Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Irak - 12 Jahre nach dem zweiten Golfkrieg

Appell an die deutsche Bundesregierung - Die Folgen eines Krieges

Im Folgenden dokumentieren wir eine von Horst-Eberhard Richter abgegebene Erklärung der IPPNW sowie einen Bericht der britischen Ärztin Judith Cook über die Folgen eines möglichen neuerlichen Krieges gegen Irak. Anlass für die Pressekonferenz der IPPNW am 16. Januar 2003 war der 12. Jahrestag des Beginns des zweiten Golfkriegs am 17. Januar 1991. Mehr zum Thema aus Sicht der IPPNW gibt es auf deren Homepage: www.ippnw.de


IPPNW-Pressekonferenz

Irak - 12 Jahre nach dem zweiten Golfkrieg
Appell an die deutsche Bundesregierung


Als Internationale Ärzte für Frieden und soziale Verantwortung IPPNW (Träger des Friedensnobelpreises 1985) fordern wir von der Deutschen Bundesregie-rung, dass sie unverzüglich alle internationalen Einflussmöglichkeiten aus-schöpft, um einen Irak-Krieg zu verhindern. Laut Umfragen sind sich die Völker Europas in hohem Maße darin einig, dass ein solcher Krieg ungerechtfertigt und verhängnisvoll wäre.

Ein demokratisches Europa muss diesen eindeutigen Willen der Völker durch entsprechendes Handeln beherzigen!

Die Verelendung der Menschen im Irak durch den 2. Golfkrieg und die Sanktionen haben zu einem extremen Anstieg der Säuglings- und Kleinkinder-Sterblichkeit geführt. Das ohnehin insuffiziente Gesundheitssystem würde im Kriegsfall binnen Tagen zusammenbrechen. Mindestens eine halbe Million Menschen würden in eine humanitäre Katastrophe stürzen, die auch durch koor-dinierte auswärtige Hilfe nicht abgewendet werden könnte.

Die vorgeschobenen Kriegsgründe haben sich als haltlos erwiesen, das gilt sowohl für die erfundene Weltbedrohung durch den Irak als für dessen angebliche konspirative Verbindung mit dem El Qaida-Terrorismus. Nach einer vor drei Tagen in unserem Auftrag durchgeführten Forsa-Umfrage teilt die Mehrheit der Deutschen (68%) unsere Überzeugung, dass ein militärischer Angriff auf den Irak dem Terrorismus sogar neuen Auftrieb geben würde.

Die Welt steht vor der Wahl, entweer einen brutalen imperialen Eroberungskrieg nach Vorbildern des Kolonialzeitalters zu tolerieren, wenn nicht gar zu untersttzen, oder an der notwendigen Demokratisierung der internationalen Gemeinschaft weiterzuarbeiten und für das Ziel einer Kultur der Menschlichkeit und des Friedens zu kämpfen. Die Politiker wissen, welche Entscheidung ihnen ihre Verantwortung gebietet. Wir verlangen von ihnen, dass sie das Gebotene tun.

Eine Schlussbemerkung: Das schwedische Amt für psychologische Verteidigung hat in einer Untersuchung den Medien bescheinigt, dass sie bereits im Kosovo-Krieg nicht die überwiegend kritische Meinung der Öffentlichkeit gespiegelt hätten, sondern sich eher wie eine 4. Waffengattung neben Heer, Marine und Luftwaffe benommen hätten. Es wäre nicht korrekt, diesen pauschalen Vorwurf für die aktuelle Situation zu reproduzieren. Aber dass die Medien bis-her die kriegsablehnende Haltung der Bevölkerung hinreichend widerspiegeln und mit kritischen Kommentaren in angemessenem Umfang unterstützen wür-den, kann wohl niemand behaupten.

In der Zeitschrift "Freitag" der nächsten Woche werde ich dazu eine ausführli-che Analyse präsentieren, heute nur die Bitte an Sie, den Veranstaltungen der Friedensbewegung in den nächsten Wochen und dem öffentlichen Kongress der IPPNW vom 1.-4.5. hier in Berlin zum Thema "Kultur des Friedens" genügend freundliche Aufmerksamkeit zu widmen.

Horst-Eberhard Richter

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Statement zum Medact-Bericht - Kollateralschaden:
Die Gesundheits- und Umweltkosten eines Krieges gegen den Irak


Dr. Judith Cook ist eine Ärztin für Allgemeinmedizin in Großbritannien, die in letzter Zeit mit Obdachlosen, Flüchtlingen und Asylsuchenden in London gearbeitet hat. Sie ist Mitglied des Exekutivausschusses von Medact und hat bei Medact zu Themen der Entwicklungspolitik und Gesundheit gearbeitet. Sie war ebenfalls an Seminaren von Medact zur Verbesserung der Gesundheit von Flüchtlingen in Großbritannien und an einem Londoner Symposium zur Rekonstruktion des Gesundheitssystems in Afghanistan beteiligt, das gemeinsam von Medact und der Londoner Schule für Hygiene und Tropenmedizin organisiert wurde. 2002 arbeitete Sie mit Medicins du Monde vier Monate lang an einem Programm zur Rekonstruktion eines kleinen Provinzkrankenhauses in Afghanistan.

Medact ist eine britische Organisation von Berufstätigen des Gesundheitswesens, die auf die negativen Auswirkungen von gewalttätigen Konflikten, von Armut und von einer Verschlechterung der Umweltbedingungen aufmerksam macht.

Im Bewusstsein dessen, dass die gesundheitlichen Auswirkungen eines Krieges selten in Betracht gezogen werden, machte sich Medact daran, seinen bahnbrechenden Bericht zu schreiben, um zu der in der Öffentlichkeit geführten Debatte und zu einer Beschlussfassung in einer äußerst wichtigen Zeit beizutragen. Der am vergangenen Wochenende durchgesickerte gemeinsame UNO-Bericht über die humanitäre Planung im Falle eines neuen Krieges im Irak bestätigt die Schlussfolgerungen unseres Berichts.

Der Medact-Bericht wurde aus der Perspektive des öffentlichen Gesundheitswesens auf der Grundlage der bestmöglichen zur Verfügung stehenden Beweismittel geschrieben. Er untersucht die Auswirkungen des Golfkrieges von 1990 bis 1991 auf Gesundheit und Umwelt, er umreißt das wahrscheinlichste Szenario eines neuen Krieges und gibt eine Schätzung der potentiellen Verluste an Menschenleben.

Wir betrachteten zunächst den Gesundheitszustand im Irak vor dem Golfkrieg
Der ölreiche Irak war ein im wesentlichen urbanisiertes, mittelständisch geprägtes Land mit einer modernen Infrastruktur und relativ gut entwickelten Versorgungsdiensten geworden. Gesundheitsindikatoren, wie z.B. die Säuglingssterblichkeit, hatten sich verbessert, und die Infrastruktur war durch den Iran-Irak-Krieg relativ unversehrt geblieben.

Dann betrachteten wir die gesundheits- und umweltbezogenen Kosten des Golfkrieges
  • Die Schätzungen liegen bei 100,000 bis 200,000 Toten auf Seiten des irakischen Militärs und der Zivilbevölkerung, die dem Krieg und seinen Nachwirkungen zuzuschreiben sind, einschließlich der sofortigen Todesfälle, der Todesfälle aufgrund von Verletzungen aus Kampfhandlungen in den sich anschließenden zivilen Unruhen und bei 15,000 bis 30,000 unter den hauptsächlich kurdischen und schiitischen Flüchtlingen.
  • Die offiziellen Zahlen sprechen von 500 Toten und 500 Verwundeten bei den Kämpfern der Koalition, wobei diese Zahlen allerdings umstritten sind. Die Kriegsveteranen leiden weiterhin an den Langzeitwirkungen.
  • Die umfassenden Schäden an der Infrastruktur schufen die Voraussetzungen für Hungersnöte und Epidemien. Es traten sofort Lebensmittelknappheiten auf.
  • Die medizinische Grund- und Präventivversorgung kamen zum Stillstand und es kam zu einem raschen Wiederaufleben von vermeidbaren Krankheiten.
  • Die Kinder- und Säuglingssterblichkeit war bis zum August 1991 um das Dreifache gestiegen.
  • Die Umweltschäden durch Toxine, die aus zerbombten Fabriken ausgetreten waren, durch das Anzünden der Ölquellen und durch die Zerstörung der Wüsten-Ökologie durch militärische Operationen hatten eine nie dagewesenes Ausmaß angenommen.
  • Nach der Krise berichteten die Vereinten Nationen, dass der Irak in das vorindustrielle Zeitalter abgestiegen war. Seine Wirtschaft war zusammengebrochen.
  • Die UNO-Sanktionen und die Reaktion der irakischen Regierungen auf diese hatten negative Auswirkungen: Unterernährung und einen starken Anstieg der Sterblichkeitsziffer auf unter fünf. Das Programm "Öl für Lebensmittel" hat in den letzten Jahren für einen etwas verbesserten Gesundheitszustand gesorgt, erhöhte jedoch die Abhängigkeit der Bevölkerung von der Regierung in Bezug auf das Allernotwendigste.
Die gemeinsamen Auswirkungen des Golfkrieges und der Sanktionen lässt das irakische Volk in Bezug auf Gesundheit und Wohl auf einem Ausgangspunkt zurück, der bei weitem niedriger liegt als vor dem Jahre 1991.

Medact machte sich dann daran, die möglichen Verluste an Menschenleben einzuschätzen, die ein erneuter Krieg verursachen würde
Wir konzentrierten uns auf das am ehesten wahrscheinliche hypothetische Kriegsszenario unter Verwendung von Voraussagen führender amerikanischer und britischer Militäranalytiker, von Simulationen und Kriegsspielen sowie von Einschätzungen irakischer kompetenter Kräfte. Das Ziel der USA ist nunmehr ein Regimewechsel und führt dazu, dass ein neuer Konflikt notwendigerweise intensiver und zerstörerischer wird als im Jahre 1991. Der massive Einsatz der Luftwaffe zur Verringerung amerikanischer Opfer und von neuen tödlicheren Waffen ist anzunehmen.

Ob mit Partnern oder im Alleingang, die US-amerikanische Militärstrategie besteht aus vier Elementen. Dies sind wahrscheinlich ihre Auswirkungen:

Erstens: Es würden anhaltende und verheerende Luftangriffe auf die Einrichtungen der Regierung und des Militärs sowie der Infrastruktur erfolgen, die zu schweren Verlusten beim Militär und der Zivilbevölkerung führen. Die dabei wahrscheinlich eingesetzten Waffen sind präzisionsgesteuerte konventionelle Waffen, Spezialwaffen zur Zerstörung der Stromversorgungs- und Kommunikationsanlagen als auch Kriegsmaterial mit Flächenwirkung zur Beschädigung "weicher Ziele" einschließlich von Menschen, sowie möglicherweise nukleare "Bunkerzerstörer" (bunker busters). Es könnten Gesundheitschäden aufgrund der durch die Bombardierungen frei werdenden chemischen und biologischen Schadstoffe entstehen; riesige Schäden an der Infrastruktur würden eine Krise des Gesundheitswesen und den Zusammenbruch der medizinischen Versorgung zur Folge haben.

Zweitens: Die Landung der Bodentruppen und amphibischen Streitkräfte zur Besetzung des Ölproduktionsgebietes um Basra, um das Regime von seinen wichtigsten Ölvorräten abzuschneiden. Dies würde zu schweren Verlusten beim Militär und der Zivilbevölkerung führen; Umweltverschmutzung durch Sabotage der Ölquellen; die Importe von Lebensmitteln und Medikamenten würden eingeschränkt werden, da der Hafen Iraks außer Betrieb ist.

Drittens: Aneignung und Kontrolle des Kurdengebietes im Norden des Irak, der durch massive Luftschläge angegriffen wird, was möglicherweise zu schweren Verlusten bei den kämpfenden Truppen und der Zivilbevölkerung führt; Opfer in der Zivilbevölkerung durch innere Konflikte.

Viertens: die Schlacht um Bagdad: Nach dem Hauptteil des Luftkrieges und nachdem das Regime von seinen Ölvorräten abgeschnitten ist, bewegen sich schnelle Eingreiftruppen auf Bagdad zu, um die Elitetruppen der Republikanischen Garde zur Verteidigung der Stadt zu bezwingen, mit Todesopfern bei den kämpfenden Truppen auf beiden Seiten; die Kampfhandlungen in der Stadt würden eine Zivilbevölkerung von 5 Millionen den direkten Auswirkungen des Kampfes aussetzen und zu hohen Opfern in der Zivilbevölkerung führen; einer großflächigen Zerstörung der Infrastruktur würde eine Krise des Gesundheitswesen folgen.

Die USA hoffen, dass das Regime innerhalb einer Woche erledigt sein wird. Für Saddam Hussein ist das Überleben von allergrößter Wichtigkeit, und der Krieg kann so schwierig und langwierig sein wie möglich, wobei US-Truppen nach Bagdad hinein gelassen werden, um die Verluste der USA zu maximieren.

Saddam Hussein kann auch folgende Schritte unternehmen:
  • Verwendung chemischer und biologischer Waffen gegen die US-Truppen zur Erhöhung der Verluste; Zerstörung und In Brand setzen von Ölquellen und Verschmutzung der Ölfelder mit chemischen und biologischen Waffen
  • Paramilitärische Angriffe auf kuwaitische und saudiarabische Zentren von Zivilisten und Ölanlagen und Zielen in den USA und anderen Koalitionsländern.
  • Wenn das Regime seinem Ende gegenübersteht, Verwendung chemischer und biologischer Waffen, die auf US-Stützpunkte in Nordirak, Qatar, Kuwait und möglicherweise auch Israel zielen.
Im letztgenannten Fall Entfachung nuklearer Gegenschläge: Ariel Sharon hat die Bereitschaft zur Vergeltung; Großbritannien hat es nicht ausgeschlossen; die USA haben eine Politik der Erstverwendung nuklearer Waffen.

Wenn das Regime nicht schnell kollabiert, werden die Szenarien immer riskanter und schwieriger zu kontrollieren. In einem Bericht einer Oxforder Untersuchungsgruppe wird behauptet, dass ein Krieg gegen den Irak das "größte Risiko einer Eskalation bei der Verwendung von Massenvernichtungswaffen seit der kubanischen Raketenkrise" mit sich bringt'.
Im Fall eines nuklearen Angriffes auf Bagdad unter Verwendung einer Atombombe könnten die geschätzte Zahl der Toten gut mehr als drei Millionen betragen.

Wir haben andere sofortige und langfristige Auswirkungen in Betracht gezogen: In Anbetracht der zerrissenen Beschaffenheit der Gesellschaft ist ein Bürgerkrieg eine reale Möglichkeit
  • Langanhaltende Knappheit an Elektroenergie, Wasser und Lebensmitteln sowie überlastete Gesundheitsdienste. Es gäbe ein Risiko von Hungersnot und Epidemien.
  • Umweltschäden wäre weit verbreitet mit chemischer, biologischer und möglicherweise radioaktiver Verschmutzung von Land, Meer, Flüssen und der Atmosphäre.
  • Destabilisierung in der Region mit Unruhen der Zivilbevölkerung, Änderung des Regimes und erhöhter Wahrscheinlichkeit terroristischer Anschläge auf westliche Ziele wäre wahrscheinlich
  • Ein Ansteigen der Ölpreise und deren Auswirkung auf die Börsen und den Handel könnten eine globale Rezession mit den größten Auswirkungen in den Entwicklungsländern herbeiführen.
  • Die finanzielle Belastung eines Krieges, die Aufwendungen für Waffen, eine nachfolgende Besetzung, Unterstützung und Rekonstruktion könnte $150-200 Milliarden betragen. Eine Art Marshallplan für den Irak würde viel mehr kosten. Wie lautet die Schlussfolgerung von Medact?

    Ein neuer Krieg würde zu Massensterben und Zerstörung führen. Sogar ein Szenario mit einer schnellen Zerstörung des Regimes von Saddam Hussein wird so eingeschätzt, dass anfangs eine beträchtliche Anzahl ermordet wird. Die mögliche Zahl von getöteten Kämpfern und irakischen Zivilisten während des Konflikts und drei Monate danach könnte bei höherer Schätzung eine Größenordnung von einer viertel Million erreichen. Die Zahl zusätzlicher Toter aufgrund längerfristiger Auswirkungen des Krieges könnte 200,000 erreichen.

    Es werden andere Möglichkeiten als in den Krieg zu ziehen oder 'nichts zu tun' zur Erwägung empfohlen:
    • Sichtbare Eindämmung
    • Restrukturierung der Sanktionen
    • Öl für Lebensmittel mehr in den Brennpunkt der Entwicklung bringen
    • Die Rüstungsindustrie stoppen
    • Stärkung und Unterstützung der Abrüstungsabkommen
    Insgesamt herrscht ein dringender Bedarf an menschlicher und kluger globaler Führung, die erkennt, dass nationale Sicherheit unmöglich ist ohne internationale Sicherheit, die durch alternative Strategien zum Krieg erreicht wird.

    Dr. Judith Cook, Medact

    Der Originalbericht befindet sich auf der Website von "Medact": www.medact.org


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