Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Stunde der Hetzer

Gefährliche Folge der Terrorangriffe in Mumbai: Krise zwischen Indien und Pakistan spitzt sich zu

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Das fast 60 Stunden dauernde Terrorkommandounternehmen in Mumbai endete am frühen Samstag morgen (29. November). Die Tragödie - offiziell 183 Tote, darunter 22 Ausländer - führte zu Hochspannungen in den Beziehungen zwischen Indien und Pakistan.

»Die bisherigen Untersuchungen haben enthüllt, daß Gruppen, die ihre Basen in Pakistan haben, die Hand bei der Mumbai-Attacke im Spiel hatten.« Das erklärte Indiens Staatsminister für Inneres, Sriprakash Jaiswal, am Wochenende. Er bestätigte damit, was zuvor bereits Premier Manmohan Singh und Außenminister Pranab Mukherjee angedeutet hatten. Sie wiesen »Elementen in Pakistan« die Verantwortung für das Blutbad zu. Anhaltspunkte für diese Meinungen lieferten offensichtlich Aussagen des einzigen gefangenen Angreifers -- neun seiner Komplizen wurden durch indische Spezialeinheiten getötet. Er stammt demnach aus Pakistan und gehörte angeblich der militanten »Dschihad«-Gruppe Lashkar-e-Taiba (LeT) an. Dieser werden Verbindungen zu Al-Qaida nachgesagt.

Spiel mit dem Feuer

Für indische Medien war das Anlaß genug, das pakistanische Establishment der Mittäterschaft anzuklagen. Sie forderten »ernste Konsequenzen«, eine »härtere Gangart« gegenüber dem Nachbarn und beriefen sich auf Premier Singhs Formulierung, Islamabad habe »höhere Kosten« zu zahlen, wenn es die vertraglichen Verpflichtungen nicht einhält. Demnach müßte es verhindern, daß von pakistanischem Territorium aus Terrorakte gegen Indien verübt werden. Die Zeitung The Times of India rief am Samstag scharfmacherisch nach einem starken Mann: »Indien braucht keinen Führer, der Frieden handhabt. Es braucht einen Führer, der uns in einem Krieg führen kann.« Zur Erinnerung: Beide Staaten haben in 61 Jahren bereits dreimal Krieg gegeneinander geführt und sind seit 1998 atomar bewaffnet.

Islamabad hat das Massaker von Mumbai scharf verurteilt, warnte zugleich aber vor voreiligen Schuldzuweisungen. Präsident Asif Ali Zardari schloß die »Möglichkeit der Kooperation auf höchster Ebene der Geheimdienste« nicht aus, wenn es genügend Hinweise über die Verwicklung einer pakistanischen Gruppe gebe. Zugleich korrigierte er eine Entscheidung der Regierung in Islamabad, die zunächst zugesagt hatte, den ISI-Geheimdienstchef Generalleutnant Ahmed Shuja Pasha zum »Informationsaustausch« nach Delhi zu schicken. Es habe sich dabei um eine »Mißkommunikation« gehandelt, sagte er. Für einen solchen Schritt sei es noch zu früh. Er betonte: »Wir stehen dem gleichen Feind gegenüber.«

Wo einer dieser Feinde sitzt, ist auch der pakistanischen Regierung bekannt. Erst am 19. Oktober verkündete der religiöse und politische LeT-Führer Hafiz Mohammad Said im pakistanischen Lahore: »Die einzige Sprache, die Indien versteht, ist die der Gewalt. Und das ist die Sprache, in der wir mit ihm reden müssen.« Die LeT ist in Pakistan verboten. Allerdings agiert sie unter einem anderen Namen unbehelligt weiter. Die pakistanischen Medien kritisierten die indische Politik und stützen mehr oder weniger die eigene Regierungslinie. So hieß es in der Daily News, Delhi sollte im eigenen Land nach den Tätern suchen: »Al-Qaida und Lashkar-e-Taiba scheinen nicht direkt involviert zu sein, aber von deren Ideologie und Vorgehen könnten einige lokale indische Gruppen inspiriert worden sein.«

»Indiens 9/11«

Pakistan weiß, daß in den Beziehungen zu Indien ein kritischer Punkt erreicht ist. Außenminister Shah Mahmud Qureshi schätzte am Samstag vor Journalisten ein: »Die Lage ist ernst, machen wir uns nichts vor, wenn die Inder glauben, das war Indiens 9/11.« Und er schlußfolgerte: »Wir sollten das Beste hoffen, aber für das Schlimmste planen.« Beamte in Islamabad ließen durchblicken, sollten die Spannungen mit Delhi weiter zunehmen, würde eine Truppenverlegung von der afghanischen an die indische Grenze in Erwägung gezogen. Noch ist nicht ganz klar, was die Terroristen mit ihrem Frontalangriff in Mumbai erreichen wollten. Eine Folge liegt auf der Hand: Sie schufen eine gefährliche Krisensituation im Verhältnis Pakistan-Indien.

* Aus: junge Welt, 1. Dezember 2008


Schuldzuweisungen an Pakistan nach "Indiens 9/11"

Die Hintermänner des Terrors in Mumbai sind noch völlig unbekannt. Spuren auch nach Großbritannien und zu Hindu-Extremisten

Von Jürgen Elsässer **


Die Spuren der Täter von Mumbai weisen in völlig unterschiedliche Richtungen - nicht nur nach Pakistan.

Nach der Terrorserie in Mumbai erhöhen die USA und Indien den Druck auf Pakistan. US-Außenministerin Condoleezza Rice sagte am Montag in London, die USA erwarteten die »uneingeschränkte« Kooperation Islamabads. Der Nachrichtensender NDTV meldete, indische Grenztruppen hätten ihre Patrouillen an der Grenze zu Pakistan verstärkt. Sollten die Spannungen eskalieren, könnten die rund 100 000 pakistanischen Soldaten von der afghanischen an die indische Grenze verlegt werden, berichteten pakistanische Medien unter Berufung auf die Armee.

Vorschnelle Schlüsse

Die Montagausgabe der »Süddeutschen Zeitung« (1. Dez.) betete brav die Polizeierkenntnisse nach, die die pakistanische Verwicklung stützen: Demnach hat der einzige lebend festgenommene Attentäter, ein gewisser Ajmal Mohammed Amir Kasab, gestanden, dass er und seine Kumpane mit einem Boot aus der Finanzmetropole Karatschi gekommen seien und zuvor, ebenfalls in Pakistan, in einem Trainingscamp der Terrorgruppe Lashkar-e Taiba (LeT - »Armee der Reinen«) ausgebildet worden seien. Vier Monate habe man den Überfall unter Anleitung des LeT-Oberkaders Muzzamil alias Yusuf geplant. Auch die Anrufliste von sichergestellten Mobiltelefonen der Terroristen erhärtet die Schuldzuweisungen. Allerdings hat LeT eine Tatbeteiligung dementiert.

Die britische Spur

Noch am Samstag (29. Nov.) hatten britische Zeitungen berichtet, dass mehrere der Attentäter britische Staatsbürger sein könnten. Demnach sagte der Premier des Bundesstaates Maharashtra, Vilasrao Deshmuk, zwei der Festgenommenen kämen aus dem Vereinigten Königreich. Die »Times« berief sich auf einen britischen Parlamentsabgeordneten, wonach bei mindestens zwei der Terroristen Kreditkarten und andere Dokumente gefunden worden seien, die auf die Gegend von Yorkshire im Nordosten Englands hinwiesen. Andere Zeitungen berichteten von bis zu sieben Tätern mit Kontakten in die Städte Leeds, Bradford und Hartlepool. London dementierte später, allerdings seltsam gewunden. Der britische Premier Gordon Brown sagte zum Beispiel nicht, dass kein Attentäter aus seinem Staat komme, sondern »dass er zu keinem Zeitpunkt Andeutungen über eine Terrorspur erhalten habe, die von Indien möglicherweise ins Vereinigte Königreich führt«. Liest der Mann die eigene Presse nicht? Aus dem Foreign Office hieß es vorsichtig, es gebe »momentan« keine Hinweise in diese Richtung. Die Verbindungen des britischen Geheimdienstes zu islamischen Militanten ist fast so notorisch wie die des pakistanischen: In den neunziger Jahren ließ der MI6 einheimische Muslimkämpfer von der pakistanischen Terrorgruppe Harkat al Ansar ausbilden und schickte sie zum Kampf gegen die Serben nach Bosnien, so der Labour-Politiker Michael Meacher, Umweltminister unter Tony Blair.

Möglichweise verbergen sich die Briten unter den herausgerechneten Terroristen: Die indischen Behörden behaupten steif und fest, lediglich zehn Täter hätten das Blutbad in Mumbai in Szene gesetzt, während der einzige Festgenommene Kasab von 16 Angreifern insgesamt spricht, allein zehn seien in seinem Boot - einem von zweien - gewesen.

Die Hindu-Spur

Der These von »Indiens 9/11« oder einer Verbindung zu Al-Qaida-nahen Terrorgruppen wie der LeT widerspricht Christine Fair von der RAND-Corporation: »Das sieht Al Qaida überhaupt nicht ähnlich ... Das ist nicht Indiens 9/11. Das ist Indiens Oklahoma City.« In dieser Stadt war 1995 das FBI-Hochhaus von einheimischen Rechtsterroristen gesprengt worden.

Auch in Indien gab es in der letzten Zeit einige furchtbare Anschläge von Rechtsterroristen. Der »Belfast Telegraph« berichtete unmittelbar vor dem Inferno von Mumbai: »Indien ist in einer Art Schockstarre, nachdem man aus amtlichen Quellen hören musste, dass seine erste Hindu-Terrorzelle eine Reihe von Bombenanschlägen durchgeführt hat, die ursprünglich militanten Muslimen angelastet worden waren.« Dabei waren im September 2006 in der Stadt Malegaon im indischen Bundesstaat Maharashtra 37 Menschen getötet worden.

Die Polizei geht angeblich davon aus, dass die Gruppe auch für andere Anschläge verantwortlich sei, zum Beispiel vergangenes Jahr auf einen Zug nach Pakistan mit 68 Toten. Shiv Sena, ein Hindu-Extremist aus Mumbai, hatte zuletzt gedroht, dem zunehmenden islamischen Terror »muss mit Hindu-Terror begegnet werden«.

Indische Muslime kritisieren die vorschnellen Schuldzuweisungen. Sie verweisen darauf, dass unter den ersten Toten des Massakers Hermant Karkare war, der Antiterrorchef der Stadt. Er habe herausgefunden, dass Hindus und nicht Islamisten hinter dem Massenmord von Malegaon steckten. »Weil er zu viel wusste, hat er sterben müssen«, sagte ein Moscheebesucher in Mumbai einem Reporter der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«.

** Aus: Neues Deutschland, 2. Dezember 2008


Zurück zur Indien-Seite

Zur Pakistan-Seite

Zur Terrorismus-Seite

Zurück zur Homepage