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Ein Milliarden-Dollar-Kuchen

Segnen die Bundesrepublik und ihre EU-Partner den Atomdeal USA-Indien ab? / Indischer Friedensaktivist J. Sri Raman warnt vor nuklearer Aufrüstung

Von Jochen Reinert *

Der indische Rüstungsgegner J. Sri Raman hat in Berlin Politiker, Abgeordnete und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen vor den Gefahren des Atomdeals USA-Indien gewarnt.

»Jetzt liegt der Ball im Korb der NSG«, pointiert Raman die gegenwärtige Situation im Verhandlungspoker um den Atomdeal. NSG – das ist die sogenannte Nuclear Suppliers Group, eine 45-Staaten-Kontrollinstanz, die verhindern soll, dass militärisch nutzbares Nuklearmaterial in falsche Hände gerät. Dieser Kontrollgruppe gehören alle EU-Staaten an, und gerade von ihnen erhofft sich Raman ein klares Veto gegen jenen Atomdeal, der u.a. umfangreiche Exporte der USA-Nuklearindustrie nach Indien ermöglichen soll. Obwohl Indien nicht dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NPT) beigetreten ist und eigene Atomwaffen testete.

Raman weiß, wovon er spricht. Als Gründer der Vereinigung »Journalisten gegen Atomwaffen« ist er Leitungsmitglied der beiden großen indischen Dachorganisationen »Bewegung gegen Atomwaffen« und der »Koalition für nukleare Abrüstung und Frieden«. 2002 trat er mit dem Buch »Flashpoint: Wie uns die USA, Indien und Pakistan an den Rand eines Nuklearkrieges brachten« hervor. Durch die von dem Deal legitimierten Uranlieferungen, glaubt Raman, könne Indien seine eigenen begrenzten Uranvorkommen für die schnellere Aufstockung seines nuklearen Waffenarsenals einsetzen.

Das Inkrafttreten des bereits im Juli 2005 in Washington von Premier Manmohan Singh – ohne vorherige Konsultation mit dem Parlament, wie Raman bitter vermerkt – mit Präsident Bush vereinbarten Deals hängt von zwei Vorbedingungen ab: einem Abkommen Delhis mit der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA über die Kontrolle der zivilen Kernanlagen und der Zustimmung der 45-Staaten-Kontrollgruppe. Die Verhandlungen mit der IAEA sind im Gange, aber letztlich erwartet Raman von dieser Seite keine Hindernisse – obwohl Indien nur 14 seiner 22 Atommeiler überwachen lassen will. Doch die NSG, die auf ihrem nächsten Treffen in wenigen Tagen über den Deal berät, könnte die Verletzung des NPT-Vertrages verhindern, glaubt Raman. Denn schließlich besagten deren Regeln, dass militärisch nutzbares Nuklearmaterial nicht in Länder geliefert werden darf, die den Vertrag ignorieren und ihre Atomanlagen nicht von der IAEA überwachen lassen. Indien ist ein solches Land.

Irritierend ist für einige EU-Staaten auch, dass ausgerechnet die USA, die ja die Gruppe der 45 schufen, nun deren Grundlage aushöhlen wollen. Für Raman kein Wunder – die USA würden mit dem Deal zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Indien als Gegengewicht zu China stärker an sich binden und zugleich der eigenen Atomindustrie gewaltige Lieferaufträge nach Indien verschaffen. In Washington spreche man schon von einem Kuchen von 100 Milliarden Dollar.

Bisher signalisierten lediglich die Nuklearmächte Frankreich und Großbritannien Unterstützung für den Deal, traditionelle Atomrüstungsgegner wie Schweden, Österreich oder Irland äußerten Kritik. Deutschland bezog noch keine klare Position, obwohl Außenminister Frank-Walter Steinmeier und die SPD nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung von Kernwaffen zu einer Leitlinie deutscher Außenpolitik erkoren haben. Die drei Oppositionsparteien haben Position bezogen. Sie brachten Anträge in den Bundestag ein, die für eine Beibehaltung des nuklearen Lieferembargos für Indien plädieren oder die Regierung auffordern, eine Zustimmung in der 45-Staaten-Gruppe an Rüstungskontroll-Zusagen Indiens zu knüpfen.

In seinen Berliner Gesprächen im Außenamt oder mit Mitgliedern des Parlamentarischen Netzwerkes für nukleare Abrüstung hat Raman immer wieder betont, dass die EU-Staaten den Atomdeal nicht nur wegen der offensichtlichen Untergrabung des NPT-Vertrages ablehnen sollten, sondern vor allem auch wegen des dann absehbaren Ausbaus des indischen Kernwaffenarsenals. Der Deal, so meint er hoffnungsvoll, sei noch keineswegs in Sack und Tüten.

Zahlen und Fakten

Indien verfolgt bereits seit 60 Jahren ein umfangreiches Atomprogramm. Bei seiner Begründung 1948 betonte Premier Jawaharlal Nehru seinen friedlichen Charakter. Doch nach dem Krieg mit China 1962 und dem ersten Kernwaffentest des mächtigen Nachbarn 1964 startete Delhi insgeheim ein eigenes Atomwaffenprogramm. In jenen Jahren erfreute es sich der nuklearen Zusammenarbeit u.a. mit Kanada, Frankreich und der Sowjetunion. Diese Kooperation wurde eingeschränkt, als Indien 1974 in Pokhran (Rajasthan) eine erste Kernexplosion zündete. Als Indien am 11. Mai 1998 am gleichen Ort insgesamt fünf Kernwaffen testete, wurden das nukleare Embargo verschärft und wirtschaftliche Sanktionen verhängt.

Seit 1998 gelten Indien und Pakistan, das wenige Tage später ebenfalls mehrere Atomwaffen testete, als (nicht anerkannte) Kernwaffenstaaten; beide Länder sind dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NPT) fern geblieben. Die Anzahl der indischen Atomwaffen wird auf 60 bis 120 geschätzt.

Indien verfügt auch über eine größere Anzahl von land-, luft- und seegestützten Trägersystemen, vor allem Raketen verschiedenster Reichweite. Die nach einem indischen Feuergott benannte Rakete Agni I hat eine Reichweite von 700 km, Agni II von 2000 km. Die unlängst erfolgreich getestete Agni III kann mit ihrer Reichweite von über 3000 km auch China erreichen.

Das indische Nuklearprogramm war bisher nicht in einen zivilen und einen militärischen Teil getrennt. Das soll sich im Gefolge des Atomdeals USA-Indien ändern. Doch von den 22 indischen Kernreaktoren, von denen mehrere waffenfähiges Nuklearmaterial produzieren, sollen auch künftig nur 14 von der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA kontrolliert werden. Indien will in den nächsten Jahren 40 neue Atomreaktoren bauen. Kritiker wie die indische IPPNW-Sektion meinen, dass das Energiedefizit besser durch eine umfangreiche Nutzung erneuerbarer Energien ausgeglichen werden sollte. J.R.



* Aus: Neues Deutschland, 28. März 2007

Knallharte Marktinteressen

Gespräch mit IPPNW-Abrüstungsexpertin Xanthe Hall *

ND: Weshalb üben die deutsche wie die indische Sektion von Ärzte gegen den Atomkrieg heftige Kritik am Nukleardeal USA-Indien?

Hall: Es wird oft behauptet, mit dem Abkommen würde man Indien mehr an den Atomwaffensperrvertrag bzw. an das Nichtverbreitungsregime heranrücken. Aber wir sehen nichts dergleichen. Der Deal dient in erster Linie kommerziellen Interessen der Atomindustrie und hat absolut nichts mit Abrüstung zu tun. Indiens Kernwaffenprogramm wird damit eher gefördert als gekappt.

Wie kann der Deal abgewendet werden – was können Nichtregierungsorganisationen tun?

Wir machen deutlich machen, was dahintersteckt: Wenn das Verbot von Nuklearexporten für Indien aufgehoben wird, ist dies das Ende des Nichtverbreitungsregimes. Andere Länder wie Iran werden gleiche Rechte geltend machen, und China wird einen ähnlichen Deal mit Pakistan machen wollen. Außerdem wird es dann für die Atomindustrie kein Halten mehr geben. Da sie in Europa immer weniger verkaufen kann, will sie sich neue Märkte in Asien sichern. Es geht um knallharte Marktinteressen.

Ist es ein Zufall, dass der nächste IPPNW-Weltkongress in Indien abgehalten wird?

Nein. Indien entwickelt sein Atomwaffenarsenal gegenwärtig am schnellsten von allen Kernwaffenstaaten. Deshalb hat die indische IPPNW-Sektion gebeten, den Kongress in Delhi zu veranstalten. Sie will gegenüber ihrer Regierung ein Zeichen setzen: Es gibt im eigenen Land und auch weit darüber hinaus eine starke Opposition zu diesen Ambitionen.

Was erwarten Sie von der Bundesregierung?

Sie sollte innerhalb der Nuclear Suppliers Group gegen eine Aufhebung des Embargos votieren. Aber die wirtschaftlichen Interessen der deutschen Atomlobby sind offenbar sehr stark – Siemens zum Beispiel möchte Turbinen für neue indische Reaktoren liefern. Doch darf der Deal die Kontrollgruppe nicht ohne Widerstand, nicht ohne die Formulierung von bestimmten Bedingungen für Indien passieren. Zum Beispiel die Verpflichtung, keine Tests mehr durchzuführen und die Produktion von waffenfähigem Nuklearmaterial einzustellen.

Fragen: Jochen Reinert

* Aus: Neues Deutschland, 28. März 2007


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