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"Wir haben unser Land verloren"

Gespräch mit Raed Jarrar. Der US-Amerikaner irakischer Herkunft schaut zurück auf ein Jahrzehnt des Krieges, der sein Heimatland verwüstet hat *


Der 35jährige Raed Jarrar ist ein arabisch-amerikanischer Menschenrechtler, Medienfachmann und Architekt. Nach dem Studium der Architektur in Bagdad absolvierte er seinen Master’s Degree als Bauingenieur an der University of Jordan in Amman, wo er sich auf den Wiederaufbau in vom Krieg zerstörten Ländern spezialisierte.

Interview: Amy Goodman und Aaron Maté

Aaron Maté: Unser Thema ist der zehnte Jahrestag des Einmarsches der USA in Irak. In Washington D.C. sprechen wir mit Raed Jarrar, einem irakisch-amerikanischen Blogger und politischen Analytiker. Als Direktor des irakischen Zweiges von CIVIC Worldwide (Campaign for Innocent Victims in Conflict; heute Center for Civilians in Conflict; d. Red.) leitete er die Arbeiten an der ersten Studie über Opfer unter der Zivilbevölkerung und über die weitergehenden Auswirkungen in den letzten zehn Jahren seit dem Einmarsch der von den USA geführten Truppen in Irak. Jarrar leitet heute die Kommunikationsabteilung des Amerikanisch-Arabischen Antidiskriminierungskomitees.

Raed, willkommen bei Democracy Now! Können Sie uns sagen, wo genau Sie waren vor zehn Jahren?


Raed Jarrar: Damals hielt ich mich in Bagdad auf. Zu dieser Zeit lebte ich in Jordanien und war dabei, meinen Masterstudiengang abzuschließen. Aber im Februar 2003 ging ich zurück nach Bagdad, um während der Invasion bei meiner Familie zu sein. Uns allen war klar, daß der Einmarsch der US-Truppen bevorstand und daß es zum Sturz der irakischen Regierung kommen würde. Ich fuhr also heim nach Bagdad, um dabei zu helfen, Vorkehrungen für die bevorstehende Invasion der von den USA geführten Koalitionstruppen zu treffen. Wir gruben einen Brunnen in unserem Garten, um Zugang zu Trinkwasser zu haben. Außerdem horteten wir Benzin für einen Stromgenerator und legten Lebensmittelvorräte an. Das machte praktisch jeder in dieser Zeit. In den frühen Morgenstunden des 19. März wurde ich durch den Lärm von Sirenen und Explosionen geweckt. Meine Erinnerung daran ist noch sehr klar. Meine ganze Familie wurde dadurch wach, und wir nahmen gemeinsam das Frühstück ein. Uns war klar, daß dies der Beginn der Invasion war.

Amy Goodman: Können Sie darüber sprechen, was in den letzten zehn Jahren passiert ist? Können Sie über die Opfer sprechen? Darüber, wie es Ihrer Familie erging? Und über die heutige heillose Kluft zwischen Schiiten und Sunniten, von der auch Ihre Familie betroffen ist?

Raed Jarrar: Das alles ist kaum mit Worten zu beschreiben. Wenn ich daran denke, wo wir vor zehn Jahren gelebt haben und wie das Leben heute für uns aussieht, dann sind das zwei völlig verschiedene Leben. Vor zehn Jahren konnten wir von unserem Wohnort aus in einer halben Stunde all unsere Verwandten sowohl von der Familie meiner Mutter als auch der meines Vaters erreichen. Meine Onkel, meine Cousins, meine Tanten, wir alle lebten in Bagdad. Jetzt kenne ich im ganzen Land keinen einzigen Menschen mehr. Wenn ich heute in mein Land reise, dann gibt es niemanden mehr, den ich besuchen könnte, weil all meine Verwandten und Freunde, meine Kollegen und Nachbarn entweder tot sind oder das Land verlassen haben und jetzt irgendwo anders leben. Meine engsten Familienmitglieder leben heute weit entfernt von Zuhause an der Westküste der USA, in Kanada und in Neuseeland. Wir sind buchstäblich über die ganze Welt verstreut. Eine Familie, deren Mitglieder früher nur eine halbe Stunde voneinander entfernt wohnten, ist jetzt rund um den Erdball zu finden. Wobei wir noch zu den Glücklichen gehören, deren Familie keinen so hohen Tribut zahlen mußte wie andere, denn wir haben niemanden aus unserem engsten Familienkreis verloren. Aber darüber hinaus haben wir alles verloren, unser Haus und unser Land. Wir haben uns jedoch nicht unterkriegen lassen und haben alle ein neues Leben begonnen.

Aaron Maté: Über die religiösen Auseinandersetzungen schreiben Sie, daß es vor der militärischen Invasion für Sie keinerlei Bedeutung hatte, Sunnit oder Schiit zu sein, daß Ihnen diese Unterscheidung sogar fremd war. Aber wenn wir uns heute Ihr Heimatland Irak ansehen, dann scheint der religiöse Konflikt sogar der entscheidende zu sein. Können Sie das bestätigen?

Raed Jarrar: Ja, das ist richtig. Ich habe irgendwann einmal erwähnt, daß ich halb Sunnit und halb Schiit bin. Viele Iraker nennen Leute wie mich scherzhaft »Sushis«. Aber diese Gemeinschaft wird kleiner und kleiner, weil es immer weniger gemischte Paare gibt. Vor 2003 wußte ich gar nicht, wer von meinen Freunden Sunnit oder Schiit war, und das war für niemand ein Problem. Es wurde nicht darüber gesprochen, daß diese Person ein Sunnit ist und jene ein Schiit, auch völlig unabhängig von persönlichen Erfahrungen. Ich verweise in diesem Zusammenhang immer auf das vom Pentagon und der CIA in Umlauf gebrachte Kartenspiel mit den 55 Karten. Darauf sind die Konterfeis der 55 führenden Iraker zu sehen, auf die damals Jagd gemacht wurde. 36 dieser 55 Iraker waren Schiiten. Das entspricht ungefähr dem zahlenmäßigen Verhältnis von beiden Glaubensrichtungen in der Bevölkerung. Ich will damit nicht sagen, daß die frühere irakische Regierung (unter Staatspräsident Saddam Hussein; d. Red.) integrativ gewirkt hat und alle glücklich waren, aber das Regime war eine weltliche Diktatur. Die Unterdrückung bestimmte sich nicht nach der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen und religiösen Gruppierung. Wer die Regierung unterstützte, der hatte ein gutes Leben. Und wer gegen sie war, egal welcher religiösen Gruppierung er angehörte, der wurde vernichtet und mit ihm seine ganze Familie.

Heute hat sich das Land leider völlig verändert. Und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund ist die vollständige Zerstörung der nationalen Identität. In Irak gibt es überhaupt keine staatsbürgerliche Identität mehr. Deshalb haben die Leute sich zurückentwickelt. Sie sind auf die Ebene zurückgekehrt, die ihnen eine Identifizierung möglich macht, und das ist unglücklicherweise ihre religiöse Zugehörigkeit. Der zweite Grund für die völlige Veränderung des Landes ist die Tatsache, daß das heutige System 2003 von den USA eingeführt wurde. Der Regierungsrat, der 2003 von den USA geschaffen wurde, markiert den Zeitpunkt, an dem Iraker, die das Land regieren sollten, zum ersten Mal in der Gegenwartsgeschichte auf der Grundlage ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit gewählt wurden. Bevor die USA einmarschierten, hat es das niemals gegeben.

Amy Goodman: Ich möchte jetzt noch einmal auf den früheren US-Präsidenten George W. Bush zurückgreifen. 2010 hat er Matt Lauer vom Fernsehsender NBC sein erstes längeres Interview zum Thema Irak-Krieg gegeben. Darin kam es zu folgendem Wortwechsel:

Matt Lauer: Als Sie den Befehl für den Beginn der militärischen Operationen in Irak gaben, hatten Sie da persönlich irgendwelche Zweifel oder auch nur den Hauch eines Zweifels an den geheimdienstlichen Informationen?

George W. Bush: Nein, gar nicht. Ich hatte keinerlei Zweifel.

Matt Lauer: Aber nicht jeder war der Meinung, daß Sie den Krieg beginnen sollten. Es gab Menschen, die anders dachten.

George W. Bush: Natürlich gab es die.

Matt Lauer: Haben Sie die herausgefiltert?

George W. Bush: Ich selbst gehörte zu denen, die anders dachten. Ich wollte keine Gewalt anwenden.

Matt Lauer: Mit Ihren eigenen Worten: »Niemand war mehr schockiert und verärgert als ich, als wir dort keine Massenvernichtungswaffen fanden.« Sie fühlen sich immer noch schlecht dabei …

George W. Bush: Ja, das tue ich.

Matt Lauer: … wenn Sie daran denken?

George W. Bush: Ja.

Matt Lauer: Wurde jemals überlegt, sich beim amerikanischen Volk zu entschuldigen?

George W. Bush: Mit einer Entschuldigung hätten wir ja praktisch eingeräumt, daß die Entscheidung (zum Krieg; d. Red.) falsch war. Ich glaube aber nicht, daß wir eine falsche Entscheidung getroffen haben.

Matt Lauer: Wenn Sie damals gewußt hätten …

George W. Bush: Ja ...

Matt Lauer: … was Sie heute wissen …

George W. Bush: Das stimmt ...

Matt Lauer: … würden Sie dann immer noch Krieg gegen Irak führen?

George W. Bush: Zunächst einmal, ich konnte mir diesen Luxus damals nicht leisten. Wenn Sie Präsident sind, können Sie sich einen solchen Luxus nicht leisten. Ich will damit ganz klar sagen, daß die Welt heute auf alle Fälle besser dasteht ohne den Machthaber Saddam Hussein, genauso wie die 25 Millionen Menschen besser dran sind, die jetzt eine Chance haben, in Freiheit zu leben.


Amy Goodman: Soweit Matt ­Lauer im Interview mit US-Präsident George W. Bush im Jahr 2010. Lauer hat allerdings nicht mehr gefragt, ob Bush das irakische Volk um Entschuldigung bitten würde. Raed Jarrar, was sagen Sie zu Bushs Antworten, und wie sollte Ihrer Meinung nach diese Bitte um Entschuldigung lauten?

Raed Jarrar: Wir sollten den ehemaligen US-Präsidenten Bush nicht auffordern, um Entschuldigung zu bitten, oder uns mit der Frage befassen, ob das, was geschehen ist, verbrecherisch und unmoralisch war. Meiner Meinung nach sollte in den USA eine unabhängige Untersuchung angestrengt werden, um jene, die die USA in den Krieg geführt haben, zur Rechenschaft zu ziehen. Dazu gehören auch Präsident Bush und weitere Politiker seines damaligen Kabinetts. Die Verbrechen und der Betrug, die begangen wurden, und das Geld, das verschwendet wurde, und die Menschenleben, die vernichtet wurden, verlangen nach Abbitte und Wiedergutmachung und daß jeder, der verantwortlich ist für diese Angriffe, zur Rechenschaft gezogen wird.

Die Mehrheit der Iraker erwartet eine Bitte um Entschuldigung. Sie erwarten eine Wiedergutmachung für das, was ihrem Land in den letzten zwei Jahrzehnten angetan wurde. Das Land wurde zerstört. Und für die Menschen, die in Irak getötet wurden, gab es pro Person Entschädigungen von sage und schreibe 2500 US-Dollar! Die Entschädigungsleistungen der US-Regierung für Iraker belaufen sich auf 2500 US-Dollar für jedes getötete Familienmitglied. Das entspricht genau der Summe, die auch für Sachschäden bezahlt wurde. Stellen Sie sich vor, wie beschämend das ist, wenn man zu einer Familie kommt, die ihr Auto und zwei ihrer Kinder verloren hat, und dann gibt man ihnen 7500 US-Dollar, weil das die offizielle Entschädigungspolitik der US-Regierung ist. 2500 US-Dollar »pro Stück«, egal ob das »Stück« ein Mensch ist oder ein Auto! Man muß sich diesen Grad von Demütigung vor Augen führen, diesen Grad von Geringschätzung menschlichen Lebens in Irak! Das alles muß sich unbedingt verändern. Die USA haben offiziell die Besetzung Iraks beendet, aber die moralischen und rechtlichen Verpflichtungen dem Land gegenüber sind damit noch lange nicht beendet.

Amy Goodman: Eine letzte Frage zu den Opfern. Was glauben Sie, wie hoch die Zahl der Kriegsopfer insgesamt ist in Irak?

Raed Jarrar: Es geht nicht darum, was ich glaube. Ich möchte auf die Diskrepanz zwischen den beiden Zahlen verweisen, die permanent genannt werden. Die eine ist die offiziell dokumentierte Zahl. Wie schon von einem anderen Gast in Ihrer Sendung erklärt wurde, basiert diese Zahl auf Berichten in den englischsprachigen Medien über irakische Opfer. Genau betrachtet ist dies aber nur ein kleiner Teil der vollständigen Opferzahlen. Demgegenüber gibt es Studien, die auf einer umfassenden Sammlung von Angaben basieren, und mit denen man versucht, die Gesamtzahl der Opfer einzuschätzen. Und so kommen wir letztlich auf zwei verschiedene Angaben zu den Opferzahlen. Eine ist die Gesamtzahl, die auf offiziellen Angaben basiert, und die andere beruht auf einer umfassenden Einschätzung der Gesamtzahlen. Der Faktor, der diese beiden Zahlen über all die verschiedenen Studien der letzten zehn Jahre hinweg unterscheidet, liegt bei zehn. Nehmen wir zum Beispiel die Ergebnisse der beiden »Lancet-Studien« (von 2004 und 2006; d. Red.), deren letzte von der »John Hopkins Bloomberg School of Public Health« intern überprüft wurden. Diese Studien kamen auf eine Schätzung von insgesamt 655000 irakischen Kriegsopfern, während der offizielle »Body Count« in Irak etwa 65000 Opfer dokumentierte. Der Faktor zwischen beiden Zahlen liegt also bei zehn.

Soweit ich weiß, liegt die Zahl, auf die sich viele Beobachter bezüglich der Opferzahlen in Irak geeinigt haben, bei dokumentierten 120000, aber die Schätzung der vollständigen Opferzahlen beläuft sich auf etwa 1,2 Millionen. Und die Diskrepanz zwischen den beiden Zahlen führt normalerweise zu Konfusionen, aber wenn die Leute erst einmal verstanden haben, woraus sich die beiden Zahlen zusammensetzen, dann fällt es auch leichter, das Gesamtbild zu begreifen.

Amy Goodman: Raed Jarrar, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Nach der Besetzung Bagdads im Jahr 2003 leitete Raed Jarrar CIVIC Worldwide (siehe Einleitung des Gesprächs) und gründete die NGO »Emaar«, die in der humanitären Unterstützung der Bevölkerung und für den Wiederaufbau Bagdads und Süd­iraks aktiv war.

Seit 2005 lebt er in den USA und arbeitet in zahlreichen Projekten, die sich mit der Situation in seinem Heimatland Irak befassen. Als Leiter der Irak-Abteilung der in San Francisco ansässigen NGO »Global Exchange« bemüht Jarrar sich um die Vermittlung von Gesprächskontakten zwischen Irakern und Abgeordneten des US-Kongresses und einer stärkeren Repräsentanz von irakischen Meinungen in den US-Medien.

Als Autor schreibt Jarrar für das Projekt »Foreign Policy In Focus« (FPIF) des »Institute for Policy Studies« in Washington, DC. FPIF beschreibt sich selbst als »Think Tank Without Walls« (»Denkfabrik ohne Mauern«), in der sich rund 600 Autoren, akademische Wissenschaftler, Künstler und Aktivisten zusammengefunden haben, »um die Vereinigten Staaten dahingehend zu verändern, ein verantwortlich handelnder globaler Partner zu werden«.

Unter www.raedinthemiddle.blogspot.de unterhält Jarrar seinen eigenen Blog und den seiner Familie.


Das Gespräch erschien zuerst am 19. März auf der Website »Democracy Now!« (www.democracynow.org)

Übersetzung: Jürgen Heiser

* Aus: junge Welt, Samstag, 6. April 2013


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