Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Fällt Indiens Regierung über den Atompakt mit den USA?

Ausgang des Misstrauensvotums am Dienstag ist völlig ungewiss

Von Hilmar König, Delhi

Nachdem Indiens Linke der Regierung von Premier Manmohan Singh Anfang Juli wegen des Atomdeals mit den USA die Unterstützung gekündigt hatte, wurde ein Misstrauensvotum in der Lok Sabha, dem Unterhaus des indischen Parlaments, unabwendbar. Die Regierung der Vereinten Progressiven Allianz (VPA) verfügt nicht mehr über eine Mehrheit. Übersteht sie die Abstimmung am Dienstag (22. Juli) nicht, wird es wohl Neuwahlen in Indien geben.

Letzte Meldung:

Indische Regierung gewinnt Vertrauensabstimmung

Die indische Regierung hat die Vertrauensabstimmung im Parlament von Neu Delhi gewonnen. Dies teilte das Parlamentspräsidium mit. Allerdings gab es bei dem Wahlgang offenbar Unregelmäßigkeiten. So wurde offiziell mitgeteilt, dass das elektronische Abstimmungssystem die Stimmen von mehreren Dutzend Abgeordneten nicht ordnungsgemäß erfasst habe.

Das Staatsfernsehen berichtete, die Regierung von Ministerpräsident Manmohan Singh habe die Vertrauensabstimmung mit 253 zu 232 Stimmen gewonnen. Anschließend wurden daran Zweifel geäußert. Weitere 50 Stimmzettel müssten von Hand ausgewertet werden, es lägen Beschwerden verschiedener Abgeordneter vor, hieß es von offizieller Seite.

Die Vertrauensabstimmung war von der Opposition beantragt worden, nachdem vor zwei Wochen mehrere linksgerichtete Parteien ihren Rückzug aus der Koalitionsregierung angekündigt hatten und die Regierung damit die Mehrheit im Parlament verloren hatte. Die Regierungskrise hatte sich an einem Streit über ein Atomabkommen mit den USA entzündet. Das Abkommen sieht vor, dass die USA nach mehr als 30 Jahren Boykott wieder Handel mit nuklearen Brennstoffen und Nukleartechnologie in Indien treiben dürfen.

Nachrichtenagentur AFP, 22. Juli 2008


»Das Morgen kann dunkel werden, wenn wir heute nicht das Licht sehen.« In ganzseitigen Zeitungsanzeigen versucht die Regierung, die Öffentlichkeit für das Abkommen über Zusammenarbeit im zivilen nuklearen Bereich mit den USA und für die Nutzung der Kernenergie überhaupt zu gewinnen. Im Text, garniert mit den Fotos von Premier Singh und Kongressparteichefin Sonia Gandhi, wird behauptet: »Kernenergie ist die effizienteste, umweltverträglichste und sicherste Energiequelle. Sie produziert mehr Energie als jede andere Quelle und ist wieder auffüllbar.«

Die Anzeigenflut gilt der Rechtfertigung des Paktes mit den USA. 2005 vereinbart, wird der Vertrag erst bei Abschluss eines Zusatzabkommens zwischen Indien und der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) und nach Zustimmung der sogenannten NSG-Staaten wirksam. Diese 45 Staaten liefern Nuklearausrüstungen, Atommeiler und Kernbrennstoff an Länder, die das Abkommen über die Nichtverbreitung von Kernwaffen unterzeichnet haben. Indien gehört nicht dazu und braucht deshalb eine Ausnahmegenehmigung von IAEA und NSG. Skandinavische Staaten, die Schweiz, Niederlande, Irland, Kanada, Australien und Neuseeland tun sich jedoch angeblich schwer, eine solche Genehmigung zu erteilen. Die Bush-Regierung möchte den Pakt dagegen aus kommerziellen und geostrategischen Überlegungen unbedingt in Kraft setzen.

Indiens Linke standen dem Deal von Anfang an kritisch gegenüber. Ein Koordinierungskomitee sollte ihre Bedenken ausräumen. In neun Sitzungen gelang das nicht. Die KPI (Marxistisch), die KP Indiens, der Vorwärtsblock und die Revolutionäre Sozialistische Partei blieben dabei, dass der Pakt die Souveränität Indiens untergräbt, nationale Interessen gefährdet, das Energieproblem nicht löst und die mit der traditionellen Außenpolitik Delhis unvereinbare Möglichkeit bietet, Indien zum Erfüllungsgehilfen der geopolitischen Interessen Washingtons zu machen.

Nach Ansicht der KPI(M) stärkt der Atomdeal im Kern die strategischen Bindungen Indiens an die USA. Punkt für Punkt zerlegte eine Erklärung der Partei den von der Regierung verbreiteten Mythos, mit dem Abkommen verschwinde das Energiedefizit Indiens und der Erdölverbrauch sinke spürbar. Selbst bei Inkrafttreten des Pakts gingen die sehr teuer importierten Kernreaktoren erst in acht bis zehn Jahren in Betrieb. Und sie würden mit Uran bestückt, dessen Preis von einem internationalen Kartell diktiert wird. Der Anteil des Atomstroms an der Energieproduktion Indiens würde sich durch geplante acht neue Kernkraftwerke von drei auf etwa sechs Prozent erhöhen. Energiesicherheit, resümierte die KPI(M), erreiche Indien so jedenfalls nicht.

Nachdem Premier Singh dem USA-Präsidenten beim jüngsten G8-Gipfel in Japan versichert hatte, er werde den Pakt gegen jeden Widerstand durchpeitschen, war das Tischtuch mit den Linken zerschnitten. Diese hatten die VPA-Regierung seit Mai 2004 (wenn auch nicht in allen Fragen) unterstützt. Mitte des Monats begannen sie eine Kampagne zur Aufklärung darüber, warum sie diese Unterstützung »von außen« einstellen. Als Gründe führen sie auch die neoliberale Politik und ihre Folgen – Inflation, Arbeitslosigkeit und Selbstmorde von Farmern – an.

Inzwischen ist der Atompakt in den Hintergrund gerückt, obwohl die Abstimmung in der Lok Sabha natürlich auch ein Votum für oder gegen den Vertrag sein wird. Die politischen Lager bemühen sich mit nahezu allen Mitteln, die Abstimmung zu ihren Gunsten zu entscheiden. Die Kongresspartei mit ihren VPA-Partnern gibt sich zuversichtlich, die erforderlichen 272 Abgeordnetenstimmen zu erhalten, nachdem sich die Samaj-wadi Party auf ihre Seite geschlagen hat, obwohl sie den Pakt bisher als »Desaster für die Nation« charakterisiert hatte. Doch auch die Linken gewannen eine neue Verbündete: Shrimati Mayawati, Chefministerin des Unionsstaates Uttar Pradesh, will mit ihrer Bahujan Samaj Party gegen die Regierung stimmen. Auch die hindu-nationalistische Indische Volkspartei (BJP) und deren Nationale Demokratische Allianz sehen die Chance, die Singh- Regierung zu stürzen und wieder an die Macht zu kommen – zumal die VPA durch Teuerung und Inflation enorm an Ansehen eingebüßt hat.

Zu rechnen ist mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen, bei dem jede Abgeordnetenstimme ins Gewicht fällt. Auf sechs Millionen Dollar wurde der »Wert« eines käuflichen Parlamentariers bereits geschätzt.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Juli 2008


Zurück zur Indien-Seite

Zur Atomwaffen-Seite

Zurück zur Homepage