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Was läuft hier schief?

Weitere Gedanken zum Krieg. Von Uri Avnery

Plan und Realität: eine alte Binsenweisheit sagt: "Kein Kriegsplan überlebt den ersten Zusammenstoß mit dem Feind." Das stimmt immer. Aber etwas viel Schlimmeres ist den Amerikanern jetzt geschehen. Um den Krieg ihrem eigenen Volk und der Welt gut zu verkaufen, haben Bush & Co das Bild eines "chirurgischen Eingriffs" vorgezeichnet. Ganz einfach: die Amerikaner marschieren in voller Stärke nach Bagdad. Die irakische Bevölkerung möchte ihren grausamen Diktator los werden und begrüßt die Befreier voll Freude. Die Schiiten im Süden werden sie nach arabischer Sitte mit einer Reisdusche empfangen. Saddam wird umgebracht. Das Regime fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die Amerikaner werden im Triumph in Bagdad einmarschieren. Ende. Das Ganze wird höchstens eine Woche dauern. Keine Toten, keine Gefangenen.

Bush und seine Leute haben nicht gelogen. Sie haben wirklich geglaubt, dass es so ablaufen werde. Wie immer hatten die Propaganda-Experten damit Erfolg, sich selbst zu überzeugen. Nachdem sie eine imaginäre Landkarte gezeichnet hatten, legten sie ihre Pläne darauf. Jetzt trafen sie auf die Realität. Zum Beispiel auf Grund ihrer Verachtung des Feindes waren die Verbindungslinien nicht angemessen abgesichert, es gab keine entsprechenden Vorbereitungen für Schlachten in der Nachhut. Nach schnellem Vormarsch durch die Wüste, was vor allem eine logistische Operation war, kamen sie in die Nähe von Bagdad und dachten, dass ihnen alles andere mehr oder weniger von selbst zufallen würde.

Das "israelische Syndrom". Man mag dies das "israelische Syndrom" nennen: die abgrundtiefe Verachtung für die Araber und die Überzeugung, dass sie nicht kämpfen können. Dies war die Ursache der Fehlschläge der israelischen Armee im Yom Kippur Krieg, im Libanonkrieg und in beiden Intifadas. Zu jeder Zeit kämpften die Araber tapfer und opferten ihr Leben. Das überraschte schmerzlich. (Ein israelischer Witz: "Man kann sich wirklich nicht auf die Araber verlassen. Sie ergeben sich nicht einmal.")

Sie haben Angst. Das irakische Volk reagiert wie jedes normale Volk. Angesichts einer ausländischen, feindlichen Invasion hält es zusammen. Selbst die Gegner des Regimes unterstützen den Anführer in der Schlacht. Als die Nazis die Sowjetunion überfielen, jubelten die Gefangenen in den Gulags Stalin zu. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass viele Iraker Saddam loswerden wollen. Aber sie wollen nicht, dass dies durch ausländische Invasoren geschieht. Besonders nicht von den Amerikanern, die sie im Verdacht haben, dass sie ihnen ihr Öl rauben wollen. (Die Teilnahme der Briten, ihre früheren verhassten Kolonialherren, macht die Sache noch schlimmer.) Und wenn die Bevölkerung nicht herauskommt, um die Befreier willkommen zu heißen, und die Brigaden der regulären Armee nicht en masse kapitulieren - wie kann man das erklären?

Die Politiker und Generäle trösten sich mit einer eklatant lächerlichen Konstruktion: Millionen von Einwohnern von Basra und dem Süden haben Angst vor Saddams Agenten, die sich noch immer in dem Gebiet aufhalten sollen. Sie wollen die Amerikaner begrüßen, wagen es aber nicht. Armes Volk! Sogar der Sprecher der israelischen Armee könnte keine erbärmlichere Erklärung finden.

Das palästinensische Beispiel. Kein Araber - sei er Sunnit oder Schiit - kann die Amerikaner als Befreier betrachten, weil sie seit zwei Jahren täglich auf ihren Bildschirmen sehen, was die israelische Armee, mit der rückhaltlosen Unterstützung von Bush, dem arabisch- palästinensischen Volk antut. Die eingebildeten Amerikaner, die ziemlich unsensibel gegenüber Gefühlen anderer Völker sind, können sich überhaupt nicht die Intensität der Wut und des Hasses der arabischen Massen vorstellen. Darum konnten ihnen die Gräueltaten vom 11. September 2001 auch keine Lehre sein - z.B. die, dass sie ihre Politik gegenüber den Palästinensern ändern müssen. Sogar jetzt, während des Krieges, zeigt Saddams Fernsehen Bilder von israelischen Gewalttätigkeiten in den palästinensischen Gebieten, um dem irakischen Volk vorzuhalten, wie die heldenhaften Palästinenser, ein- schließlich der Kinder, ihr Leben gegen die riesige Macht der israelischen Armee einsetzen.

Der Schockmoment. In der Geschichte Israels gibt es mehrere Momente von nationalem Schock. Einer von ihnen geschah während des Yom-Kippur- Krieges. Dieser Moment hat sich meinem Gedächtnis tief eingeprägt. Wir saßen vor dem Fernseher in der Wohnung eines Freundes. Auf einmal erschien auf dem Bildschirm eine Gruppe israelischer Soldaten, die gefangen genommen worden waren. Sie saßen auf dem Boden, die Köpfe gesenkt, ihre Hände hinter ihrem Rücken gefesselt. Sie zitterten vor Angst. Rund herum frohlockende Syrer. Bis zu jenem Augenblick war der absolute Glaube der Überlegenheit des israelischen Kämpfers ein Grundstein des israelischen Bewusstseins, genährt durch unzählige wahre Geschichten und Mythen. In diesem Augenblick fiel dies in sich zusammen. Plötzlich sahen wir unsere Soldaten als normale Menschen, die in einer schrecklichen Situation Angst hatten. Nun geschieht dies den Amerikanern. Sie sehen ihre Söhne in ähnlicher Situation. Kein Wunder, dass das Weiße Haus diese Bilder verbergen möchte, indem es die Genfer Konvention zitiert. Wo aber war diese Konvention, als Tausende von afghanischen Kriegsgefangenen, Soldaten der Taliban, wie Tiere in Guatanamo zur Schau gestellt wurden?

Gefangene. Unsere eigene Armee hat natürlich die Kriegsgefangenen für Propagandazwecke immer zur Schau gestellt. Ich erinnere besonders an einen Star des israelischen Fernsehens, den "Arabisten" Ehud Ya'ari, einem ehemaligen Offizier des Militärnachrichtendienstes, wie er gefangene Syrer und Ägypter im Fernsehen befragt, wie das eben ein Offizier des Nachrichtendienstes tut. Da wurde keine Genfer Konvention erwähnt.

Saladin. Eine Sache ist schon heute sicher: Saddam Hussein hat erreicht, was er erreichen wollte. Was immer auch in den nächsten Tagen und Wochen geschieht, er wird in die arabische Geschichte als einer der großen Helden eingehen, der nicht zurückgewichen und vor einem übermächtigen Feind nicht weggerannt ist. Generationen von Kindern in allen arabischen Ländern werden in der Schule lernen, dass er der Erbe des großen Salah al-Din (Saladin) war. Die größte Militärmaschine der Geschichte - wie ihr Befehlshaber sie nennt - hat ein kleines Land angegriffen, dessen größter Teil an Waffen schon im voraus zerstört worden war und dessen Volk tapfer dem Bomben- und Missiles-Hagel widersteht - auch ohne jegliche Luftverteidigung.

So sieht es im Augenblick für alle Araber in der Welt aus. Sie vergleichen Saddam mit ihren eigenen Herrschern, Mubarak, Fahed, Abdallah und Assad. Ab jetzt wird die Legende sich nur ausbreiten und zu einem Nationalmythos werden.

Abschluss des Manuskripts: 25. März 2003 Übersetzt von: Ellen Rohlfs
Orginalartikel: "Was läuft hier schief?" in: http://www.zmag.de/article/article.php?id=542



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