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Wahlen nur ohne Besatzung

Gespräch mit dem irakischen Politologen Sabah Alnasseri

Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das das "Neue Deutschland" mit dem Frankfurter Politikwissenschaftler Sabah Alnasseri geführt hat*. Sabah Alnasseri wird beim 11. Friedenspolitischen Ratschlag im Dezember 2004 in einem Forum über die Situation im Irak referieren.


ND: Die EU hat beschlossen, die irakische Übergangsregierung mit 30 Millionen Euro zu unterstützen, damit im Januar Wahlen durchgeführt werden können. Ist das Geld sinnvoll angelegt?

Alnasseri: Ich glaube, das ist das Falscheste, was man jetzt tun kann. Diese Wahlen werden von der Übergangsregierung, aber auch von den USA erzwungen. Wahlen, die unter diesen Umständen stattfinden, wirken sich zu Gunsten der bestehenden Nationalversammlung und der Übergangsregierung aus und festigen deren Zusammensetzung. Deshalb bin ich gegen diese Wahlen.

Wie müssten die Umstände denn sein?

Zuerst muss der Besatzungsstatus geklärt werden. Für mich heißt das: Ende der Besatzung. Erst dann können sich alle politischen Kräfte zur Wahl stellen. Unter der jetzigen Regierung und deren Gesetzen und Erlassen, die teilweise noch von USA-Verwalter Paul Bremer stammen, werden bedeutende politischen Kräfte Iraks von der Teilnahme an Wahlen ausgeschlossen. Das betrifft all jene, die gegen die Besatzung sind und diese Übergangsregierung ablehnen.

Welchen Charakter haben die Wahlen im kommenden Januar?

Es geht um Wahlen zum nationalen Parlament, zu den Vertretungen von 18 Provinzen und zum regionalen Parlament Kurdistans. Wenn sie unbedingt durchgeführt werden sollen, heißt das, dass es in den nächsten drei Monaten massive militärische Angriffe der Besatzung und der irakischen Truppen gegen verschiedene Gruppen geben wird. Und zwar im ganzen Land.

Der Termin für die Wahlen wurde in der provisorischen Verfassung festgelegt, die Sie als »postfeudal« bezeichnen. Warum?

Formal hat diese Verfassung eine neoliberale Tendenz. Man sieht das an all den standardisierten, bürgerlichen Freiheitsrechten. Je mehr man sich aber damit beschäftigt, desto mehr stellt man fest, dass das ganze Land nach geographischen, ethnischen, religiös-kulturellen und politischen Kriterien fragmentiert wird. Dadurch wird eine nationale Zusammensetzung ausgeschlossen. Bei dieser Verfassung handelt es sich eher um eine Konstruktion, die Traditionen wiederbelebt, als um eine staatsbürgerliche Verfassung.

Kurden gegen Araber, Sunniten gegen Schiiten, Norden gegen Süden – wird die beabsichtigte Fragmentierung Iraks gelingen?

Die USA wiederholen in Irak bestimmte Praktiken von Saddam Hussein, was ein großer Fehler ist. Schon Hussein hatte versucht, den Irak zu fraktionieren, um sich selber und seiner Clique die Macht zu sichern. Er wollte sich als einzig vermittelnde Instanz etablieren. Das hat nicht geklappt. Nun versuchen die Amerikaner das Gleiche.
Das Erstaunliche an den Abu-Ghoreib-Bildern ist, dass nicht nur der Ort an Saddam Hussein erinnert, sondern auch die Art der Folter, die Form der kollektiven Bestrafung. Wir kennen das von früheren Kolonialmächten, Frankreich in Algerien zum Beispiel. Auch Saddam Hussein hat solche kolonialen Praktiken angewandt. Nicht nur die Oppositionellen, auch ihre Verwandten, ihre Freunde wurden verfolgt und bestraft. Was die USA jetzt in Irak machen, ähnelt dem stark.

Sie befassen sich mit der ökonomischen Umstrukturierung in der arabischen Welt – was geschieht wirtschaftlich in Irak?

Die internationale Entwicklung von 1980 bis 2003 zeigt, dass »nicht willige Staaten« geöffnet werden. Damit meine ich Staaten, die sich den Anpassungsmaßnahmen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds verweigern. Irak wird nun gewaltsam für diese neoliberale Verwertungsstrategie geöffnet. Da aber Irak, ähnlich wie im ganzen arabischen Raum, bisher eine staatszentrierte Strategie verfolgte und sich das gesamte gesellschaftliche Kapital um die staatlichen Industriesektoren herum konzentrierte, müssen Staat und Gesellschaft zunächst nach politischen und räumlichen Zonen fraktioniert werden. Dann folgt die Privatisierung von Macht und gesellschaftlichem Eigentum. Dieser Mechanismus wird jetzt in Gang gesetzt. Es ist einfacher, die Interessen von multinationalen Konzernen mit regionalen Eliten, wie Kurden, Arabern oder was auch immer zu verankern, als mit einer starken, zentralisierten Regierung.

Man hört oft, 35 Jahre Leben unter Baath-Regierung und Saddam Hussein hätten das demokratische Bewusstsein der Iraker zerstört, sie seien nicht in der Lage, eine Demokratie selber aufzubauen.

Solche Aussagen sollen vermitteln, dass die irakische Gesellschaft ohne politische Kultur ist, wie wir sie im Westen kennen. Deswegen müssten wir dorthin, um sie zu politisieren. Ich halte das für eine ideologische Rechtfertigung des Krieges. Bestimmte Werte wie Demokratie, Meinungs- und Bewegungsfreiheit, die man bei uns positiv assoziiert, werden gnadenlos ausgebeutet. Doch im Kontext dieses Krieges ist Demokratie nichts anderes als eine Kontrollstrategie.

* Dr. Sabah Alnasseri wurde 1961 in Basra geboren. 1981 musste er Irak verlassen, seit 1989 lebt er in Deutschland. Er lehrt als Dozent für Politikwissenschaften an den Universitäten in Frankfurt (Main) und Kassel. Mit Sabah Alnasseri sprach für ND Karin Leukefeld.

Aus: Neues Deutschland, 10. November 2004


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