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"Die Leute wissen doch gar nicht, worum es geht!"

Der Irak vor dem Verfassungs-Referendum - Ein Interview mit der Rechtsanwältin Hanaa Edward, Bagdad

Das folgende (Telefon-)Interview führte Karin Leukefeld am 8. Oktober 2005. Es erschien in gekürzter Fassung im Neuen Deutschland vom 13.10.2005 (www.nd-online.de) und im Rheinischen Merkur vom 13.10.2005 (www.merkur.de).



Zur Person: Hanna Edward stammt aus Basra und ist Rechtsanwältin. Von 1971-1983 war sie die irakische Vertreterin in der Internationalen Demokratischen Frauenliga und lebte in Ostberlin. Als damals noch aktive Kommunistin konnte sie nicht in den Irak zurückkehren und lebte in den folgenden Jahren sowohl in Damaskus als auch in Irakisch Kurdistan, bevor sie 2003 wieder nach Bagdad zurückkehrte. Heute ist sie im Präsidium des Irakischen Komitees für Frieden und Solidarität und Vorsitzende der Hilfsorganisation Al Amel (Die Hoffnung). Bei den Wahlen im Januar 2005 war sie die einzige weibliche Spitzenkandidatin auf der Liste „Watani“ (Unser Irak).

Karin Leukefeld: Wie hat Al-Amal die Bevölkerung auf das Referendum vorbereitet?

Hanaa Edwar: Wir haben in 12 unserer 18 Provinzen Konferenzen und Workshops durchgeführt, um unsere Leute über die Verfassung aufzuklären. Themen waren die politischen Strukturen, die bürgerlichen Rechte und Freiheiten und besonders die Frauenrechte. Mobile Teams haben landesweit mehr als 700 Dörfer und Siedlungen besucht. Es gab Treffen in Moscheen und privaten Häusern. In Basra haben wir eine Frauenkonferenz organisiert, an der Frauen der drei südlichen Provinzen teilnahmen. Und am vergangenen Sonntag wurde in Kerbala auf einer großen Frauenkonferenz mit 350 Teilnehmerinnen über die Zukunft Iraks, die Frauen und die Verfassung diskutiert. Stellen Sie sich vor, in der heiligen Stadt Kerbala beschäftigen sich so viele Frauen mit Verfassungsfragen!

Haben Sie Kritik an dem Verfassungsentwurf?

Hanaa Edwar: Oja, natürlich. Es gibt Positives darin, aber auch Negatives. Uns geht es nicht darum, nur die schlechten Dinge rauszufischen oder alles schön zu reden. Besonders hinsichtlich der Frauenrechte sind wir sehr skeptisch. Im Entwurf heißt es, jeder Bürger sei in seinen persönlichen Rechten frei, entsprechend den religiösen Gesetzen und Prinzipien. Das heißt konkret, daß das Familienrecht und damit auch das Persönlichkeitsrecht der Frauen nicht mehr gilt. Wir halten das Familienrecht für eine große Errungenschaft Iraks, die Frauenrechte wurden gestärkt und die Familie war geschützt. Jetzt soll das alles mit konfessionellen Gesetzen geregelt werden. Doch wenn so viel Wert auf die religiösen Gesetze gelegt wird, gefährdet das die Einheit der irakischen Gesellschaft.

Und was finden Sie positiv?

Hanaa Edwar: Die Gleichheit der Menschen wird allgemein anerkannt, ebenso das Recht, sich in politischen oder zivilen Organisationen zusammenzuschließen. Auch die Bürgerrechte, freie Bildung, Schutz der sozialen und wirtschaftlichen Rechte werden garantiert. Für uns ist es auch ein Erfolg, daß 25 Prozent der Parlamentssitze Frauen vorbehalten sind, obwohl wir eigentlich gefordert hatten, daß alle politischen Gremien und Ämter zu 25 Prozent mit Frauen besetzt werden.

Es gibt viel Kritik an den Passagen über föderale Strukturen, manche haben Angst, Irak könne auseinanderbrechen. Teilen Sie diese Angst?

Hanaa Edwar: Alle politischen Parteien haben akzeptiert, daß für Kurdistan Föderalismus realistisch und eine gute Sache ist. Aber für andere Teile des Landes ist es noch zu früh, es müssen erst die Voraussetzungen geschaffen werden. Ja, es wäre gefährlich, wenn man jetzt Hals über Kopf auch in anderen Teilen des Landes föderale Strukturen schaffen würde. Die Einheit Iraks wäre in Gefahr, aber auch die Zusammensetzung der irakischen Gesellschaft. Im Süden haben die Menschen unterschiedlicher Ethnien und Religionen seit Jahrzehnten friedlich zusammengelebt. Uns kommt es vor, als wolle jemand diese Einheit, diese friedliche Koexistenz im Irak bewußt zerstören.

Es gibt im Westen des Landes massive Militäroperationen, können die Menschen dort am Referendum teilnehmen?

Hanaa Edwar: Ich habe meine Zweifel, ob sie wirklich frei wählen können. Die Sicherheitslage ist sehr schlecht dort, sie werden von den unterschiedlichsten Seiten unter Druck gesetzt, besonders von terroristischen Gruppen. Manche haben einfach die Nase voll von allem, es gibt keine Sicherheit, keinen Schutz für sie. Nicht nur im Westen, auch im Norden oder im Süden, im ganzen Land gibt es Leute, die überhaupt kein Interesse mehr haben, über die Verfassung zu reden, weil ihr tägliches Leben furchtbar ist. Sie fragen sich, was ihnen eine Verfassung bringt, und meinen, das sei nur etwas für die politischen Eliten in diesem Land, nicht für das Volk. Stellen Sie sich vor, erst jetzt haben die Behörden angefangen, den Verfassungsentwurf an die Familien zu verteilen, eine Woche vor dem Referendum! Die Leute wissen doch gar nicht, worum es geht! Es sieht so aus, als sei es nur eine Vereinbarung innerhalb der politischen Eliten, damit sie sagen können, seht her, diese Verfassung haben wir gemacht. Um ehrlich zu sein, ich bin überhaupt nicht optimistisch über die Zukunft dieser Verfassung, auch wenn sie angenommen wird.

Ist es zu früh für den Irak, so eine Verfassungsdiskussion zu führen?

Hanaa Edwar: Nein, es ist nicht zu früh, es ist gut. So eine Diskussion kann den Boden für eine ständige Verfassung bereiten. Aber dieser Prozeß ist überstürzt. Es fehlt an Sicherheit, an Stabilität, die Gefahr eines Bürgerkriegs ist groß, wie sollen wir unter solchen Bedingungen über eine Verfassung reden?! Wir brauchen zivilisierte, stabile Verhältnisse, damit die Menschen in Ruhe diskutieren können. Nicht wie jetzt, wo alles schnell, schnell gehen muß. Die Diskussionen spielt sich eigentlich nur zwischen dem Parlament, den Parteien, den Medien und ein paar NGOs’ ab, das ist sehr begrenzt.

Sie haben so viel Energie in die Arbeit gesteckt und sind doch so skeptisch?

Hanaa Edwar: So wie es läuft, ist es keine gute Sache. Die Politiker versprechen den Leuten immer wieder, daß es besser wird. Schon bei den Wahlen war das so. Es war dann auch einige Tage ruhig, aber danach hat der Terror von Tag zu Tag zugenommen. Jetzt ist es schlimmer als vorher. Ich fürchte, bis zu den Wahlen im Dezember wird es noch schlimmer werden. Wir fühlen das, sogar hier in Bagdad ziehen Leute aus ihren Vierteln um in andere Viertel, weil sie bedroht wurden. Sie ziehen in andere Provinzen, wo sie mehr Sicherheit und Schutz suchen. Wir haben hier im Irak einen unerklärten Bürgerkrieg.

Was kann die Lösung sein?

Hanaa Edwar: Wir brauchen starke politische Parteien, die sich verantwortungsbewußt der politischen Zukunft Iraks widmen. Die Menschen müssen an diesem Prozeß beteiligt werden. Sie dürfen nicht Personen ausgeliefert sein, die nur ihre eigenen Interessen im Kopf haben. Und, ganz wichtig, Politik und Religion müssen getrennt werden. Manche Parteien vermischen das aus Eigeninteresse, das ist sehr schädlich. Nicht nur die USA, die Besatzungsarmee hat hier viel Schaden angerichtet, sondern auch die irakischen politischen Parteien, die mit der kritischen Situation nicht umgehen können und nicht im Interesse des Volkes handeln.


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