Kurden oder Sunniten gegen Schiiten, sondern einer von den USA gestützten Minderheit gegen die Mehrheit der irakischen Bevölkerung sein.

Fußnoten
  1. Dahr Jamail »Who Benefits?«, 24.2.2006, http://dahrjamailiraq.com/weblog/archives/dispatches/000365.php
  2. »Muqtada calls for Sunni-Shiite Marches – Prayers Want Pan-Islamic Resolution for US Withdrawal«, AFP, zit. nach Juan Cole, 27.2.2006, http://www.juancole.com/2006/02/muqtada-calls-for-sunni-shiite-marches.html
  3. Jamail, a.a.O.
  4. Riverbend »Tensions ... Things are not good in Baghdad«, 23.2.2006, http://riverbendblog.blogspot.com
  5. »Iraq shrine bombing was specialist job: minister«, AFP, 25.2.2006, www.informationclearinghouse.info/article12070.htm
  6. »The night before the bombing: Two eyewitnesses«, Baghdad Dweller, February 23, 2006, www.roadstoiraq.com/?p=723
  7. »Unity of the Iraqi people against US occupation is the only guarantee for solving the current political crisis«, IDAO, 26.2.06, http://www.idao.org/2006/02/unity-of-iraqi-people-against-us.xml
  8. AMS: We Are Now Waging Two Battles: Against »the Occupation« and Against »the Terrorists« Al-Hayat/ZNet, 26.1.2006, http://www.zmag.org/content/showarticle.cfm?SectionID=15&ItemID=9596
  9. Sadrists Call for Sunnis to Fight Zarqawi, 28.1.2006, AFP, zit. nach Juan Cole, www.juancole.com/2006/01/sistani-calls-on-iraqis-to-turn-in.html
* Aus: junge Welt, 3. März 3006


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