Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Kein militärisches Engagement der EU oder NATO im Irak"

Bertelsmann Stiftung stellt Strategiepapier vor

Im Folgenden dokumentieren wir eine Erklärung der Bertelsmann Stiftung, die am 25. Juni 2004 in Brüssel und Gütersloh der Öffentlichkeit vorgestellt wurde (die Erklärung trägt das Datum vom 24. Juni).
Das vollständige Strategie-Papier, das dieser Presseerklärung zugrundeliegt, haben wir als pdf-Datei dokumentiert: Der Irak auf dem Weg in die Souveränität. Handlungsoptionen für die Europäische Union.



Gütersloh/Brüssel, 24.06.2004
Kein militärisches Engagement der EU oder NATO im Irak

Bertelsmann Stiftung: Fehlende Legitimation und instabile Sicherheitslage bedingen sich gegenseitig - multilateralen Ansatz im Rahmen der UN aber mit umfassendem Hilfspaket unterstützen

Bevor sich die Europäische Union im Irak substanziell engagiert, bedarf es einer effektiven Multilateralisierung der amerikanischen Irakpolitik. Angesichts der fehlenden Legitimation der Intervention würde in der derzeitigen Situation auch ein Engagement der NATO wenig substanzielle Veränderungen bewirken können und im Irak lediglich als eine taktische Variante amerikanischer Besatzung wahrgenommen werden. Im eigenen Interesse sollte die EU aber dennoch an der Stabilisierung des Landes mitarbeiten und dazu im Rahmen einer veränderten multilateralen Strategie umfassende Beiträge leisten. Zu dieser Einschätzung kommt eine Gruppe internationaler Nahostexperten, die im Auftrag der Bertelsmann Stiftung eine Strategiepapier zur Rolle der Europäer im irakischen Wiederaufbauprozess erarbeitet hat und das heute mit Blick auf die bevorstehenden Beratungen der NATO und des EU-USA-Gipfels zu diesem Thema in Brüssel der Öffentlichkeit vorgestellt wird.

Das Kernproblem sehen die Autoren Toby Dodge, Giacomo Luciani und Felix Neugart in einem Teufelskreis aus mangelnder internationaler und interner Legitimation, dem Sicherheitsvakuum im Land und der Unfähigkeit von US-Zivilverwaltung und Übergangsregierung, funktionierende Strukturen neu aufzubauen. Als Ausweg wird daher empfohlen, den politischen Prozess vollständig in die Verantwortung der Vereinten Nationen zu übergeben. In der kürzlich verabschiedeten UN-Sicherheitsratsresolution hätten die USA zwar wichtige Zugeständnisse in dieser Richtung gemacht, hinsichtlich der tatsächlichen Ausgestaltung gebe es aber noch erhebliche Unsicherheiten.

Aus Sicht der Europäer könne zwar eine multilaterale Kontrolle des Iraks nicht zur Bedingung gemacht werden, aber die Mobilisierung größerer Ressourcen sei unter den gegenwärtigen Umständen nicht möglich. "Das Versagen der USA und ihrer Verbündeten, die Dynamik der irakischen Gesellschaft zu verstehen, und die zahlreichen Fehler bei der Gestaltung des Übergangsprozesses verheißen nichts Gutes für die zukünftigen Herausforderungen." Voraussetzung für ein europäisches Engagement sei ein sichtbares Zeichen, dass die US-Regierung bereit ist, ihren Kurs zu ändern und einige Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. "Die amerikanischen Entscheidungsträger können von der internationalen Gemeinschaft keine substanziellen Beiträge zu einem Prozess erwarten, in welchem die Vereinten Nationen auf die Rolle eines 'Subunternehmers' der Koalition beschränkt ist."

Wenn die Errichtung einer stabilen und legitimen Ordnung im Irak scheitere, werde dies aber gewaltigen Einfluss auf die regionalen und internationalen Beziehungen haben. Die EU könne es sich aufgrund der strategischen Bedeutung des Iraks in der Region in der Nachbarschaft zur EU und seine Rolle für eine gesicherte Energieversorgung daher schlicht nicht leisten, die enorme Bedeutung des Übergangsprozesses zu ignorieren. Für den Fall eines Kurswechsels der USA sollte die EU daher darauf vorbereitet sein, substanzielle politische und materielle Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Parallel dazu sollten die Europäer dazu beitragen, die Situation zu stabilisieren, den Übergang zu sicheren und die Bildung demokratischer und legitimierter Zivilsstrukturen zu erleichtern. Vorgeschlagen werden unter anderem
  • die Unterstützung der Vorbereitung von Wahlen,
  • Austauschprogramme zur Verankerung zivilgesellschaftlicher Werte,
  • die Unterstützung der Dezentralisierung und Föderalisierung,
  • sowie die Mitwirkung beim Aufbau des Rechts-, Polizei- und Justizsystems.
Eine besonders wichtige Rolle könnten die Europäer außerdem bei der Organisation eines regionalen Dialoges zu und unter den Nachbarn des Irak übernehmen. Die EU sollte mit Iran, der Türkei, Syrien, Jordanien und den Staaten des Golf-Kooperationsrates (Gulf Cooperation Council, GCC) einen intensiven Meinungsbildungsprozess über die Zukunft des Irak führen, mit dem Ziel, Schritt für Schritt eine multilateralen Sicherheitsstruktur in der Golfregion zu errichten.

Das Strategiepapier basiert auf einer Reihe von Workshops, die mit Wissenschaftlern und Diplomaten aus der EU, dem Irak und den Vereinigten Staaten durchgeführt und gemeinsam von der Bertelsmann Stiftung (Gütersloh, Deutschland), dem Robert Schuman Centre for Advanced Studies am European University Institut (Florenz, Italien) und dem Centrum für Angewandte Politikforschung (München, Deutschland) organisiert wurden.

Für Rückfragen und Interviews stehen Ihnen unsere Nahost-Experten zur Verfügung:
  • Christian-Peter Hanelt, Leiter Projekt Europa und der Nahe Osten, Bertelsmann Stiftung; e-mail: christian.hanelt@bertelsmann.de
  • Felix Neugart, Bertelsmann Forschungsgruppe Politik, Centrum für angewandte Politikforschung (CAP); e-mail: felix.neugart@lrz.uni-muenchen.de
Zusätzlich können die Mit-Autoren (englisch sprachig) des Strategiepapieres kontaktiert werden :
  • Dr. Toby Dodge, Senior Research Fellow Economic & Social Research Council, Centre for the Study of Globalisation & Regionalisation, University of Warwick; Email: B.T.Dodge@warwick.ac.uk
  • Dr. Giacomo Luciani, Professor of Political Economy, Co-Director of the Mediterranean Program, Robert Schuman Centre for Advanced Studies, European University Institute; Email: Giacomo.Luciani@IUE.it
Quelle: Homepage der Bertelsmann Stiftung

Und hier gibt es die Studie im Wortlaut:
Der Irak auf dem Weg in die Souveränität. Handlungsoptionen für die Europäische Union
Strategiepapier der Bertelsmann Stiftung im pdf-Format (25. Juni 2004)


Zur Irak-Seite

Zur Presse-Seite

Zurück zur Homepage