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In reduzierter Form

Der US-Truppenrückzug aus dem Irak bedeutet lediglich ein Schrumpfen der Besatzung. Stationierung bleibt langfristiges Ziel

Von Joachim Guilliard *

Kurz vor Weihnachten verließen die offiziell letzten US-Truppen den Irak. In einer Ansprache in Fort Bragg erklärte US-Präsident Barack Obama den Krieg gegen das Land für siegreich beendet. Die USA würden es in einem besseren Zustand verlassen, als sie es vorgefunden hätten, meinte der rhetorisch begabte Schwindler. Er lobte die »feinsten Streitkräfte der Weltgeschichte« dafür, daß alles, was sie im Irak taten, »all das Kämpfen, all das Sterben, das Bluten« zu diesem »Moment des Erfolgs« geführt habe. Das Land sei noch kein perfekter Ort, so der einstige Gegner des aus seiner Sicht »dummen Krieges«, »aber wir lassen einen souveränen, stabilen und selbständigen Irak zurück, mit einer repräsentativen Regierung.«

Nichts davon entspricht der Wahrheit. Von einem stabilen, souveränen Irak kann keine Rede sein, sowenig wie von einer repräsentativen Regierung. Die Lebensbedingungen in dem zerstörten und zerrissenen Land sind katastrophal. Der Krieg ist, wie die Anschlagsserien der letzten Wochen in Erinnerung riefen, längst nicht zu Ende, und auch die Besatzung wird in reduzierter Form fortdauern.

Keine Straflosigkeit

Es ist auch alles andere als ein Sieg. Obama versucht, den vollständigen Rückzug als Einlösung eines Wahlversprechens zu verkaufen und verschweigt, daß seine Leute das ganze Jahr über im Irak alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, um weiterhin größere Truppenkontingente im Land belassen zu können. Ungeachtet des Abzugstermins, den sein Vorgänger George W. Bush in einem Stationierungsabkommen vereinbart hatte, hatte die Militärführung für das ganze Jahrzehnt eine Truppenstärke von 30000 bis 35000 Soldaten fest eingeplant. Am Ende konnte sie jedoch nicht einmal 3000 durchsetzen. Die Verhandlungen scheiterten schon an der Frage der weiteren Immunität für die US-Truppen. Für das US-Militär zählt sie zu den Grundprinzipien ihrer Einsätze. Keine der Parteien im irakischen Parlament, nicht einmal die kurdischen, trauten sich angesichts der Stimmung in der Bevölkerung, auch künftig Straflosigkeit zu garantieren – im Unterschied zu Obama haben die Iraker die Verbrechen der Besatzer nicht vergessen.

Sowohl der irakische Präsident, der Kurde Dschalal Talabani als auch der Ministerpräsident Nuri Al-Maliki blieben der offiziellen Abschiedszeremonie der US-Armee in Bagdad fern. Die zwei leeren Stühle und das Fehlen jeglichen diplomatischen Dankes für die »Operation irakische Freiheit« von seiten irakischer Repräsentanten erinnerte die US-Führung einmal mehr daran, wie wenig sie in neun Jahren Krieg erreicht hat.

Der Einfluß auf die an die Macht gebrachten Kräfte ist begrenzt. Von dem seit langem gehegten Plan, im Irak dauerhaft eine große, schnell einsetzbare Streitmacht als Kern US-amerikanischer Machtprojektion in der Region zu stationieren, blieb so wenig übrig wie von den ehrgeizigen Vorhaben bezüglich der Kontrolle und Privatisierung der irakischen Ölproduktion.

Der erzwungene Rückzug wird in den USA parteiübergreifend als gravierende Niederlage begriffen. Viele befürchten, daß sich das etablierte Regime ohne die US-Truppen nicht lange halten wird. Schwerer wiegt noch der Ärger darüber, daß der Abzug eine weitere Stärkung der Position des Irans bedeutet, sowohl im Irak als auch in der Region. Obama geriet daher unter heftigen verbalen Beschuß. Die republikanischen Scharfmacher und neokonservativen Wortführer werfen dem Präsidenten vor, bei den Verhandlungen mit Bagdad zu wenig Druck ausgeübt und das Abkommen nicht einfach am irakischen Parlament vorbei durchgedrückt zu haben.

Das Gros der Experten gesteht Obama jedoch zu, daß er kaum eine andere Chance hatte. Die meisten Iraker wünschen die US-Amerikaner schon lange zum Teufel, waren aber, da sie die Kämpfe und Gewalt gründlich satt haben, bereit, bis zum zugesagten Abzug abzuwarten. Ein weiterer Verbleib, gar unter Mißachtung des Parlaments, hätte zum offenen Aufruhr und einem Aufleben des bewaffneten Widerstands geführt.

Zivile Besatzung

Ungeachtet dessen geht die Suche nach Modalitäten für eine langfristige Stationierung von US-Truppen weiter. Der wichtigste Ansatzpunkt ist ein zweites, langfristiges Abkommen, das die Bush-Administration parallel zum Stationierungsvertrag mit der Maliki-Regierung abschloß, das »Strategische Rahmenabkommen«. Es enthält viele allgemeine Vereinbarungen über eine künftige militärische Zusammenarbeit. Wenn es mit Leben erfüllt werden soll, komme die irakische Führung gar nicht um die Einladung ans US-Militär herum, so die Hoffnung in Washington. Insbesondere, da die Armee in absehbarer Zeit über so gut wie keine Kapazitäten zur Verteidigung des irakischen Luftraums und der Grenzen verfügen wird.

Bis dahin bemühen sich die USA, mittels eines Heeres von zivilen Besatzungskräften ihren bestimmenden Einfluß im Irak zu wahren. Daneben müssen sie sich auf den Premier Maliki stützen, der im Laufe der Besatzung zum neuen starken Mann aufgebaut wurde. Mit US-Hilfe besetzte er nach und nach die Schlüsselstellen in Regierung, Verwaltung, Polizei, Geheimdiensten und Militär mit seinen Leuten und übernahm selbst die Ministerien für Militär, Inneres und Nationale Sicherheit. Obwohl abhängig von den USA, ist er kein Vasall. Sondern er schuf sich durch die gleichfalls enge Zusammenarbeit mit dem Iran erhebliche Freiräume, z.B. zum Ausschalten politischer Gegner – wie aktuell der sunnitischen Vizepräsidenten Tarik Al-Haschimi –, die Washington und Saudi-Arabien als Gegengewicht gegen ihn protegieren.

In den knapp neun Jahren haben die Besatzer eine stattliche Zahl von Armee- und Polizeiverbänden aufgebaut – insgesamt 800000 Mann. Verläßlich aus ihrer Sicht sind zwar nur die eng mit den eigenen Spezialkräften verbundenen Sondereinheiten. Dennoch hofft man in Washington, daß Maliki damit militärisch stark genug ist, sich auch mit der reduzierten US-Unterstützung an der Macht zu halten. Wie realistisch dies ist, wird sich zeigen.

* Aus: junge Welt, 30. Dezember 2011


Iraks Zukunft: Zivile Okkupanten **

So oder so werde es auch weiterhin eine militärische Präsenz geben, beruhigten Pentagon-Chef Leon Panetta und Generalstabschef Martin Dempsey den Streitkräfteausschuß des US-Senats. Das »Büro für Sicherheitszusammenarbeit«, das der US-Botschaft in Bagdad untersteht, wird auch zukünftig einige hundert Militärs im Einsatz haben. Sie werden von der Botschaft und von zehn Militärstützpunkten aus arbeiten, nicht nur als Ausbilder, sondern auch als Instrukteure auf »institutioneller Ebene«, d.h. in Armeestäben und Polizeihauptquartieren.

Schrittweise wurden in den letzten Jahren Besatzungsaufgaben vom US-Oberkommando im Irak an die Botschaft übertragen, der nun über 16000 Leute unterstehen. Einen guten Teil davon wird, wie Panetta vor dem Senat andeutete, die CIA stellen. Neben dem riesigen, mehrere Quadratkilometer großen, Botschaftskomplex wurden auch noch vier Außenstellen in Basra, Erbil, Mosul und Kirkuk festungsartig zu Trutzburgen im Feindesland ausgebaut.

Die Zahl der bewaffneten US-Söldner, die der Botschaft unterstehen, stieg bereits auf mindestens 5500 und wird wohl noch anwachsen. Zu ihrer Ausrüstung wurden u.a. fünfzig gepanzerte Militärfahrzeuge und 24 »Blackhawk«-Kampfhubschrauber angeschafft.

Zu den militärischen Funktionen, die nun »zivile« Besatzungskräfte übernehmen, zählt neben Einsätzen zur Rettung angegriffener Mitarbeiter oder der Sicherung von Konvois auch der Betrieb eines »taktischen Operationszentrums«, das bewaffnete Eingreiftruppen steuern soll. Dazu dürften auch die US-amerikanischen Spezialeinheiten zählen. Mit Sicherheit wird ein Teil der bisher eingesetzten 5000 Elitesoldaten auch weiterhin verdeckte Operationen im Land durchführen, insbesondere die gezielte »Ausschaltung« von Gegnern. ­Parallel dazu wird wie bisher eine Flotte von Drohnen eingesetzt, die nun u.a. von der Incirlik Air Base in der Türkei starten. Der irakische Luftraum wird ohnehin auf absehbare Zeit unter Kontrolle der US-Luftwaffe bleiben. (jg)

** Aus: junge Welt, 30. Dezember 2011


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