6 Jahre nach der US-Invasion im Irak: Eine düstere Bilanz
Neue Hoffnung im Zweistromland? - Lackmustest für Obama. Verschiedene Beiträge
Anlässlich des 6. Jahrestags des US-Angriffs auf Irak dokumentieren wir verschiedene Beiträge aus Tageszeitungen.
Die Kriegsfolgen sind überall zu spüren
Schwierige Suche nach neuer Hoffnung im Zweistromland
Von Karin Leukefeld *
Die irakischen Massenvernichtungswaffen gab es nicht, die angebliche Verbindung zwischen
Saddam Hussein und Al Qaida war eine Geheimdiensterfindung und »Demokratie und Wohlstand«
für die Iraker, wie sie USA-Präsident George W. Bush 2003 versprochen hatte, blieben ein Hohn.
Wie viele Menschen tatsächlich seit Beginn des Krieges 2003 getötet wurden, ist nicht bekannt. Die
Zahlen variieren zwischen 100 000 und einer Million.
Sechs Jahre nach der von den USA angeführten Invasion in Irak ziehen Menschenrechts- und
Hilfsorganisationen eine düstere Bilanz. Hohe Kindersterblichkeit, Unterernährung, Armut und
Umweltzerstörung werden genannt, ein zerstörtes soziales Gefüge in den Städten, Ermordung und
Flucht der wissenschaftlichen und intellektuellen Elite, zwei Millionen Inlandsvertriebene, 2,5
Millionen Flüchtlinge in den Nachbarstaaten, Korruption, stagnierender Wiederaufbau, mangelhafte
Versorgung mit Strom, sauberem Wasser und medizinischer Hilfe, explodierende Preise und
anhaltende Gewalt – Irak kommt nicht zur Ruhe.
Nach Angaben der Organisation Reporter ohne Grenzen wurden seit März 2003 225 Journalisten
und Medienmitarbeiter getötet, über vier Mal so viel wie in 20 Jahren Vietnamkrieg. Gleichwohl sind
nach der Invasion viele neue Medien in Irak entstanden. Etwa 200 Zeitungen und Zeitschriften, 60
Radio- und 30 Fernsehstationen in arabisch, turkmenisch, assyrisch und zwei kurdischen Dialekten
gibt es. Doch ist die Mehrheit von Kirchen, Moscheen, Parteien oder ausländischen Geldgebern
abhängig, was ihre Berichterstattung erheblich beeinflusst.
Besondere Verlierer der letzten sechs Jahre sind nach Ansicht der Hilfsorganisation Oxfam die
Frauen. Eine Umfrage, die mit der irakischen Hilfsorganisation Al Amel durchgeführt wurde, kam zu
dem Schluss, dass es ihnen wirtschaftlich immer schlechter geht und ihre Bewegungsfreiheit
aufgrund von Gewalt und gesellschaftlicher Stigmatisierung zunehmend eingeschränkt ist.
Besonders schwer ist es demnach für Witwen, von denen es inoffiziellen Schätzungen zufolge rund
740 000 gibt. Etwa 76 Prozent der befragten Witwen erhielten nicht einmal die ihnen zustehende
staatliche Unterstützung von umgerechnet 0,75 Euro pro Tag. Diese Situation sei weitgehend
ignoriert worden, kritisieren Oxfam und Al Amel, die Medien hätten über den »entsetzlichen Zustand
des Alltags der Zivilbevölkerung« kaum berichtet.
Ȇberdeckt von den Schlagzeilen, sind Versorgungseinrichtungen kollabiert, Familien wurden
auseinandergerissen und insbesondere Frauen wurden zu Opfern der Folgen des Krieges«, besagt
die Analyse. Das besondere Elend, mit dem gerade die Schwächsten der Gesellschaft täglich zu
kämpfen hätten, bleibe ungehört, Wegen »unzulänglicher Möglichkeiten und eingeschränkter
Befugnisse« trat Anfang Februar Frauenministerin Nawal al-Samaraie von ihrem Posten zurück. Ihr
Rücktritt sei eine Warnung an die Regierung, sagte die energische junge Frau im Gespräch mit dem
UN-Informationsnetzwerk (IRIN). Sie protestiere damit »gegen die Unfähigkeit der Regierung, sich
den Nöten von Frauen anzunehmen«.
Regierungschef Nuri al-Maliki betont derweil lieber Fortschritte, die das Land angeblich mache. Die
Provinzwahlen Ende Januar galten als großer Erfolg, auch wenn mit nur knapp 50 Prozent die
Wahlbeteiligung niedriger ausfiel als erwartet. Die Regierung pflegt gute Kontakte zu den
Nachbarstaaten, mit der Türkei und Iran gibt es auch Abkommen im militärischen und
Sicherheitsbereich. Bei internationalen Treffen verhandeln irakische Regierungsvertreter auf
Augenhöhe und werden nicht müde, um Investitionen zu werben und ausländischen Firmen gute
Gewinne zu versprechen. Ungehört blieb allerdings bisher ihr Ruf nach Streichung von Altschulden.
Das internationale Netzwerk Jubilee Iraq (»Das irakische Volk sollte nicht die Rechnungen von
Saddam bezahlen.«) gibt diese Restschulden des Landes mit 7,8 Milliarden US-Dollar (ca. 5,8
Milliarden Euro) an.
Betont wird gern auch der Versöhnungsprozess, dem die Regierung hohe Priorität einräume.
Gerade hat die Bundesregierung der UN-Unterstützungsmission für Irak (UNAMI) drei Millionen Euro
zur Verfügung gestellt, um die Versöhnung zwischen ethnischen und religiösen Gruppen zu fördern.
Ein Projektgebiet ist das umstrittene Kirkuk, das Kurden wie Turkmenen und Araber für sich
beanspruchen. Letztere, aber auch Assyrer, werfen kurdischen Milizen und Polizeitruppen vor, die
Bevölkerung mit Drohungen und Anschlägen zur Flucht zwingen zu wollen. Hintergrund ist ein
geplantes Referendum über die Zukunft Kirkuks, durch das die kurdische Regionalregierung das
erdölreiche Gebiet in die autonomen Kurdenprovinzen eingliedern will. Mit den Stimmen der Kurden
und vermutlich auch der Jeziden könnte das gelingen.
Nuri al-Maliki will Kirkuk hingegen in einem irakischen Gesamtstaat behalten, wobei er von einer
Mehrheit der Iraker (70 Prozent laut einer BBC-Umfrage) unterstützt wird. Sein Gegenspieler in
Sachen Kirkuk, der irakische Präsident und Kurdenführer Dschalal Talabani, erklärte kürzlich seinen
Rückzug aus der aktiven Politik, wodurch die Eingliederung Kirkuks in die kurdischen Gebiete einen
wichtigen Fürsprecher verliert. Vordergründig nannte Talabani gesundheitliche Gründe für seinen
Abschied, doch dürfte auch der Abzug der USA-Truppen, die bisher für die Sicherheit Talabanis und
der irakischen Regierung garantierten, eine Rolle spielen.
Auf dem Rückzug befindet sich auch der Oberste Islamische Rat in Irak (ISCI) um den Geistlichen
Abdulaziz al Hakim. Bei den Provinzwahlen wurde er vor allem in den schiitischen Gebieten
Südiraks abgestraft und erhielt die deutliche Botschaft, dass ein islamischer Gottesstaat, wie im
Nachbarland Iran, für die irakischen Schiiten in ihrer Mehrheit inakzeptabel ist.
* Aus: Neues Deutschland, 20. März 2009
Zahlen und Fakten
Anfangs beteiligten sich rund 40 Staaten an der »Operation Iraqi Freedom«. Rund 300 000 Soldaten
waren in der Region stationiert. Größter Truppensteller sind die USA. Seit 2004 schrumpft die
»Koalition der Willigen«. Nachdem das UN-Mandat Ende 2008 ausgelaufen ist, müssen die
ausländischen Truppen das Land verlassen.
Die Zahl der getöteten irakischen Zivilisten liegt unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen
100 000 und einer Million. Außerdem starben rund 9000 irakische Soldaten und Polizisten. Die USA
verloren über 4000 Soldaten, die Briten rund 200, andere Partnerstaaten insgesamt etwa 150.
Die Gesamtausgaben für den Krieg sind nicht bekannt. Der USA-Kongress bezifferte die
amerikanischen Kosten für 2003 bis 2009 auf rund 660 Milliarden Dollar. Wirtschaftsnobelpreisträger
Joseph Stiglitz spricht sogar von einem Gesamtaufwand von drei Billionen Dollar. ND
Irakischer Lackmustest für Obama
Kritik an den Plänen zum Rückzug der US-amerikanischen Truppen
Von Olaf Standke **
Nach dem Überfall auf Irak drohten die USA in einer Woge des Patriotismus zu ertrinken. 73 Prozent
der Bevölkerung unterstützten damals den Waffengang von Bush. Sechs Jahre, zig tausend Tote
und hunderte Milliarden verpulverte Dollar später werden die Truppen vom neuen Präsidenten
Obama endlich nach Hause geholt – ohne Siegesfeiern und mit vielen Fragezeichen. Fast zwei
Drittel der US-Amerikaner sagen heute, dieser Krieg sei ein Desaster.
»Lassen Sie mich dies so klar sagen, wie es nur geht: Bis zum 31. August 2010 wird unser Kampfeinsatz
in Irak zu Ende sein.« Diesem Satz Barack Obamas, gesprochen auf dem Stützpunkt Camp
Lejeune in North Carolina, folgten Ende Februar langer Beifall unter den Marines, die der Rede ihres
Oberkommandierenden lauschten – und viele Fragen, auch und gerade aus der Demokratischen
Partei des Präsidenten. Der schnelle Rückzug der Truppen aus dem Zweistromland zählte zu den
wichtigsten Wahlkampfversprechen Obamas, der den Einmarsch der US-amerikanischen Armee von
Beginn an abgelehnt hatte. Derzeit sind noch über 140 000 US-Soldaten in Irak stationiert. 35 000
bis 50 000 von ihnen sollen als »Übergangskontingent« sogar bis Ende 2011 bleiben. Dieser
Schlusstermin für einen Abzug war noch unter Bush mit der Regierung in Bagdad in einem
bilateralen Stationierungsabkommen ausgehandelt worden.
Eine neue Phase des Irak-Einsatzes nennt Obama das: »Unsere Mission wird vom Kampf hin zur
Unterstützung der irakischen Regierung und der Streitkräfte übergehen.« So soll zum Beispiel schon
bis kommenden Monat die Kontrolle über die rund 100.000 gegen das Terrornetzwerk Al Qaida
kämpfenden Stammesmilizen an die irakische Armee abgegeben werden. Das verbleibende USKontingent,
so der Präsident, werde sich auf drei Aufgaben konzentrieren: Hilfe beim Aufbau der
neuen Armee Bagdads, »gezielte Anti-Terror-Missionen« und Schutz der »zivilen und militärischen
Anstrengungen« der USA in Irak. Alles ohne reguläre »Kampftruppen«? Und was wird aus den 50
Militärstützpunkten im Land oder aus den vielen im Auftrag Washingtons von Privatfirmen
rekrutierten Söldnern in Irak, von denen bisher gleich gar nicht die Rede war?
In den kommenden sechs Monaten will man die Verbände erst einmal um zwei Brigaden verringern.
Dabei werden 12 000 Soldaten von Einheiten der Luftwaffe und der Marine sowie
Versorgungspersonal abgezogen. Mehr dürfe man 2009 nicht erwarten, sagt Generalleutnant Lloyd
Austin, der zweite Mann in der US-amerikanischen Militärhierarchie vor Ort. Um die Ende des
Jahres erwarteten irakischen Parlamentswahlen abzusichern, sei wie bei den Kommunalwahlen im
Januar eine starke Streitmacht erforderlich.
Obamas Vorgehen ist nach den verheerenden Kriegsjahren unter Bush fraglos ein Schritt in die
richtige Richtung. Aber selbst in den eigenen Reihen stieß der Präsident mit seinen Planungen auch
auf Kritik. Nancy Pelosi etwa, die Präsidentin des Repräsentantenhauses, versteht die hohe Zahl der
nach August 2010 in Irak verbleibenden US-Soldaten nicht. Für viele Demokraten fühlen sich diese
Rückzugsvorstellungen fast schon wie eine Mogelpackung an. Zumal nachhaltigen
Wiederaufbauprogrammen und der Entwicklung der irakischen Zivilgesellschaft deutlich weniger
Aufmerksamkeit geschenkt wurde und wird als Fragen der militärischen Gewalt. Und sich der Abzug
als großer Umzug von Kampftruppen Richtung Hindukusch zum anderen Kriegserbe Bushs erweist.
Doch auch die »Lage in Irak ist bisher noch nicht gesichert, es stehen schwierige Zeiten bevor«, wie
Präsident Obama erklärte. »Gewalt wird weiterhin ein Teil des Lebens in Irak sein.« Das klingt, als
sei in Sachen Rückzug der US-amerikanischen Truppen das letzte Wort noch nicht gesprochen.
** Aus: Neues Deutschland, 20. März 2009
Hintergrund: Die Prozesse ***
Nach der Invasion 2003 übernahm Washington den Aufbau eines neuen Justizwesens in Irak, bis
heute sind Berater im Bagdader Justizministerium und ihm zugeordneten Einrichtungen tätig. Die
irakischen Gefängnisse sind völlig überbelegt, die Inhaftierten bleiben oft ohne Anwalts- und
Angehörigenbesuche oder ohne eine Klageschrift. Etwa 10 000 Iraker befinden sich in
Gefangenenlagern der USA-Besatzungstruppen (Cropper Camp Bagdad und Bucca Camp Basra).
Für besonders schwere »terroristische« Straftaten wurde ein Irakisches Sondertribunal (IST) in der
»Grünen Zone« installiert, einem hermetisch abgeriegelten Gelände im Zentrum Bagdads. Das
Tribunal ist umstritten, unter anderem wegen der nach internationalem Standard unzureichenden
Schnellausbildung seiner Richter und mangelhaftem Rechtsschutz der Angeklagten. Das
Sondergericht verhandelte Verfahren gegen einstige Regierungsmitglieder wie Saddam Hussein,
dessen Schwager Ali Hassan Majid und den früheren Außenminister Tarik Aziz. Der durch seinen
Schuhwurf auf Präsident Bush zu Weltruhm gelangte irakische Journalist Muntazer al-Saidi wurde
hier gerade zu drei Jahren Haft verurteilt.
Die Todesstrafe wurde 2003 kurzfristig abgeschafft, ist aber seit 2004 wieder in Kraft. Nach Angaben
von Amnesty International wurden seit 2006 mindestens 132 Personen hingerichtet; etwa 550
Personen wurden zum Tode verurteilt, darunter auch Frauen. Allerdings veröffentlicht Bagdad keine
offizielle Statistik, es gibt also eine Dunkelziffer. Derzeit sollen 128 Personen auf ihre Hinrichtung
warten und nach Auskunft irakischer Justizbehörden in Schüben von jeweils 20 Personen exekutiert
werden. Amnesty fordert, die Hinrichtungen auszusetzen. Einer BBC-Umfrage zufolge haben rund
40 Prozent der Iraker »viel«, 28 Prozent sogar »sehr viel« Vertrauen in die Richter und das neue
Justizwesen im Land. 24 Prozent äußerten Skepsis. K.L.
*** Aus: Neues Deutschland, 20. März 2009
Irak-Flüchtlinge: Neue Heimat BRD ****
Mit großem Tamtam sind am Donnerstag (19. März) die ersten von insgesamt 2500 Kriegsflüchtlinge aus dem Irak in Deutschland empfangen worden. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, sprach von einem Gebot der Menschlichkeit, den schutzsuchenden Menschen »schnell« zu helfen – sechs Jahre nach Beginn des völkerrechtswidrigen US-Krieges gegen Irak und der darauf folgenden Flucht und Vertreibung von rund vier Millionen Menschen.
Eine erste Gruppe von 122 Flüchtlingen landete am Donnerstag nachmittag in Hannover. Nach den Worten des niedersächsischen Innenministers Uwe Schünemann sollen alle in Deutschland eine dauerhafte neue Heimat finden. »Wir gehen davon aus, dass die Iraker auf Dauer hier bleiben«, sagte der CDU-Politiker im rbb-Inforadio. Ohne es wohl zu wollen bestätigte Schünemann damit, daß eine Verbesserung der Lage im besetzten Irak auf absehbare Zeit nicht zu erwarten ist. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums sind unter den jetzt eingeflogenen Irakern viele Angehörige religiöser Minderheiten, aber auch alleinerziehende Mütter und Kranke.
Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl betonte, die Aufnahme von 2500 Irak-Flüchtlingen könne nur der erste Schritt sein. Es müsse nun ein kontinuierliches Aufnahmeprogramm folgen. Die Linke-Politikerin Ulla Jelpke erklärte: »Die jetzt erfolgende Aufnahme der irakischen Flüchtlinge kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das deutsche Asylsystem darauf ausgerichtet ist, Schutzbedürftige sobald wie möglich wieder loszuwerden«. Zwischen 2005 und 2007 endeten fast alle der mehr als 12000 Verfahren zur Überprüfung des Asylstatus irakischer Flüchtlinge mit einem Widerruf, sagte die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag weiter. »Über tausend Iraker, deren Asyl- bzw. Flüchtlingsstatus widerrufen wurde, leben nur mit einer Duldung in Deutschland. Dazu kommen noch einmal über 5000 Iraker, deren Aufenthalt lediglich geduldet wird, weil beispielsweise ihre Asylbegehren abgelehnt wurde. Auch diesen Irakern muß endlich ein sicherer und dauerhafter Aufenthaltsstatus in der Bundesrepublik gewährt werden.«
(rg)
**** Aus: junge Welt, 20. März 2009
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