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Irak - 10 Jahre Embargo

Eine Leidensgeschichte

Der folgende Beitrag befasst sich auf eine sehr engagierte Art mit einem Thema, das in der öffentlichen Diskussion in der Bundesrepublik so gut wie nicht vorkommt: mit den Folgen des 10 Jahre dauernden Embargos gegen den Irak, in dessen Folge Hunderttausende von Menschen (vor allem Kinder und Alte) ihr Leben lassen mussten. Auch wenn der Vergleich mit dem Holocaust unangemessen ist, so bietet der Artikel von David Cromwell interessante Ein- und Rückblicke in die unrühmliche Geschichte US-amerikanischer Außen- bzw. Kriegspolitik, die eine Dokumentation gerechtfertigt erscheinen lassen.

Das Nicht-Thema Irak

Von David Cromwell

Der 6. August war der zehnte Jahrestag der verheerenden Wirtschaftssanktionen der UNO gegen den Irak - doch offenkundig kehrt selbst die «liberale» und «unabhängige» Presse die Sache unter den Teppich. Wenn die Propagandaverkäufer der Regierungen in Washington und London das schreckliche Leiden des irakischen Volkes nicht einmal erwähnen, dann können die «Nachrichten»-Journalisten sich einreden, dass es (a) nicht stattfinde und dass es (b), selbst wenn es stattfindet, ohne Bedeutung sei.

Neulich gab es großen Wirbel wegen Norman Finkelsteins Buch «The Holocaust Industry», das die Profite aufs Korn nimmt, die mit dem Leiden der Juden - und der vielen anderen Opfer - in der Nazi-Zeit gemacht werden. Die Kolumnistin Natasha Walter, die im Londoner Independent schreibt, gab der Diskussion einen etwas breiteren Horizont, freilich immer noch innerhalb der rigiden Grenzen, die der «freien Presse» gezogen sind. Sie schrieb, «dass die Amerikaner - und die Briten sind nicht besser - lieber die Hände aus Verzweiflung über den Holocaust als über ihre eigenen Verbrechen gegen die Menschheit ringen». Impliziert war freilich, dass solche Verbrechen - Negersklaverei und Kolonialismus zum Beispiel -einer fernen Vergangenheit angehören. Heute dagegen, so heißt es, seien die USA - und Großbritannien als ihr loyaler Helfer - die Verteidiger der Freiheit gegen Tyrannen überall auf der Welt.

Aber es findet nicht nur ein von den USA betriebener Holocaust statt, der von den westlichen Eliten geleugnet oder ignoriert wird, die Sache ist der besseren Gesellschaft selten auch nur eine Bemerkung wert. Wir reden hier von dem verborgenen Holocaust, der über den historischen Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern und die Versklavung der Schwarzen hinausgeht, so grauenhaft diese Ereignisse waren. Millionen Menschen sind gestorben, und viele weitere Millionen wurden zu einem Leben in Elend und Qual verdammt, infolge der US-Interventionen auf den Philippinen, in Korea, Vietnam, Laos, Kambodscha, Guatemala, Chile, Brasilien, im Kosovo, im Irak und anderswo. Nur ein Beispiel: Die USA (und Großbritannien) unterstützten aktiv Suhartos blutigen Staatsstreich in Indonesien 1965/66, bei dem über eine Million Menschen getötet wurden und dem 1975 Indonesiens Invasion in Ost-Timor folgte, die rund 200.000 weitere Menschen das Leben kostete.

Aber solche Tatsachen passen nicht in das Selbstbild des Westens als «gute Jungs». (Wobei seit dem Zweiten Weltkrieg «der Westen» zunehmend ein Synonym für die mächtigen US-amerikanischen politischen und Geschäftsinteressen wurde.) Die Frage, wie es um die Güte der westlichen Mächte mit ihrer stolzen Begriffen von «Demokratie», «Fair play» und «Achtung vor Gesetz und Ordnung» wirklich bestellt ist, taucht gar nicht auf. Es ist das, was Therapeuten den «Elefanten im Zimmer» nennen. Alle sehen's, aber die Etikette verlangt in höflicher Gesellschaft, dass niemand davon spricht. Es gehört sich einfach nicht.

Tun wird verdammt noch mal was dafür, dass es sich gehört! Denken wir an das Wüstenmassaker im Golfkrieg 1990/91. General Norman «Stormin'» Schwarzkopf gab zu, dass mindestens 100.000 irakische Soldaten getötet wurden. Viele von ihnen starben nicht auf dem Schlachtfeld, sondern auf der Straße nach Basra beim fluchtartigen Rückzug - bei der berüchtigten «Truthahnjagd» auf Saddams zwangsrekrutierte und demoralisierte Wehrpflichtigenarmee aus überwiegend Kurden und Schiiten - jenen unterdrückten Minderheiten also, die den westlichen Führern angeblich so am Herzen lagen. Und dann der schreckliche Blutzoll, den die intensiven Luftangriffe unter der irakischen Zivilbevölkerung forderten: nach Berichten französischer und amerikanischer Dienste starben dabei über 200.000 Menschen. All dies wurde in der «seriösen» Presse schon damals kaum erwähnt und ist heute völlig vergessen.

Der irakische Holocaust geht weiter - unter dem Mäntelchen «wirtschaftlicher Sanktionen». Über eine halbe Million Kinder unter fünf und über eine Million Irakis insgesamt sind bisher wegen unzureichender Versorgung mit Medikamenten, Nahrung oder Trinkwasser gestorben. Doch Bill Clinton und Tony Blair erzählen uns, daran sei allein Saddam schuld - und unsere investigativen Journalisten und hartnäckigen Redakteure geben sich damit zufrieden und ziehen den Schwanz ein. Wenn von den Medien verlangt wird, der Sache weiter nachzugehen - immerhin geht es dabei um ungeheure Verbrechen gegen die Menschlichkeit - reagieren sie verärgert: «Wir haben uns mit dem Thema bereits befasst. Wir haben erst vor ein paar Monaten einen Artikel darüber gebracht.» Diese Antwort erhielt ich, als ich versuchte, mehrere britische Blätter für eine gut besuchte öffentliche Veranstaltung in London zu interessieren, die gegen die Irak-Sanktionen protestierte. David Edwards, der vom Guardian auf ähnliche Weise abgewiesen wurde, als er dort einen Artikel zum 10. Jahrestag der Sanktionen unterbringen wollte, schrieb neulich über die Medien: «Ihr wichtigstes ungeschriebenes Gesetz lautet: DU SOLLST NICHT IN FRAGE STELLEN, WAS WIR TUN! Denn sie wissen, oder ahnen doch, dass sie sich so kritikwürdig verhalten, dass sie so kompromittiert sind, dass sie sich selbst und andere so massiv täuschen, dass sie das Risiko einer Überprüfung auf keinen Fall eingehen dürfen.»

Und doch ... hier ist eine handfeste «Story», es bräuchte nur jemand in den Mainstream-Medien, der mutig genug ist, ihr nachzugehen. Denis Halliday, der frühere Koordinator des «Öl für Lebensmittel»-Programms der UNO in Bagdad, trat 1998 zurück und warf dem Westen «Völkermord» vor. Hans von Sponeck, sein Nachfolger, trat im Februar dieses Jahres zurück mit der Feststellung, eine ganze Generation von Irakern werde «vernichtet». Doch nichts dergleichen ruft bei Rundfunk- und Zeitungsleuten mehr als ein kurzes Murmeln hervor. Warum?

Nein, es ist natürlich keine Verschwörung. Es ist subtiler, machtvoller und beherrschender als das, wie Noam Chomsky, Edward Herman, David Edwards und andere gezeigt haben. Zum einen sind da Marktkräfte am Werk - die Notwendigkeit, sich Zwängen und Prioritäten der Anzeigenkunden und Aktionäre zu beugen, zum Beispiel. Aber in den Medien herrscht auch eine an Furcht grenzende Abneigung, sich gegen die Eliten aus Politik und Kommerz zu stellen. Man stößt auf eine massenhaft verbreitete journalistische Sehnsucht, zu den inneren Zirkeln der Macht zu gehören. «Herr Präsident, Außenminister, Verteidigungsminister - bitte sprechen Sie mit mir. Mit mir, mir, mir!» Die meisten Journalisten sind versessen auf den Zugang zu den Mächtigen. «Nach Informationen aus dem Kabinett ...», «Wie verlautet, ist der Ministerpräsident der Auffassung, dass ...» usw. usf. Kein Wunder, dass der Journalist John Pilger, eine bemerkenswerte Ausnahme, die Masse seiner Berufskollegen als «die entscheidenden Fußsoldaten in jeglichem der Macht und der Propaganda dienenden Netzwerk» beschreibt.

Mächtige Interessen verlassen sich freilich nicht allein auf ein Netzwerk selbstgefälliger Journalisten. Heutzutage hat das militärische Establishment seine eigenen «spin doctors». Martin Howard, der interessanterweise so titulierte «Nachrichten-Direktor» des britischen Verteidigungsministeriums, führt mit großem Eifer einen bizarren Propagandakrieg zugunsten der fortgesetzten illegalen britischen und amerikanischen Bombenangriffe auf den Irak. Seine Aufgabe besteht offenkundig darin, die Leserbriefseiten der britischen Presse nach Anti-Nato-Stimmungen zu durchstöbern und mit der ganzen Macht seiner Position darauf zu reagieren. Seine Antworten sind Musterbeispiele für Vernebelung und Doppeldeutigkeit. Ein Beitrag von ihm im Independent neulich verteidigte die Patrouillen der Amerikaner und Briten in den «Flugverbots»-Zonen, die, so seine Behauptung, eingerichtet worden seien, um die Kurden im Norden und die Schiiten im Süden zu schützen. Aber UN-Resolutionen verlangen zwar den Schutz der irakischen Minderheiten, doch gibt es keine Vereinbarung über die militärische Erzwingung dieser Zonen, wie Howard behauptet.

Wie sogar die etablierte New York Times am 25. Februar 1998 feststellte, «können sich die Verbotszonen auf keine UNO-Resolutionen stützen». Dennoch wurden sie im Lauf der Jahre immer weiter ausgedehnt. Als Präsident Clinton am 3. und 4. September 1996 Raketenangriffe gegen den Irak befahl, räumte er in seiner wöchentlichen Rundfunkansprache ein: «Ich habe die Angriffe angeordnet, um die Flugverbotszone auszuweiten.» Dies geschah einseitig, ohne Ermächtigung durch die UNO. Doch wann haben die USA sich je um eine Ermächtigung durch die UNO bemüht, wenn sie ihre eigenen Ziele verfolgten?

In seinem Brief an den Independent behauptet Martin Howard, für den Tod von mehreren Irakern am 17. Mai dieses Jahres seien, anders als die Zeitung berichtete, keine britischen oder amerikanischen Flugzeuge verantwortlich gewesen. «Nato-Flugzeuge flogen an diesem Tag überhaupt nicht», behauptete er, wie der Reporter hätte feststellen können, wenn «er sich die Mühe gemacht hätte, nachzufragen» - bei Howard natürlich. Zu den 300 Irakern, die in den 18 Monaten intensiver Bombenangriffe seit Dezember 1998 getötet und den 800, die dabei verwundet wurden, hatte Howard nichts zu sagen. Er verkündet weiterhin Unterstützung für Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats. Aber er erwähnt nicht Paragraph 14 der UNO-Resolution 687, der Abrüstung in der Region als Voraussetzung für die Reduzierung des irakischen Waffenarsenals verlangt. In Wahrheit verstößt der Westen durch die Aufrüstung der nahöstlichen Nachbarn des Irak gegen dieselbe UNO-Resolution, die er als Argument für die Beibehaltung der Wirtschaftssanktionen benutzt. Peter Hinchliffe, ein früherer britischer Botschafter in Kuwait und wie Howard ein enthusiastischer Revisionist, käute neulich in der britischen Presse die Behauptung der amerikanischen und britischen Regierung wieder, dass Saddam dank dem «Öl für Lebensmittel»-Programm der UNO «sich dafür hätte entscheiden können, das irakische Volk zu ernähren - und das nicht knapp». Doch nach Abzug der UN-Ausgaben und der Reparationen an Kuwait und das Big Business bleiben dem Irak grade noch mal 190 Dollar pro Kopf der Bevölkerung im Jahr. Denis Halliday, der die verheerenden Folgen für das irakische Volk tatsächlich aus erster Hand kennen lernte, nannte diese Summe höflich «beschämend unzureichend». Nach Angaben des UNO-Kinderhilfswerks töten die Sanktionen bis zu 200 Kinder unter fünf Jahren pro Tag. Selbst in Saure-Gurken-Zeiten wird die Öffentlichkeit in den USA und Großbritannien nicht darüber informiert, was ihre Regierungen in ihrem Namen tun. Journalisten nennen diese surreale und tödliche Situation «Wahrung der professionellen Standards».

Wie können wir diese scheußlichen Tatsachen mit dem verbreiteten Glauben an die essenzielle Güte unseres «liberal-demokratischen Westens» in Einklang bringen? Wir können es nicht. «Unsere vielgerühmte Zivilisation», meinte der Schriftsteller Jack London, «basiert auf Blut und tropft von Blut, und weder du noch ich noch irgendjemand von uns entkommt den blutroten Flecken.» Wir leben nicht in einer Gesellschaft der Güte, sondern unter einem monströsen System, dem Macht und Profit über alles geht. Und wir müssen vermuten, dass jene paar Auserwählten, die daraus am meisten Nutzen ziehen, sich dieses Umstands voll bewusst sind.

Den Rest der Gesellschaft aber verunsichert die hier gegebene Darstellung der Realität derart, dass viele sie lieber direkt zurückweisen als die Lügen in Frage zu stellen, die tagtäglich von den Medien genährt werden. Aber, wie George Orwell einst schrieb: «Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht, den Leuten zu sagen, was sie nicht hören wollen.» Nur dann können wir ein neues Vietnam, ein neues Ost-Timor, einen neuen Irak verhindern.
Aus: ZNet-Kommentar vom 6. August 2000. Aus dem Englischen übersetzt von Hermann Kopp (Düsseldorf). Der Beitrag erscheint in Heft 5/2000 der Marxistischen Blätter.

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