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USA-Irak: Kontrolle durch Destabilisierung

Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Sabah Alnasseri* über die Strategien zur Ethnisierung und Kantonisierung des Landes

Im Folgenden dokumentieren wir ein Gespräch, das Michael Liebler mit dem Politikwissenschaftler Sabah Alnasseri geführt hat. Das Interview erschien in der Wochenendbeilage der "jungen Welt".

F: Der irakische Informationsminister Mohammed Said Al Sahaf wurde im Kriegsverlauf zu einer echten Lachnummer, weil er noch den Sieg vorhersagte, als ihm die US-Panzer schon über die Füße rollten. Warum blieb der militärische Widerstand so gering?

Während des Krieges kam es zu einem Auseinanderbrechen der Führungseliten. Infolgedessen wußten die Einheiten der unteren Ebenen nichts mehr von denen der oberen. Das heißt, wenn Al Sahaf über irgendwelche Heldentaten berichtete, war er wohl tatsächlich nicht im Bild – es war nicht nur reine Propaganda, sondern es gab keine zentrale Steuerung mehr, so daß sich die verschiedenen Gruppen autonom bewegten. In diesem Moment war das Ende des Regimes vorgezeichnet.
De facto war die Führung schon vor dem Krieg so schwach, daß die USA und Großbritannien zu Recht mit einem schnellen Sieg rechneten. Nur in der ersten Woche begriffen sie eine bestimmte Taktik nicht ganz, nämlich die Auflösung der Eliteeinheiten in paramilitärische Einheiten. Und so schien es zunächst, als würde der Krieg länger dauern.
Je mehr sie sich aber Bagdad näherten, stellten sie fest, daß es kein organisiertes Zentrum, keine kämpfende Einheiten mehr gab. Diejenigen, die es gab, waren komischerweise im Norden stationiert und nicht im Süden, wo der Angriff erfolgte. Aus diesem Grund gab es Spekulationen über bestimmte Deals mit dem Ziel, die militärischen Führungsriege entweder zur Kapitulation zu motivieren oder dazu, keine Entscheidungen zu treffen, die den Krieg in die Länge ziehen würden.

F: Nun gibt es aber noch täglich Angriffe auf US-Soldaten und auch Sabotageakte. Könnte dahinter das alte Regime stecken, das an die Macht zurückwill?

Ahmed Chalabi, der Vorsitzende des Irakischen Natinalkongresses (INC), meint tatsächlich, daß Saddam Hussein die Fäden zieht. Aber das ist die verschwörungstheoretische Variante – eben im Stil von Chalabi. Paul Bremer, der sogenannte Zivilverwalter, glaubt hingegen, es handele sich um spontane, sporadische Aufstände.
Die Realität sieht wohl etwas komplexer aus. Neben kriminellen Banden und Cliquen gibt es einen Rest des regimetreuen Kerns – mit dem Auseinanderbrechen des Regimes entstanden autonom agierende Gruppen, die auch aufgrund von Partikularinteressen Kämpfe organisieren. Je überlebensnotwendiger für sie die Länge des Krieges wird, desto mehr pochen sie darauf, daß er weitergeht. Denn in dem Moment, in dem es zu einer Art von Verrechtlichung der Verhältnisse kommt, wird es ganz dramatisch für sie aussehen. So versuchen sie, durch antiamerikanische und »antiimperialistische« Slogans einen Teil der Bevölkerung zu mobilisieren.
Eine Sonderrolle spielen die Sabotageangriffe auf die Ölindustrie. Hier kann man nicht mehr von vereinzelten, sondern muß schon von organisierten Angriffen sprechen. Das sind nationale Kräfte, die befürchten – tatsächlich ja auch zu Recht – daß die Ölfelder im Irak privatisiert werden und dem Staat die ökonomische Basis entzogen wird.
Dennoch: Ich gehe davon aus, daß es augenblicklich im wirklichen Sinne keinen Widerstand im Irak gibt – aber das kann sich in den nächsten Wochen und Monaten verändern.
Falls es nämlich den Besatzungsmächten nicht gelingen sollte, infrastrukturelle, ökonomische, soziale und technische Strukturen zu schaffen, in denen sich die Mehrheit der irakischen Bevölkerung bewegen und organisieren kann, kann es durchaus zu einer Antibesatzungsstimmung kommen, die auch in einen breiteren Widerstand umkippt.

F: Wäre das nicht ein Grund mehr für die Besatzungsmächte, die versprochene Demokratisierung herbeizuführen? Wieviel Hoffnung kann man auf diesen Prozeß setzen?

Ich glaube, daß die Strategen aus dem Pentagon oder der Downing Street Rechtsverhältnisse und politische Freiheiten suggerieren, aber de facto Staat und Gesellschaft des Irak ethnifizieren und kulturalisieren, was dem marktökonomischen und pluralistischen Prinzip der Rechtssubjektivität widerspricht. Sie wollen sich auf die Cliquen-Strukturen, vermittels derer das irakische Regime in den letzten 20 Jahren geherrscht hat, stützen. Es läuft letzten Endes darauf hinaus, diesen Staat, so wie er besteht, aufzulösen und eine neue Form der hybriden Staatlichkeit zu finden, die man Föderalismus nennt, und dabei zu suggerieren, das sei so etwas wie in Deutschland.

F: Kantonisierung ist der Begriff, den Sie für ein mögliches Modell eines Nachkriegiraks verwenden.

Grob gesagt gibt es zwei Szenarien. Einmal das, was ich als Kantonisierung bezeichne. Zum anderen: Wenn es den irakischen politischen Aktivisten in den nächsten zwei Jahren gelingt, zivilgesellschaftliche Infrastrukturen wiederherzustellen, wie es sie bis in die 70er Jahre hinein im Irak gab, und es zu einer Selbstorganisierung der jeweiligen Gruppen und Parteien kommt, dann kann das tatsächlich zu einer Demokratisierung führen – aber nicht im Sinne der USA und Großbritanniens.
Das erste Szenario wäre kurzfristig allerdings das wahrscheinlichere: Daß es zu einer Aufteilung des Landes in verschiedene Herrschaftszonen kommt, die von unterschiedlichen Kräften besetzt werden. Also als Resultat nicht eine föderalistisch definierte Form des Nationalstaats, sondern eine fraktionierte Territorialität, die – ähnlich wie in Afghanistan – nur durch die Präsenz der Besatzungsmächte und durch Militärkontrolle etabliert und reproduziert wird.
Das wäre allerdings eine schreckliche Variante. Denn wenn es nicht zu einer politischen Vereinheitlichung des Landes kommt, hätte das nicht nur Konflikte innerhalb der irakischen Opposition, in Kurdistan und im mittleren Irak zur Folge. Diese deterritorialisierte politische Einheit würde auch Raum bieten für alle möglichen konservativen und radikalen Kräfte - nicht nur irakische, sondern auch solche von außerhalb. Und das würde bedeuten: bürgerkriegsähnliche Zustände und gewaltförmige Auseinandersetzungen.

F: Gehen die Besatzungsmächte dieses Risiko Ihrer Meinung nach sehenden Auges ein?

Aus Sicht der Globalmächte, aber auch der benachbarten konservativen Regime, bedeutet ein starker Irak eine Bedrohung der Stabilität der Region. Und so wäre eben die Kantonisierung des Landes die beste Alternative. Aber die setzt voraus, daß monarchistische und tribalistische Herrschaftsmomente wiederhergestellt werden.
Eine Tendenz geht bereits in diese Richtung: So verbinden sich die kurdischen Kräfte von Jalal Talabani und Mesut Barzani, die sich sehr stark auf Clans und Tribalmächte stützen, mit den Stämmen im Süden des Irak und agieren gegen andere, linke Kräfte. Wie gesagt, das käme den Globalmächten gelegen.
Doch das bedeutete das Anstacheln von Konflikten auch in Anrainerländern. Der Irak könnte sich – wie der Libanon in den 80er Jahren – als Terrain anbieten, auf dem verschiedene Kräfte agieren, die wiederum aus anderen Ländern Unterstützung bekommen. Die Folge wäre eine Destabilisierung der Region für die nächsten Jahrzehnte. Sollten Strategen des Pentagon genau das anstreben – nach dem Motto, die beste Kontrolle und Stabilisierung wäre die Destabilisierung – dann läge hier eine denkbare Option.

F: Eine Möglichkeit also, aber Ihrer Meinung nach offenbar nicht die einzige. Was würde für einen anderen Weg sprechen?

Die metropolitanen Staaten haben in den letzten Jahren gezeigt, daß sie nicht in der Lage sind, eine wie auch immer geartete Weltordung herzustellen. In Ermangelung dessen erstreben sie also ihre jeweils eigene Ordnung und ihre eigenen Herrschaftszonen. Eine Konkurrenzsituation also. So betrachten die USA den nahöstlichen Raum als ihre Herrschaftszone – allenfalls noch als die der Exkolonialmacht Großbritannien. Hingegen haben Länder wie Rußland und Frankreich auch strategische Interessen im Irak, denn es ist ihr letzter Vorposten in dieser Region gegen die proamerikanischen Kräfte.

F: Und die BRD?

...versucht, von diesem Konflikt zu profitieren. Die politische Klasse ist nicht so sehr gegen den Krieg gewesen, weil sie so pazifistisch ist, sondern weil die BRD dabei nichts zu sagen hat, und gleichsam aus diesem Nichtszusagenhaben politisches Kapital schlagen will.
Aufgrund der Konkurrenzverhältnisse liegt es im Interesse Großbritanniens und der USA, daß im Irak eine gewisse Entwicklung stattfindet, die den Krieg und die Integration des Landes in ihre Herrschaftszone mittel- oder langfristig legitimiert. Tatsächlich setzen sie auch stark auf die irakischen Liberalen, die in den USA und Großbritannien sozialisiert wurden. Aber das widerspricht im Grunde dem favorisierten Szenario. Denn die Liberalen stehen ja aufgrund ihrer Ideen gegen die ethnische und kulturelle Fraktionierung und für die Einbeziehung der anderen politischen Kräfte, also auch der Linken.
Und deswegen sage ich: Washington und London haben kein Konzept. Sie wissen zwar, daß sie den Irak integrieren wollen, aber sie wissen nicht genau, wie sie das tun sollen.

F: Sie sehen eine Chance für die irakische Linke, dem Gang der Dinge einen anderen Verlauf zu geben. Kommt die mit dem Sprung in die globalisierten Verhältnisse klar?

Vergessen wir nicht, daß ein Viertel der irakischen Bevölkerung seit zehn bis zwanzig Jahren im Ausland lebt. Diese Leute hatten moderne Kommunikationsmittel und die Möglichkeit zu vergleichen, was in Europa, den USA, Südostasien, Lateinamerika passiert und was im Irak und dem Nahen Osten geschieht – und dann gewisse Prognosen aufzustellen.
Nun kehren sie bereits seit Anfang Mai in den Irak zurück, versuchen, ihre Erfahrungen und ihre Kontakte ins Ausland in die politische Infrastruktur einzubringen. Sie stellen damit Verbindungen zu politischen Kräften im Libanon, in Ägypten, in Algerien und auch zu europäischen Organisationen her.

F: Gibt es in dieser Hinsicht schon sichtbare Ansätze?

Ja. Ich will drei Beispiele nennen. Erstens: Es ist für mich nicht verwunderlich, daß eine linke Struktur wie Indymedia aus New York im Irak präsent ist und sich bemüht, Studenten zu unterstützen, ihre eigenen Kommunikationsmittel zu entwickeln – aber in einem internationalen und globalen Sinne.
Zweitens: Anfang Mai hat sich eine Organisation gegründet, die sich »Koalition für die Rechte der irakischen Frauen« nennt. Das ist ebenfalls nicht nur eine nationale Gruppe, sondern eine internationale Organisation, an der mehrere Gruppen beteiligt sind.
Zum Dritten hat sich ebenfalls Anfang Mai eine Gewerkschaft der Arbeitslosen gegründet. Die meisten Menschen sind ja augenblicklich arbeitslos. Und wenn richtig ist, daß Kantonisierung bedeutet, daß es keine Entwicklung mehr gibt, sondern eine freie Menschenhandelszone entsteht, wird die Mehrheit der irakisichen Bevölkerung auch arbeitslos bleiben. Daher ist das sehr zentral.
Es ist übrigens meiner Ansicht nach eine politisch kluge Entscheidung der Kommunistischen Partei, daß sie in Verbindung mit diesen neuen Kräften eine Perspektive zu entwickeln versucht. Strategisch notwendig wäre allerdings, die Besatzungskräfte, die man nicht einfach als Akteure wegdefinieren kann, zu zwingen, ihre Politik zu ändern. Bisher nehmen sie zwar die Linke nicht wahr, weil sie auf der politischen Bühne nicht präsent ist, aber das kann sich in den nächsten Monaten ändern.
Wenn beispielsweise globale Zusammenkünfte wie die der G8 aufgrund des Widerstands in den Metropolen an die Peripherien verlagert werden und sich hier nun auch Widerstand zeigt – es haben sich ja z. B. im Libanon in den letzten Jahren ebenfalls globalisierungskritische Zentren entwickelt – dann werden sie diese Kräfte vielleicht auch ernst nehmen und dann kann es entweder zu einem Konflikt kommen oder dazu, daß sie diesen demokratischen Kräften eben doch lieber einen Raum anbieten.

F: US-Zivilverwalter Bremer setzte nun einen provisorischen Regierungsrat ein. Kann man daraus Wegweisendes für die künftige Gestaltung der politischen Verhältnisse ablesen?

Man kann das als Teilerfolg eines Drucks der Opposition auf die USA werten. Zum anderen ist es das Ergebnis einer Ratlosigkeit der US-Verwaltung. Sie hat die ursprüngliche Idee einer Zivilverwaltung zugunsten einer provisorischen Regierungsverwaltung mit gewissen Befugnissen aufgegeben, um die Iraker in der Hoffnung, daß diese eine gewisse Kontrolle über das Land erzielen können, in die Verantwortung zu nehmen.
Der Rat besteht nicht nur aus Parteien, sondern auch aus Technokraten und Stammesfürsten – auch aus Vertretern der Baath-Partei, die bis zuletzt gewisse wichtige Funktionen innehatten. Sicher, der Liberale Chalabi vom Irakischen Nationalkongreß ist die wichtigste Figur in diesem Rat, auch die Kommunistische Partei hat einen Sitz – doch die Kommunistische Arbeiterpartei und die Kommunistische Partei Kurdistans sind nicht vertreten.
Aber 13 von 25 Mitgliedern sind Schiiten. Die meisten anderen sind Sunniten – neben Kurden, Turkmenen und Assyrern. Das heißt, wir haben einen Rat, der absichtlich ethnisch-religiös zusammengesetzt ist, und somit wird die politische Landkarte im Irak ethnifiziert. So als würde der Rat die komplette demographische Zusammensetzung der irakischen Bevölkerung repräsentieren. In Wirklichkeit legen sie aber durch eine solche Fraktionierung das Fundament einer Trennung, indem sie so tun, als gebe es sie schon.

* Dr. Sabah Alnasseri ist Politikwissenschaftler irakischer Herkunft und lebt seit 1981 im Exil, seit 1989 in Frankfurt/Main. Dort lehrt und erforscht er politische Ökonomie im arabischen Raum. Mit einem Sammelband, den er gemeinsam mit Dr. Towfigh Ebrahim zum Jahresende herausgeben wird, plant er eine gründliche Aufarbeitung der gegenwärtigen politischen Situation im Nahen und Mittleren Osten. Der Verlag »Westfälisches Dampfboot« veröffentlicht im Oktober sein Buch »Periphere Regulation« über die Krise der arabischen Gesellschaften und ihre Perspektiven br>
Aus: junge Welt, 2. August 2003


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