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Die Anklage lautet auf Völkermord

"Anfal"-Feldzug gegen die Kurden: Zweiter Prozess gegen Saddam Hussein beginnt / Ex-Diktator muss sich wegen Verbrechen in Nordirak vor dem Sondertribunal verantworten

Von Karin Leukefeld *

Das Urteil im ersten Prozess gegen Saddam Hussein und seine Mitangeklagten ist noch nicht gesprochen, da soll am heutigen Montag (21. August 2006) bereits der zweite Prozess gegen den ehemaligen irakischen Präsidenten eröffnet werden. Die Anklage lautet auf »Völkermord an den (irakischen) Kurden», auch bekannt als die »Operation Anfal«.

Halabscha gilt als Synonym für den Völkermord an den irakischen Kurden unter Saddam Hussein. Der Giftgasangriff auf die kurdische Stadt dieses Namens mit rund 5000 Toten am 16. März 1988 führte international zu einem Aufschrei. Halabscha ist jedoch nicht Teil der neuen Anklage gegen den irakischen Ex-Machthaber Saddam Hussein, die ab heute vor dem Sondertribunal in Bagdad verhandelt wird. Vielmehr geht es um den »Anfal«-Feldzug gegen die irakischen Kurden.

»Anfal«, die 8. Sure im Koran, beschreibt das Recht auf Beute in einem Feldzug gegen »Ungläubige«. Kurdische Organisationen hatten bereits 1988 auf den Vernichtungsfeldzug in Nordirak aufmerksam gemacht, damals ohne großen Erfolg.

Während des kurdischen Aufstandes infolge des Irak–Krieges 1991 wurden in der Geheimdienstzentrale von Süleymania Unterlagen über die »Operation Anfal« gefunden, darunter auch Tonbandaufzeichnungen. Das Material wurde der US-Amerikanischen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) zugespielt, die eigene Recherchen anstellte. In ihrem 1993 veröffentlichten Bericht »Völkermord in Irak, die Anfalkampagne gegen die Kurden« dokumentierte die Gruppe die systematischen Angriffe des irakischen Militärs unter dem Kommando von Ali Hassan al Madschid, verantwortlich für den Nordirak und Cousin von Saddam Hussein. In sieben Offensiven war danach die kurdische Bevölkerung aus ihren Dörfern vertrieben und diese zu »verbotenen Zonen« erklärt worden. Wer sich weiterhin in den Dörfern aufhielt, wurde zum »Feind« erklärt und erschossen, viele Dörfer wurden zerstört.

Nach Augenzeugenberichten wurde auch Giftgas eingesetzt. Die Vertriebenen wurden in lagerähnliche »Sammeldörfer« gebracht, eine unbekannte Zahl wurde verschleppt und ermordet. Viele Tote wurden nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 in Massengräbern gefunden. Die tatsächlichen Opferzahlen variieren heute zwischen 50.000 und 200.000 Toten und 3000 und 4000 zerstörten Dörfern.

Das irakische Militär bezeichnete den Anfal-Feldzug 1988 als »Bestrafungsaktion« gegen die Peschmerga der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), die während des achtjährigen Iran-Irak-Krieges (1980-88) auf Seiten und mit Geld der iranischen Führung gekämpft hatten. Den Preis zahlte die kurdische Zivilbevölkerung. Der achtjährige Krieg wurde erst am 20.8.1988 durch einen von den Vereinten Nationen vermittelten Waffenstillstand beendet.

Als ursprünglicher Promotor der Anklage äußert sich Human's Rights Watch heute kritisch gegenüber der bisherigen Arbeit des Irakischen Sondertribunals. Keiner der beteiligten Richter und Anwälte hätte das internationale Strafrecht verstanden, so Richard Dicker, Direktor des HRW-Programms für Internationale Gerechtigkeit. Die Leitung des Prozesses bezeichnete er als »chaotisch«. Die Verteidigungsrechte der Angeklagten seien eingeschränkt, drei der acht Anwälte sind seit Beginn des Prozesses ermordet worden. Die Anonymisierung von Zeugen (aus Sicherheitsgründen) sei nicht akzeptabel, so HRW. Dadurch werde das Recht der Verteidigung auf ein Kreuzverhör untergraben. Die Beweisführung wurde darüber hinaus nicht von unabhängigen Institutionen, sondern von dem vom US-Justizministerium personell und finanziell komplett ausgestatteten Verbindungsbüro für die Verbrechen des Regimes (Regime Crimes Liaison Office) vorbereitet. Seit zwei Jahren arbeitet ein forensisches Medizinerteam im Auftrag des Büros an einem geheim gehaltenen Ort in Bagdad. Bisher haben sie nach eigenen Angaben den Fund von 330 in neun Massengräbern verscharrten Leichen dokumentiert.

Der Vorsitzende des zweiten Verfahrens wird Berichten der irakischen Tageszeitung »Al Adala« zufolge vermutlich ein schiitischer Araber sein, kein Kurde, wie in dem vorherigen Prozess. Die kurdische Tageszeitung »Kurdistani Nwe« gibt seinen Namen mit Arif Schahin an. Die Opfer in dem Verfahren werden von insgesamt 36 kurdischen Anwälten vertreten. Sollten Saddam Hussein und seine sechs Mitangeklagten für schuldig befunden werden, droht ihnen die Todesstrafe.


Die sieben Angeklagten
  • Neben Saddam Hussein müssen sich ab Montag in Bagdad sechs weitere Angeklagte wegen Völkermordes im Zussamenhang mit der »Operation Anfal« verantworten.
  • Saddam Hussein war von 1979 bis 2003 irakischer Präsident. Er ist angeklagt, die »Operation Anfal« angeordnet zu haben. Er gilt damit als Hauptverantwortlicher des mutmaßlichen Völkermordes.
  • Ali Hassan al Madschid, genannt »Chemie-Ali« oder »Schlächter von Kurdistan«, war Generalstabschef für den Nordirak. Er soll von seinem Cousin Saddam Hussein den Auftrag bekommen haben, gegen die Kurden vorzugehen.
  • Sabir al Duri war Chef des Militärgeheimdienstes – ein Schlüsselposten unter der Herrschaft von Saddam Hussein. El Duri wird vorgeworfen, einer der Hauptantreiber der »Operation Anfal« und eine der Schlüsselfiguren bei der Ausführung gewesen zu sein.
  • Taher al Ani war unter Saddam Hussein und während der »Operation Anfal« der Gouverneur von Mossul im Norden des Irak.
  • Sultan Haschim al Tal war zur Zeit der »Operation Anfal« Verteidigungsminister und Kommandeur vor Ort. Er nahm seine Befehle von »Chemie-Ali« entgegen.
  • Hussein Raschid al Tikriti war Vize-Kommandeur der Einsätze. Dem Mitglied des Saddam-Clans wird vorgeworfen, aktiv an den Einsätzen teilgenommen zu haben.
  • Farhan al Dschuburi war Chef des Militärgeheimdienstes für den Osten Iraks. Er wird ebenfalls der aktiven Teilnahme an der »Operation Anfal« beschuldigt.


* Aus: Neues Deutschland, 21. August 2006


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