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Irakkrieg: Helden oder Schurken?

Dürfen Geheimdienstmitarbeiter illegale Abhörpraktiken ausplaudern? Ein Bericht von "Monitor" und andere Enthüllungen

Vor genau einem Jahr versuchten die USA und Großbritannien ein Mandat für den von ihnen geplanten Irak-Krieg zu bekommen. Dabei waren ihnen keine Lügen, Fälschungen und Drohmittel zu schaden. Mittlerweile sind auch illegale Abhöraktionen in der UNO-Residenz in New York ans Licht kommen. Einige Geheimdienst-Mitarbeiter hatten den Mut, schon früh Beweise für diese Machenschaften ihrer eigenen Regierungen vorzulegen. Sie zahlten dafür persönlich einen hohen Preis. Sie wurden angeklagt, öffentlich diskreditiert, ihre Familien wurden "fertiggemacht". Viel geändert hat ihr Mut bislang nicht. Denn die Völkerrechtsbrüche und das illegale Abhören im Auftrag der Regierungen Bush und Blair bleiben ungesühnt. Die UNO hat zwar Gesetze, doch gegen die Veto-Mächte durchsetzen kann sie sie nicht.

Das Fernsehmagazin "Monitor" berichtete am 4. März 2004 über die Machenschaften der Geheimdienste und den Mut der wenigen, die sich als "whistleblower" betätigten und über ihre Kenntnisse die Öffentlichkeit informierten. "Helden und Schurken - Wer büßt für die Irak-Abhöraffaire", heißt der Bericht, den John Goetz, Frank Konopatzki und Monika Wagener für das WDR-Magazin gemacht haben, und aus dem wir auf dieser Seite Auszüge zitieren.

Zu dem Bericht passt eine Meldung, die ebenfalls am 4. März von einigen Agenturen verbreitet und am Tag darauf ihren Niederschlag in der Presse fand. Es geht um die fragwürdige (Des-)Informationspolitik der US-Behörden in Bezug auf die Zahl der im Irakkrieg verwundeten US-Soldaten. Wir zitieren aus einem Artikel:


Offenbar verschweigt die US-Regierung systematisch die Anzahl ihrer in Irak verwundeten Soldaten. Zu dieser Erkenntnis kommt ein Team des britischen Fernsehsenders Channel 4. Bereits vergangenen September berichtete das US-Militärspital im deutschen Landstuhl, schon 6.000 aus der Golfregion ausgeflogene verletzte US-Soldaten versorgt zu haben. In den USA werden die Verletzten zumeist auf die Andrews-Air-Force-Base bei Washington gebracht. Dort hat man in den vergangenen neun Monaten 11.000 Soldaten versorgt – die meisten aus Irak.
Offiziell jedoch hat es laut Pentagon-Angaben in Irak bislang nur 3.150 Verwundete gegeben, 2.731 von ihnen seien im Kampf verletzt worden, 419 ohne Einwirkung des Feindes. Soldaten mit psychischen Krankheiten und Stresssymptomen werden nicht mitgezählt. Ebenso sind jene Soldaten nicht eingerechnet, die ins Feuer der eigenen Truppen geraten sind. Die Bush-Regierung, so die Schlussfolgerung des TV-Teams, hält also nicht nur am Verbot von Foto- und Filmaufnahmen rückkehrender toter US-Soldaten fest, sondern "frisiert" auch Opferzahlen. Offenbar fürchtet man ein neues "Vietnamsyndrom". Das würde den Wahlkampf des Vietnam-Veteranen und späteren Vietnamkrieg-Gegners John Kerry, der für die Demokraten gegen Bush antritt, verbessern. In Vietnam waren rund 58.000 US-Soldaten gefallen. In Irak sind nach offiziellen Angaben bislang fast 600 Angehörigen der US-Armee umgekommen.

Aus: Neues Deutschland, 5. März 2004

Helden und Schurken - Wer büßt für die Irak-Abhöraffaire

Bericht: John Goetz, Frank Konopatzki, Monika Wagener
Datum: 04.03.2004

A u s z ü g e aus der Monitor-Sendung (ARD 4. März 2004)

Sonia Mikich: "Vor gut einem Jahr entschieden sich die US-amerikanische und britische Regierung, in den Krieg gegen den Irak zu ziehen – gegen die Mehrheit im UNSicherheitsrat. In der Kriegskoalition waren nicht alle einverstanden mit der Verletzung des Völkerrechts und der Missachtung der UNO. Vereinzelt meldeten sich Geheimdienstmitarbeiter und machten Lügen, illegale Aktionen und Manipulationen ihrer Chefs öffentlich.
Im Englischen heißen solche Informanten 'whistle blower'. Sie brechen Geheimhaltungs- Regeln ihrer Behörden oder Institutionen, um der Öffentlichkeit Machenschaften mitzuteilen, die sonst verheimlicht würden. Gedankt wurde ihnen diese Zivilcourage nicht, und das ist ungerecht. Dazu Monika Wagener, John Goetz und Frank Konopatzki."


Das ist die Geschichte von dem Australier Andrew Wilkie, der Engländerin Katharine Gun und dem Amerikaner Joe Wilson. Drei Geheimdienstmitarbeiter, für die einen sind sie Helden, für die anderen sind sie Verräter.

Die mexikanische Botschaft in New York. Hier findet im März 2003 ein streng geheimes Gespräch statt. Sechs UNO-Botschafter versuchen in diesem Sitzungssaal, den Irak-Krieg in letzter Minute noch abzuwenden. Bis tief in die Nacht ringen sie um einen streng geheimen Kompromissvorschlag, mit dem sie die UNO überraschen wollen. Doch schon nach wenigen Stunden klingelt das Telefon.

Adolfo Aguilar Zinser, UN-Botschafter a.D., Mexiko: "Am nächsten Morgen bekamen mehrere von uns Telefonanrufe von der US-Botschaft, die uns wissen ließ: Diesen Kompromissvorschlag braucht ihr gar nicht erst einzubringen. Wir sind nicht daran interessiert. Und das war nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, dass die amerikanischen und die englischen Botschaften Vorab-Informationen hatten über diplomatische Initiativen, die andere Länder in der UNO machten."

Die Mexikaner sind sich sicher: Ihre UNO-Vertretung wird abgehört. Wenige Tage später können sie dies auch in der Zeitung lesen, denn diese Frau hatte es öffentlich gemacht: Katharine Gun, Übersetzerin beim britischen Geheimdienst. Sie konnte es mit ihrem Gewissen nicht mehr vereinbaren. Dem "Observer" übergab sie deshalb eine E-Mail, in der der US-Geheimdienst um Hilfe beim Ausspionieren anderer UNO-Länder bat.

Katharine Gun, ehem. Geheimdienstmitarbeiterin: "Ich war wütend, als ich diese Mail bekommen hatte, weil ich dachte: Das darf doch nicht sein! Ich war schockiert, und ich musste erstmal ein, zwei Tage darüber nachdenken. Und dann habe ich mich entschieden: Es gibt keine Alternative. Ich muss diese Mail öffentlich machen."
(...)
Die Übersetzerin wurde verhaftet und vom Geheimdienst inhaftiert. Ein Jahr ist das jetzt her, und letzte Woche wurde die Anklage gegen Katharine Gun in London fallen gelassen, auf öffentlichen Druck. Bis dahin hatte die 29-Jährige in ständiger Angst gelebt, bedroht von zwei Jahren Haft, weil sie solche Machenschaften nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte.
(...)

(...) Den UNO-Generalsekretär hörten sie offenbar ebenso ab, wie den UNO-Waffeninspekteur Hans Blix, dessen Vorgänger Robert Butler oder die damalige UNO-Menschenrechtsbeauftragte Mary Robinson. Ein Verhalten, das auch in Deutschland viele erschüttert.

Willy Wimmer, CDU, Auswärtiger Ausschuss: "Man muss ja sagen, dass Kofi Annan und die anderen so abgehört worden sind wie die Feinde, die man möglicherweise vor die eigene Flinte bekommen will. Und die Art und Weise verstößt gegen jede vertrauensvolle Zusammenarbeit, und darauf sind die Vereinten Nationen, ist der Weltfrieden angewiesen, und deswegen kann ich aus meiner Sicht nur darauf aufmerksam machen: Man sollte hier ein Ende der eigenen Machtvollkommenheit setzen, weil sonst die Welt einen schwierigen Weg gehen wird."

Der jetzt bekannte Abhörskandal ist nur die Spitze des Eisberges. (...)

Beispiel USA: Hier konnte der langjährige Mitarbeiter des State Departments Joe Wilson die falschen Behauptungen seiner Regierung nicht länger ertragen. Er ging an die Öffentlichkeit, als die Bush-Regierung vor dem Krieg immer wieder behauptete, Irak habe im afrikanischen Niger Uran kaufen wollen. In einem Artikel enthüllte er, dass es diesen angeblichen Irak- Niger-Uranhandel nie gab, und dass die britische und die US-Regierung dies auch wissen. Denn Wilson selbst war im Auftrag des CIA nach Niger gereist und fand heraus, dass die Vorwürfe falsch sind. Umso überraschter war er, dass sein Präsident diese Behauptung unbeirrt als Kriegsgrund nannte.

George W. Bush, US-Präsident: "Die britische Regierung hat Erkenntnisse, dass Saddam Hussein große Mengen Uran in Afrika erwerben wollte."

Joseph C. Wilson, ehem. State Department: "Wenn die Regierung lügt, muss die Regierung korrigiert werden, das war für mich klar. Doch über die Frage, ob ich einen Artikel dazu schreiben soll und meinen Namen darüber setzen soll, darüber musste ich erst nachdenken. Ich hatte kein Interesse daran, eine öffentliche Figur in dieser Angelegenheit zu werden. Aber nachdem deutlich wurde, dass die Regierung ihre Behauptung nicht zurücknimmt, obwohl sie mehrfach danach gefragt wurde, war klar: Wenn ich nicht an die Öffentlichkeit gehe, werden sie einfach weiter lügen."
(...)
Joseph C. Wilson: "Meine Frau musste dafür bezahlen und auch meine Familie. Jemand, der dem Präsidenten sehr nahe steht, hielt die Durchsetzung seiner politischen Ziele für wichtiger als die nationale Sicherheit. Er hat den Namen meiner Frau öffentlich gemacht und ihre Tätigkeit als verdeckte CIA-Agentin."
Eine Undercover-Agentin wie Wilsons Frau zu enttarnen, das kann für die Betroffene lebensbedrohlich sein. (...)

Beispiel Australien: Auch Andrew Wilkie war ein altgedienter Geheimdienstoffizier, als er die falschen Behauptungen seiner Regierung zum Irak-Krieg nicht mehr länger mit seinem Gewissen vereinbaren konnte. Er enthüllte gefälschte Geheimdienst-Beweise und warnte vergeblich vor einer militärischen Beteiligung Australiens. Auch er musste dafür bitter bezahlen.

Andrew Wilkie, Geheimdienstoffizier a.D.: "Die australische Regierung nahm die Tatsache, dass meine Frau und ich getrennt lebten, zum Anlass, um starken Druck auf mich auszuüben. Sie machten mich öffentlich in den Medien fertig. Sie sagten, aufgrund meiner familiären Probleme wäre ich durchgedreht. Ich sei ein bisschen geistesgestört und man solle nur nicht auf mich hören."

Heute ist klar: Wilkie hatte Recht. Bis heute konnten keinerlei Massenvernichtungswaffen im Irak gefunden werden. (...)

Bush und Blair .. haben für Kriegslügen und illegale Aktionen wenig zu befürchten. Das Völkerrecht kennt zwar Verbote, doch im Sicherheitsrat haben beide Länder ein Veto- Recht.

Willi Wimmer, CDU, Auswärtiger Ausschuss: "Also, ich glaube schon, dass wir eine Schieflage in unserem eigenen Rechtsverhältnis und Rechtsverständnis bekommen haben. Wir haben hier massive Verstöße gegen das Völkerrecht, auch gegen das nationale Recht, festzustellen, und ich glaube, dass es dann verdammte Bürgerpflicht ist, darauf aufmerksam zu machen, was hier läuft. Dass wir im Westen diesen Weg mal gehen würden, hab ich eigentlich nicht für möglich gehalten."
(...)
Quelle: www.wdr.de/tv/monitor/


Katherine Gun und die Stimmung in Großbritannien

Auch die Wochenzeitung "Freitag" befasste sich in ihrer Ausgabe vom 5. März 2004 mit dem Abhör- und Geheimdienstskandal. Thomas Kachel ging in seinem Beitrag "Short & Gun" der Frage nach, ob Tony Blair mit seinen Lügengeschichten und der Geheimdienstaffäre nicht am stärksten dazu beigetragen hat, dass eine Mehrheit im traditionalistischen Großbritannien nicht nur gegen Blair eingestellt ist sondern auch die Institutionen des Staates anzuzweifeln beginnt. Aus dem Artikel ein kurzer Auszug:

Katherine Guns Habitus ist ganz der einer durchschnittlichen englischen Mittelklassefrau: Public School erzogen, vornehmer Akzent, noch nicht einmal sehr politisch. Sehr sicher, very british. Früher - noch unter Margret Thatcher - wäre Gun als Verräterin durch die Boulevardpresse geschleift und auf offener Straße angepöbelt worden. Und heute? Natürlich sind die konservativen, staatstragenden Blätter besorgt um die "nationale Sicherheit": Was würde geschehen, wenn alle so handelten? Und doch befällt sie eine merkwürdige Beißhemmung dieser mutigen und so provozierend normalen Übersetzerin gegenüber. Die BBC feiert die Gesetzesbrecherin gar. Und das im Institutionen verhafteten Vereinigten Königreich?
(...)
Der Abscheu gegenüber Blairs Manipulationen vereint die Mitte der Gesellschaft mit der traditionellen Skepsis gegenüber einem zu mächtigen Staat: Kann man einen solchen Regierungschef, dem es immer unverhüllter um eigenen Machterhalt geht, noch kontrollieren? - fragen inzwischen selbst Kolumnisten konservativer Blätter, auch wenn sie Blair in der Irak-Frage weiter beistehen.

Das mutige Missachten offizieller Verbotsschilder durch Katherine Gun und Claire Short wirkt in dieser Situation wie ein Katalysator. Bei vielen Briten reift die Erkenntnis, nicht nur das Geheimdienstgesetz, das die beiden Frauen brachen, auch die Institutionen des Staates - von den Geheimdiensten über die Lordrichter bis zu den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen - werden von Tony Blair missbraucht, um Verstöße seiner Regierung gegen Recht und Gesetz zu deckeln. Die Rebellion von Short und Gun gilt nicht als Tabubruch, sie gewinnt an Zuspruch.

Aus: Thomas Kachel, Short & Gun. In: Freitag 11, 5. März 2004




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