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Analphabetismus im "neuen Irak" dramatisch angestiegen

Bis zu 30 Prozent der Flüchtlingskinder in Syrien brechen die Schule ab

Von Karin Leukefeld *

Sieben Jahre nach dem Ende der Regierung von Saddam Hussein im Irak ist die Zahl von Analphabeten im „neuen Irak“ rasant angestiegen. Das geht aus einem Bericht des irakischen Bildungsministeriums hervor, im Wesentlichen mit Untersuchungen verschiedener UN-Organisationen übereinstimmt, die im Irak arbeiten. Danach können rund 20 Prozent der Iraker zwischen 10 und 49 Jahre heute weder lesen noch schreiben, die Zahl der Analphabeten im ländlichen Raum (bis zu 25%) ist dabei bedeutend höher als in den Städten (14%). Die Zahl der Frauen, die nicht lesen und schreiben können ist mit 25% mehr als doppelt so hoch wie die der Männer (11%), in ländlichen Gebieten ist die Diskrepanz noch höher. Während dort weniger als 50% der Mädchen und Frauen in der Altersgruppe 15-24 Jahre lesen und schreiben können, liegt die Alphabetisierungsrate bei der gleichen Gruppe in Städten bei 72-80%. Von Kindern im schulpflichtigen Alter zwischen 10 und 14 Jahren gehen 19% nicht zur Schule. Gleichzeitig ist regional ein großer Unterschied festzustellen. Am niedrigsten ist Analphabetismus in Bagdad, Diyala und Kirkuk (7-12%) verbreitet. Am höchsten liegt die Rate (24-31%) in den drei nordirakischen Kurdenprovinzen Dohuk, Erbil und Sulaimania sowie im Südirak.

Das irakische Bildungsministerium gibt als Grund Gewalt und politische Instabilität an, was zum Schulabbruch bei Kindern führe. Seit der Invasion (2003) „sind viele Kinder nicht mehr zur Schule gegangen, weil sie arbeiten und ihre Familien unterstützen mussten, die im Krieg alles verloren haben“, sagte Walid Hassan, ein Sprecher des Ministeriums. Im Irak wird die Gewalt nach 2003 häufig als „Bürgerkrieg“ bezeichnet. Die Regierung habe wegen des Krieges die Schulpflicht nicht durchsetzen können. Nach dem neuen Schulgesetz gilt die Schulpflicht für die ersten vier Grundschuljahre, Eltern die ihre Kinder nicht zur Schule schicken, müssen eine Geldstrafe zahlen. Die politische Instabilität habe auch dazu geführt, dass es keine umfassende Bildungsstrategie gegeben habe, außerdem habe das Geld gefehlt, sagte Hassan. Er beklagte auch „mangelnde Zusammenarbeit zwischen den Parteien, der Regierung, dem Privatsektor und der Zivilgesellschaft“. Das habe dazu geführt, dass weder Curricula entwickelt noch Bildungszentren für Erwachsene eingerichtet worden seien, die nicht lesen und schreiben könnten.

Das irakische Staatsbudget für 2010 liegt bei 66,7 Milliarden US-Dollar und speist sich im Wesentlichen aus dem Verkauf von Öl und Gas. In den 1980iger Jahren galt der Irak als alphabetisiert, nachdem die Regierung Alphabetisierungskampagnen bis in die entlegendsten Dörfer angeordnet und Schulpflicht bis zur 6. Klasse eingeführt hatte.

Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF stellte auch unter irakischen Flüchtlingskindern eine hohe Zahl von Schulabbrechern fest. Die amerikanische Hilfsorganisation Refugees International spricht von bis zu 30 Prozent. Hauptgrund sei der akute Geldmangel der Flüchtlingsfamilien, die seit 2003 zu Hunderttausenden den Irak verlassen haben, hieß es bei UNICEF. Zwar können die Kinder in Syrien den kostenlosen Unterricht besuchen, doch weil Iraker in Syrien offiziell nicht arbeiten dürfen und daher höchstens schlecht bezahlte, illegale Arbeit finden, müssen die Kinder mit dazu verdienen. Häufig schickten die Eltern oder Familienvorstände die Mädchen weiter zur Schule, während die Jungen arbeiten müssten. Alle irakischen Kinder und Jugendlichen hätten emotionale Schwierigkeiten, mit der Flüchtlingssituation klar zu kommen.

“Unser Krieg im Irak hat Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht“, kommentierte der stellvertretende frühere UN-Kommissar für Flüchtlinge Craig Johnstone fest, der heute bei Refugees International im Vorstand sitzt. „Viele waren Arbeiter der Mittelschicht, Händler, Geschäftsinhaber, ähnlich der Leute, die man in vielen Städten in Amerika findet. Heute leben sie in Armut, in Elendsvierteln aus Karton, mit offener Kanalisation und ohne sauberes Wasser. Sie betteln darum, dass ihre Kinder die Bildung erhalten, die sie selber vor dem Krieg hatten.“

* Dieser Beitrag erschien - gekürzt - in der "jungen Welt" vom 17. September 2010 unter dem Titel "Jeder fünfte ist Analphabet"

Auszug aus dem "Fact Sheet"

One in five Iraqis, aged 10 - 49, cannot read or write. There are significant disparities in literacy rates across gender, age and urban versus rural areas. Illiteracy among Iraqi women (24%) is more than double that of Iraqi men (11%). Rural populations are more adversely affected by illiteracy (25%) than urban (14%) populations, and within rural areas the literacy divide between men and women is wider. In functional literacy tests amongst youth (when asked to read a sentence out loud), this disparity is further pronounced: less than 50% of women aged 15-24 living in rural areas were found to be literate, compared with 72-80% literacy rates for women of the same age group in more urban areas.

There are significant differences in illiteracy rates amongst the different governorates of Iraq. The lowest rates of illiteracy appear to be in Diyala, Baghdad (centre) and Kirkuk (north), while the highest are estimated to be in Dahuk and Sulaimaniyah within the Kurdistan Region in the north, and Muthanna, Missan and Qadissiya in the south.

Das gesamte Fact Sheet "Literacy in Iraq" (mit Karten und Grafiken) ist als pdf-Datei hier herunterzuladen:
www.iauiraq.org (externer Link)




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