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Dämmerung in Irak: USA ziehen ab

Letzte Kampfbrigade der Besatzer verließ das Land / Noch 56 000 Soldaten stationiert

In einer symbolisch aufgeladenen Aktion haben die US-Streitkräfte mehr als sieben Jahre nach dem Einmarsch in Irak ihre letzte Kampfbrigade aus dem Zweistromland abgezogen.

Früher als erwartet überquerte die 4. Stryker-Brigade der 2. Infanteriedivision am Donnerstagmorgen die Grenze zu Kuwait, wie die Armee mitteilte. Die letzten Soldaten der Brigade hätten gegen 6 Uhr Ortszeit (5 Uhr MESZ) Irak verlassen, hieß es. Die Fahrt mit 360 Militärfahrzeugen und 1200 Soldaten nach Kuwait dauerte zwei Tage, 4000 US-Soldaten wurden aus Irak ausgeflogen.

Der Sprecher des US-Außenministeriums, Philip Crowley, bezeichnete den Abzug im US-Fernsehsender MSNBC als »historischen Moment«. Das langfristige US-Engagement in Irak ende damit jedoch nicht. Nun sind noch rund 56 000 US-Soldaten in Irak stationiert. Bis zum 1. September sollen nach Armeeangaben noch 6000 Soldaten von Kampfeinheiten das Land verlassen, die in Irak verstreut im Einsatz sind.

Nach dem Abzug aller Kampftruppen erhält die Mission einen neuen Namen. Statt »Operation Irakische Freiheit« wird sie dann »Operation Neue Morgendämmerung« heißen. Es gehe um eine »Umwandlung der Mission von einem Kampfeinsatz in einen Stabilisierungseinsatz«, sagte Generalmajor Stephen Lanza auf MSNBC.

Die verbleibenden 50 000 US-Soldaten sollen beim Aufbau der irakischen Sicherheitskräfte helfen und US-Einrichtungen schützen. Bis Ende 2011 sollen alle US-Soldaten das Land verlassen haben.

Um den Abzug der US-Soldaten auszugleichen wird das US-Außenministerium allerdings die Zahl der in Irak angeheuerten privaten Sicherheitsleute einem Medienbericht zufolge auf 7000 verdoppeln. Die »New York Times« berichtete, die Angestellten der Sicherheitsfirmen sollten unter anderem Radaranlagen bedienen und vor feindlichen Angriffen warnen, nach am Straßenrand versteckten Sprengsätzen suchen und Überwachungsdrohnen steuern.

Der Abzug der US-Armee ist umstritten. Einerseits geht ein Einsatz zu Ende, den viele Iraker als Besatzung empfanden. Der irakische Generalstabschef Babaker Sebari warnte andererseits vergangene Woche, sein Land werde erst 2020 in der Lage sein, allein für seine Sicherheit zu sorgen.

Dagegen sagte der irakische Regierungssprecher Ali al-Dabbagh, die Sicherheitskräfte des Landes seien »ausreichend vorbereitet«, um der Lage Herr zu werden. Der Abzug der US-Kampftruppen vollziehe sich nach Absprache zwischen der irakischen und der US-Regierung. Das Land habe sich gegen die US-Militärpräsenz entschieden und werde selbst für seine Sicherheit sorgen. Irak steckt seit Monaten in einer politischen Krise. Seit der Parlamentswahl Anfang März ist es nicht gelungen, eine neue Regierung zu bilden.

* Aus: Neues Deutschland, 20. August 2010


Keine Siegesparade

Von Olaf Standke **

Erinnern Sie sich noch an den unglaublichen Auftritt des Colin Powell im Februar 2003 im Weltsicherheitsrat? Die Welt musste gerettet werden vor Saddam Hussein, dem Paten des Terrornetzwerkes Al Qaida, dem Monster mit den Massenvernichtungswaffen. Alles Lüge. Erinnern Sie sich noch an die peinliche Show des George W. Bush drei Monate später auf dem Flugzeugträger USS Lincoln, als der USA-Präsident vollmundig das Ende der Kampfhandlungen in Irak verkündete? Nicht weniger falsch. Jetzt erst, siebeneinhalb Jahre nach Beginn der von den Vereinten Nationen nicht legitimierten Invasion, Hunderttausende tote Iraker, über 4400 tote GIs und eine Billion Dollar Kriegskosten später haben die letzten offiziellen Kampftruppen das Zweistromland verlassen. Zumindest dieses Wahlkampfversprechen hat Bush-Nachfolger Barack Obama erfüllt. Die Truppen werden auch dringend an der Front in Afghanistan gebraucht.

Sie hinterlassen ein Volk in Angst, ein Land ohne wirkliche Sicherheit und funktionierende Infrastruktur, mit nur labiler Demokratie. Ein Land, das auseinanderzubrechen droht. So bleiben auch weiter über 50 000 US-Soldaten in Irak stationiert, und Washington will die Zahl der privaten Sicherheitsfirmen in Bagdad und anderswo fast verdoppeln. Es wird Obama im Jahr der wichtigen Kongresswahlen schwerfallen, diesen Abzug als Erfolg zu verkaufen.

** Aus: Neues Deutschland, 20. August 2010 (Kommentar)


Ziel verfehlt

US-Truppen ziehen aus Irak ab

Von Werner Pirker ***


Nicht wie geprügelte Hunde, sondern erhobenen Hauptes haben die amerikanischen Kampfeinheiten den Irak zu verlassen. So ist das jedenfalls im Exit-Szenario vorgesehen. Damit sollen auch die Bilder vom April 1975 vergessen gemacht werden, als sich in Saigon US-Militärs und ihre südvietnamesischen Kostgänger in panischer Auflösung um die letzten freien Hubschrauberplätze rauften. Die US-Invasoren sind im Irak nicht wie damals in Vietnam militärisch besiegt worden. Doch sie verlassen das Zweistromland in dem Bewußtsein, daß sie es besser nie betreten hätten.

US-Präsident Barack Obama verkündet die Einlösung eines seiner wichtigsten Wahlkampfversprechen. Er kann sich immerhin zugute halten, nie ein Befürworter des Irak-Krieges gewesen zu sein. Der Rückzug aus dem Zweistromland soll mit einem verstärkten militärischen Engagement in Afghanistan aufgewogen werden. Denn die Hauptfrontlinie in dem von den Bush-Leuten angezettelten »Krieg gegen den Terror« sieht die Obama-Administration am Hindukusch. Nach wie vor gilt: The war must go on.

Auch im Irak dürfte der Krieg noch nicht zu Ende sein. Nach dem 31. August, dem offiziellen Ende der Mission »Iraqi Freedom«, sollen 50000 US-Soldaten im Land bleiben: In beratender und unterstützender Funktion, wie es heißt. Dazu kommen noch Zehntausende von privaten Security-Unternehmen angeheuerte Söldner. Im wesentlichen aber wird der Krieg »irakisiert«, das heißt als Krieg Iraker gegen Iraker weitergeführt werden. Dabei dürften sich nicht nur Befürworter und Gegner der Besatzung gegenüberstehen. Die Konflikte zwischen den Konfessionen könnten sich zum offenen Bürgerkrieg ausweiten, und auch die Spannungen zwischen der arabischen Mehrheit und der kurdischen Minderheit dürften an Intensität noch zunehmen. Das monatelange Tauziehen um die Bildung einer Regierung zeigt die Zerrissenheit der irakischen Gesellschaft. Wenn der Machtkampf zwischen den mit den Besatzern kollaborierenden Kräften schon so heftig ausfällt – wie unversöhnlich muß dann erst der Gegensatz zwischen den pro- und den antiimperialistischen Kräften sein.

Die Aufspaltung der irakischen Gesellschaft lag durchaus im Kalkül der Besatzer. Als Ordnungsmacht aber sahen sie sich im Kampf jeder gegen jeden hoffnungslos überfordert. Erst mit ihrem Strategiewechsel gelang es den Amerikanern, den sunnitischen Widerstand weitgehend ruhigzustellen. Da dies auf Kosten der Schiiten geschah, sind die künftigen Konfliktlinien vorgezeichnet. Den Terror, den die Interventen zu bekämpfen vorgaben, haben sie erst ins Land geholt. Die irakischen Massenvernichtungswaffen, die vernichtet werden sollten, wurden nie gefunden. Und auch das wirkliche Ziel der Aggression, die dauerhafte Installierung eines Regimes, das den US-Interessen verpflichtet und gleichzeitig stabil ist, wurde souverän verfehlt. Grund genug, erhobenen Hauptes davonzuschleichen.

*** Aus: junge Welt, 20. August 2010


Irak-Abzug mit TV-Begleitung

Von Rüdiger Göbel ****

Sie gehen aus dem Irak, wie sie gekommen sind: Im Schutz der Dunkelheit und begleitet von einem Troß Journalisten hat die US-Armee mehr als sieben Jahre nach der Invasion mit großem Pomp am Donnerstag ihre letzte Kampfbrigade aus dem Zweistromland abgezogen. Die letzten Soldaten der 4. Stryker-Brigade der 2. Infanteriedivision haben gegen sechs Uhr Ortszeit den Irak gen Kuwait verlassen, gab die Agentur AFP Oberstleutnant Eric Bloom wieder. Der Sprecher des US-Außenministeriums, Philip Crowley, sprach im US-Fernsehsender MSNBC von einem »historischen Moment«.

Der Abzug ist nicht zuletzt dem Krieg in Afghanistan geschuldet. US-Präsident Barack Obama hat die Zahl der Truppen dort in den vergangenen Monaten drastisch erhöht. Bis 1. September sollen nach US-Armeeangaben noch 6000 Soldaten aus dem Irak abkommandiert werden. 50000 GIs bleiben allerdings weiterhin im Land. Nach dem Abzug aller Kampftruppen geben die Besatzer ihrem Einsatz einen neuen Namen: Statt »Operation Irakische Freiheit« wird sie dann »Operation Neue Morgendämmerung« heißen.

Um den Abzug der US-Soldaten auszugleichen, wird das US-Außenministerium die Zahl der im Irak angeheuerten Söldner einem Medienbericht zufolge auf 7000 verdoppeln. Die New York Times berichtete, die Angestellten der »Sicherheitsfirmen« sollten unter anderem Radaranlagen bedienen und vor feindlichen Angriffen warnen, nach am Straßenrand versteckten Sprengsätzen suchen und Überwachungsdrohnen steuern.

Der Einmarsch der US-geführten Interventionstruppen im März 2003 war international auf große Ablehnung gestoßen. Millionen Menschen protestierten international gegen den völkerrechtswidrigen Aggressionsakt. Hundertausende Iraker starben infolge von Krieg und Terror im Land. Bis heute liegt die Infrastruktur des Landes am Boden. Die USA beklagen ihrerseits 4400 getötete Soldaten und Zehntausende Kriegsversehrte.

**** Aus: junge Welt, 20. August 2010


Hoffnung auf ein libanesisches Modell

Haupthindernis ist die politische Pattsituation

Von Karin Leukefeld *****


Die US-Besatzer ziehen ab. Das begrüßt die Mehrheit der Iraker. Gemischte Gefühle haben trotzdem sehr viele von ihnen.

»13 Stunden ohne Strom und dann dieser Anschlag mit den vielen Toten.« Salim al-Jabouri* hört der Frage kaum zu, was er über den Abzug der US-Truppen aus Irak zu sagen habe. »Warum lässt die Regierung die Rekruten vor dem Gebäude stehen, sie weiß doch, wie gefährlich das für sie ist. Man hat fast den Eindruck, sie macht das absichtlich!«

Als Mitglied im Menschenrechtsrat setzt Jabouri sich für Gefangene ein und für Familien, die Angehörige oder Eigentum bei Polizei- und Militärrazzien verloren haben. »Hier herrscht das blanke Chaos, und die Amerikaner legen die Hände in den Schoß«, merkt der Mann zynisch an.

Der Rückzug der US-Kampftruppen aus Irak wird von den Irakern mit gemischten Gefühlen begleitet. Während die einen froh sind, dass die Besatzungstruppen nach mehr als sieben Jahren das Land endlich verlassen, befürchten andere, dass nun der Einfluss der Nachbarn zunimmt. Andere Staaten »spielen heute die Hauptrolle in Irak«, sagt Mohamed Taufiq, Sprecher der oppositionellen kurdischen Goran-Bewegung in Sulaimaniya. »Mit Sicherheit tun die schiitischen Parteien nichts ohne die Zustimmung aus Iran. Die sunnitischen Politiker wiederum haben enge Beziehungen zu Saudi-Arabien, der Türkei und Jordanien.«

Überall ist die Sorge vor neuen Anschlägen groß, doch glaubt kaum jemand an die Urheberschaft einer irakischen Qaida, wie es Regierung und Armee behaupten. Vielmehr werden ausländische Geheimdienste hinter der Gewalt vermutet.

Als »Lösung« der politischen Pattsituation wird inzwischen ein »libanesisches Modell« gehandelt, sagt Taufiq: »Die Schiiten wollen den Posten des Ministerpräsidenten, die Sunniten sollen den des Parlamentssprechers bekommen, und die Kurden wollen den Präsidenten stellen.« Taufiq kritisiert das Vorhaben, weil politische Ziele dabei keine Rolle mehr spielten.

Die Befürworter meinen allerdings, dass Irak eine Übereinkunft braucht wie das Taif-Abkommen, welches die Grundlagen für eine Befriedung Libanons schuf. Damals versammelte sich das libanesische Parlament an einem neutralen Ort, nämlich in der Stadt Taif in Saudi-Arabien, und legte in langen Verhandlungen die Rolle von Parlamentssprecher und Präsident fest sowie eine Neuordnung des konfessionellen politischen Systems. Ein Taif-Abkommen für Irak sei ein Vorschlag aus der Türkei, berichtete die Zeitung »Al Sharq al Awsat«. Damit könnten der Einfluss aus Iran und den USA eingedämmt und die arabischen Nachbarn ins Spiel gebracht werden.

* Name auf Wunsch geändert

***** Aus: Neues Deutschland, 20. August 2010


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