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Drohendes Wettrüsten

Außenpolitisch nähert sich Indien weiter an die USA an. Ein Nuklearabkommen soll ­strategische Partnerschaft zwischen beiden Staaten anbahnen

Von Gerhard Klas *

Am 11. Mai 1998 verkündete der damalige indische Premierminister Atal Bihari Vajpayee, Mitglied der hindunationalistischen Partei Bharatiya Janata Party (BJP), die erfolgreiche Durchführung von drei unterirdischen Atombombentests. Vor allem die Anhänger seiner Partei reagierten mit Begeisterung und zogen jubelnd durch die Straßen. Die Begeisterung war 1974, bei den ersten indischen Atomtests, noch verhaltener gewesen. Die Hindu­nationalisten waren damals noch eine minoritäre politische Kraft, und die Regierung sowie die 75 beteiligten Wissenschaftler operierten bis zur Durchführung der Tests unter größter Geheimhaltung.

»Diejenigen, die sich mit uns anlegen, werden als Staub enden«, skandierten 1998 die Hindunationalisten. Die haßerfüllte Drohung war vor allem gegen den Erzfeind, das muslimische Pakistan, gerichtet. Nur zwei Wochen später wurden auch dort Atombombentests durchgeführt. 1999, ein Jahr darauf, kommt es zum ersten »heißen« Krieg der Menschheitsgeschichte zwischen zwei Atommächten: Indien und Pakistan. Ein Krieg, der um ein Haar zum Atomkrieg eskaliert wäre.

Im sogenannten Kargil-Krieg zwischen Indien und Pakistan, benannt nach der gleichnamigen Konfliktregion im Grenzgebiet von Kaschmir, waren pakistanische Paramilitärs auf indisches Territorium vorgedrungen. Die indische Regierung setzte 30000 Soldaten im Krisengebiet ein und ließ zahlreiche Bombenangriffe fliegen. Nur wenigen Inderinnen und Indern war bewußt, daß sie beinahe in einen atomaren Krieg geraten wären. »Die Entwicklung von Waffen ist bedeutungslos, wenn man sie bei Bedarf nicht einsetzt«, hieß es damals aus führenden Kreisen pakistanischer Politiker. US-Geheimdienste bestätigten die Nuklearwaffen im Grenzgebiet Pakistans, und auch Indien hatte mindestens fünf Atomsprengköpfe an die Grenze befördert. Unter dem Druck der USA zog sich das pakistanische Militär schließlich aus der umstrittenen Region zurück.

Nach dem Kargil-Krieg beschleunigte sich das nukleare Wettrüsten zwischen dem von den USA unterstützten Pakistan und Indien. Die Militärbudgets auf beiden Seiten wurden drastisch erhöht. Seit damals hat Indien seine Rüstungsausgaben mehr als verdoppelt, heute betragen sie umgerechnet etwa 30 Milliarden US-Dollar jährlich, knapp drei Prozent des indischen Haushalts. Nach Schätzungen von Experten verfügt Indien heute über 50 bis 100 Atomsprengköpfe.

Die Energiefrage

Für Indien spielt die Anerkennung als Atommacht eine wichtige Rolle. Die Regierung strebt danach, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erlangen. Vergleichsmaßstab ist China. Indien, so wird immer wieder argumentiert, könne wegen seiner Größe und zivilisatorischen Bedeutung einen ebensolchen Status wie China beanspruchen, das bereits anerkannte Atommacht mit ständigem Sitz im UN-Sicherheitsrat ist.

Wirtschaftspolitisch ist Indien mit knappen Energiereserven konfrontiert. Das rasante ökonomische Wachstum hat in den vergangenen Jahren den Energiebedarf enorm gesteigert und damit die Abhängigkeit von Importen: Schon heute muß Indien knapp 70 Prozent seines Ölbedarfs einführen, einen großen Teil aus dem Iran. Zwar verfügt Indien noch über reichhaltige Kohlereserven, aber die reichen langfristig nicht. Deshalb will die Regierung ihr nukleares Energieprogramm ausbauen. Dabei gibt es allerdings ein Problem: Weil Indien den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hat, darf es bisher von keiner der Atommächte mit nuklearem Material oder Technologie beliefert werden. Indien ist diesem Vertrag nie beigetreten, weil er allen Staaten Atomwaffen verwehrt, aber nicht denen, die sie bereits besitzen.

Da die heimischen Uranvorkommen begrenzt sind, setzt die indische Regierung nun auf ein Abkommen mit den USA, mit dem der nukleare Nichtverbreitungsvertrag umgangen werden soll. Bis 2020 will sie mehr als zehn Prozent ihres Energiebedarfs aus der Kernenergie decken. Kritik an der zivilen Nutzung der Nuklearenergie gibt es kaum in Indien. Sehr wohl aber an dem Preis, den die indische Regierung dafür zahlen muß: Die Aufgabe ihrer politischen Unabhängigkeit. Sie betont deshalb den Nutzen für die Energieversorgung und blendet den Zusammenhang mit dem indischen Atomwaffenprogramm und die strategische Annäherung an die USA aus beziehungsweise spielt sie herunter.

Neue Freunde

»Es gab eine Zeit, da hatte Indien nur wenige Freunde in den Vereinigten Staaten. Professor Francine Frankel war eine der ersten in den USA, die über die Bedeutung Indiens nachgedacht hat«, stellt Lalit Mansingh, ehemaliger indischer Botschafter in Washington während der hindunationalistischen BJP-Ära in Indien, die regierungsnahe US-amerikanische Indien-Expertin Francine Frankel vor. Der Saal im Kongreßzentrum des Indian International Centre im wohlhabenden Süden Neu-Delhis ist voll, die Sitzplätze reichen nicht aus. Das Thema an diesem Novemberabend 2007: Die Beziehungen zwischen den USA und Indien. Gekommen sind Politiker, Wissenschaftler und Diplomaten, darunter viele Anhänger der Indischen Volkspartei BJP. Im Zentrum der Debatte steht das Nuklearabkommen.

»Indien und die USA haben ihr wichtigstes gemeinsames Abkommen der vergangenen 60 Jahre abgeschlossen«, sagt Francine Frankel, »das zivile Nuklearabkommen steht für ein neues Vertrauensverhältnis zwischen den USA und Indien. Es ermöglicht beiden Staaten, eine neue strategische Partnerschaft aufzubauen.«

Bald nach der indischen Unabhängigkeit 1947 hatten sich die Wege der beiden Länder getrennt. Indien wurde Gründungsstaat der Bewegung der Blockfreien Staaten, zusammen mit Jugoslawien, Indonesien und Ägypten. Die USA förderten und unterstützten das muslimische Pakistan. »Die USA hatten Indien nicht ernst genommen, nicht als wirkliche Macht wahrgenommen bis zum Mai 1998. Zweifellos haben die Nukleartests die USA gezwungen, ihre Politik in Südasien und speziell in Indien zu überdenken«, meint der ehemalige strategische Berater und Militäranalytiker Uday Bhaskar. Er datiert die neue außenpolitische Ausrichtung auf das Jahr 2000: »Der Besuch von US-Präsident Clinton im März 2000 in Indien markierte den Neuanfang, einschließlich eines Dialogs über die nukleare Frage.« Seitdem, sagt Uday Bhaskar, seien große Fortschritte gemacht worden.

»Eine enge Partnerschaft mit Indien gehört zu den wichtigsten Prioritäten der zukünftigen US-Außenpolitik. Sowohl die derzeitige Regierung der Indischen Kongreßpartei als auch die BJP haben seit einer Dekade daran gearbeitet, Indiens Verhältnis zu den USA zu verbessern«, schreibt Nicholas Burns Ende 2007 in der US-Zeitschrift Foreign Affairs. Der Staatssekretär im US-Außenministerium war einer der Architekten der Annäherung zwischen den USA und Indien. Für ihn markiert sie einen historischen Wendepunkt. Diese Entwicklung soll nach Burns »in vier strategischen Bereichen sprunghaft beschleunigt werden: Zivile Nuklearenergie, zivile Weltraumprogramme, Handel mit Hochtechnologie und Raketenabwehr«.

Das Nuklearabkommen

Am 18. Juli 2005 unterzeichneten George W. Bush und der indische Präsident Manmohan Singh eine gemeinsame Erklärung, in der sie das Nuklearabkommen bereits detailliert skizzierten. Im August 2007 wurde es von beiden Regierungen unterzeichnet. Dieses Abkommen beinhaltet im wesentlichen, daß Indien 60 Prozent seiner Reaktoren unter Beobachtung der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO stellt und im Gegenzug mit den USA und den anderen Nuklearstaaten atomares Material und Technik, z.B. für die Urananreicherung, handeln kann. »Am wichtigsten ist aber, daß Indien sein Atomwaffenprogramm beibehalten kann -- unter der Bedingung, daß es dafür kein Material und keine Technologien benutzt, die es für die zivile nukleare Nutzung erhält«, so Uday Bashkar. Er behauptet, damit gäbe es »eine Art Schutzwall zwischen dem zivilen und dem militärischen Teil der nuklearen Infrastruktur Indiens«. Von den 22 indischen Reaktoren sollen -- so sieht es das Nuklearabkommen vor -- nur 14 von der IAEO überwacht werden, die restlichen acht werden nicht kontrolliert.

Bei der Debatte im Konferenzsaal des Indian International Centre wird schnell klar, daß es beim Nuklearabkommen nicht nur um die zivile Nutzung der Atomtechnologie geht. Francine Frankel versichert den Anwesenden, daß Indien sein Atomwaffenprogramm dank des Abkommens ganz legal sogar noch wird ausbauen können, weil dann die knappen, einheimischen Uranressourcen vollständig für militärische Zwecke genutzt werden können.

An der Seite der USA die Rolle Chinas zu beschneiden, darum geht im Kern. Das bestätigt auch Francine Frankel. »Ich würde nicht sagen, daß wir keine Pläne haben, um Chinas Einfluß einzudämmen«, formuliert die US-Politikerin im gewundenen Diplomatenenglisch auf mehrfache Nachfrage. Ansonsten versucht Frankel den Eindruck zu erwecken, vor allem Indien profitiere von der Partnerschaft mit den USA. Tatsächlich schlagen die USA mit dem Abkommen zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie binden Indien als Gegengewicht zu China stärker an sich und verschaffen zugleich der eigenen Atomindustrie gewaltige Lieferaufträge dorthin. In Washington berechnen Experten ein Handelsvolumen von potentiell mehr als 100 Milliarden US-Dollar.

Die Opponenten

Obwohl die indische Regierung das Abkommen und die weiteren Schritte auf internationaler Ebene -- wie die Verhandlungen mit der Internationalen Atomaufsichtsbehörde -- ohne Absprache mit dem Parlament umsetzen kann, sind es die heimischen Gegner, die dies bislang verhindern. Im indischen Unterhaus, der Lok Sabha, gibt es keine politische Mehrheit für das Abkommen. Dafür sind zwei Parteien verantwortlich: Die Communist Party of India (Marxist), CPI(M), die größte kommunistische Partei, die gedroht hat, ihre Tolerierung der jetzigen Regierung aufzukündigen und sie damit zu stürzen, sollte diese das Abkommen umsetzen, und die hindunationalistische BJP, die größte Oppositionspartei.

Die Zentrale der BJP in der Ashoka Road in Neu-Delhi wird von bewaffneten Sicherheitsleuten bewacht. Überall hängen die grün-safranfarbenen Fahnen der Partei, auf denen eine Lotusblüte abgebildet ist. Die BJP ist der politische Arm der hindunationalistischen Sangh Parivar, einer Dachorganisation, die auch Gruppen einschließt, die immer wieder offen zur Gewalt gegen die muslimische Minderheit aufrufen. Surendra Aurora ist Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses der Partei. Er trägt einen westlichen Maßanzug und gehört nicht zu den Parteimitgliedern, die marodierend durch die Straßen ziehen. Der 70jährige war Botschafter, unter anderem in Polen, Äthiopien, Hongkong, Iran und Portugal, und gibt sich tolerant. Seine Partei, unter deren Regierung die Atomwaffentests durchgeführt wurden, hat von 1998 bis 2004 regiert und bereits mit den USA über ein Nuklearabkommen verhandelt. Als Oppositionspartei kritisiert nun die BJP das Abkommen, weil es Indien nicht explizit das Recht einräume, weiter Atomwaffen testen zu können. »Abschreckung ist wirkungslos, wenn sie nicht kontinuierlich verbessert wird. Wenn andere Länder nicht bereit sind, ihre Nukleartests einzustellen, warum sollte Indien das tun?«, fragt Surendra Aurora, das sei »das Problem mit dem Nuklearabkommen in der aktuellen Fassung.« Letztlich aber bestätigt er die These Frankels: »Grundsätzlich sind wir natürlich nicht gegen ein Nuklearabkommen mit den USA.«

Die Bewegung der blockfreien Staaten hat für die BJP nie eine große Rolle gespielt. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sich Indien schon viel früher den USA angenähert, anstatt enge Beziehungen mit sozialistischen Ländern zu pflegen.

Anders argumentieren die kommunistischen Gegner des vorliegenden Nuklearabkommens. »A.K. Gopalan Bhawan«, benannt nach dem gleichnamigen Mitbegründer der Partei, heißt das Gebäude im Zentrum von Neu-Delhi, wo die Zentrale der CPI(M), der mit 800000 Mitgliedern größten kommunistischen Partei Indiens, untergebracht ist. Das Eingangsportal zieren Büsten von Marx und Lenin, die Einrichtung ist spartanisch. »Wir sind der festen Überzeugung, daß Indien in die Rolle eines Erfüllungsgehilfen der USA gedrängt wird. Das wäre schädlich für Indiens Position in der internationalen Gemeinschaft und schädlich für seine eigenen Interessen, besonders für die Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn«, erklärt Sitaram Yechuri, Mitglied des Zentralkomittees und internationaler Sprecher der Partei. Indien sei heute von Staaten umringt, die der US-Politiker Henry Kissinger als »gescheiterte Staaten« bezeichnen würde: Bhutan, Nepal, Bangladesh, Burma, Sri Lanka, Pakistan und Afghanistan. »Es liegt in Indiens Interesse, daß in diesen Ländern Friede und Stabilität herrschen, denn die Situation dort hat unmittelbare Auswirkungen auf uns«, so Yechuri. »Indiens Möglichkeiten, die Beziehungen zu diesen Ländern auszubauen und zu stärken, werden erschwert, wenn wir uns zum Erfüllungsgehilfen der USA machen.« Yechuri findet es falsch, daß die Bewegung der nichtpaktgebundenen Staaten heute von vielen als anachronistisch betrachtet wird. »Viele denken, daß die Blockfreienbewegung ein Produkt des Kalten Krieges gewesen ist. Seit der vorbei sei, gebe es keine Notwendigkeit mehr, blockfrei zu sein.« Eine völlig falsche Einschätzung, meint Yechuri, denn »das wichtige Element der Bewegung der blockfreien Staaten war die Solidarität der Entwicklungsländer im Widerstand gegen den Norden. Und dieser Aspekt hat heute mehr Bedeutung bekommen als damals.«

Rolle der muslimischen Gemeinde

140 Millionen Muslime leben in Indien, das damit weltweit nach Indonesien und Pakistan die drittgrößte muslimische Gemeinde stellt. Wie denken Muslime in Indien über die Annäherung an die USA, die es bei ihrem sogenannten »Kampf der Kulturen« besonders auf den Islam abgesehen haben?

Im Norden Delhis, direkt neben dem Polizeipräsidium, befindet sich die Zentrale der Jamiat Ulama-I-Hind. Mit mehr als zehn Millionen Mitgliedern ist sie die größte muslimische Organisation in Indien. Sie ist dem säkularen Vermächtnis der indischen Unabhängigkeit verpflichtet und strebt -- anders als die Organisationen des politischen Islam in vielen arabischen Ländern -- nicht nach der Macht im Staat, sondern befürwortet die Trennung von Staat und Religion. Während des indischen Unabhängigkeitskampfes war sie dem Indian National Congress eng verbunden und lehnte -- im Gegensatz zum pakistanischen Staatsgründer Muhammed Ali Jinnah -- die Teilung des Subkontinents entlang religiöser Grenzziehungen ab. Die meisten Mitglieder der Jamiat Ulama-I-Hind sind Sunniten, die durch die liberalen Traditionen des Sufismus geprägt sind.

Mit »Bush go back« mobilisierte die Jamiat Ulama-I-Hind ihre Mitglieder beim letzten Besuch des US-amerikanischen Präsidenten am 1. März 2006. Mit ihnen demonstrierten in vielen indischen Großstädten mehrere hunderttausend, unter anderem die Anhänger der CPI(M) und die vieler anderer Parteien und Organisationen. Am Tag darauf feierten Bush und der indische Premier Manmohan Singh öffentlich den Abschluß des Nuklearabkommens. Abdul Hameed Noumani, Sprecher der Jamiat Ulama, der immer wieder betont, daß nicht nur indische Muslime gegen eine enge Partnerschaft mit den USA sind, würde es statt dessen begrüßen, wenn die indische Regierung die Bewegung der Blockfreien als politische Option betrachten würde. »Nehmen wir z.B. die sogenannte Friedenspipeline, die vom Iran über Pakistan nach Indien Gas transportieren soll«, beschreibt Noumani einen konkreten Fall, »die USA wollen sie nicht haben, und jetzt ist die indische Regierung von ihren ursprünglichen Plänen zurückgetreten, läßt das Projekt schleifen«. Die Vereinigten Staaten wollten lediglich ihre nukleare und wirtschaftliche Dominanz aufrechterhalten. »Wenn die indische Regierung ihre Politik also nach den USA richtet, beschädigt sie den Ansatz der Bewegung der blockfreien Staaten. Alle Mitgliedsstaaten der Blockfreien-Bewegung -- nicht nur die muslimischen -- lehnen diese Annäherung zwischen den USA und Indien ab. Sie sagen, daß Indien sich damit selbst etwas vormacht.«

Ähnlich sieht das Tanweer Fazel. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Nelson-Mandela-Institut der staatlichen Jamia-Millia-Universität in Neu-Delhi. Der Soziologe hat sich darauf spezialisiert, die Situation der Muslime in Indien zu erforschen und hat unter anderem am Regierungsreport zum Thema mitgearbeitet. »In allen großen Städten gab es Demonstrationen gegen Bush und seine imperialistische Politik. Die Linken und verschiedene muslimische Organisationen wie Jamiat Ulama organisierten in Delhi riesige Kundgebungen, zu denen auch Intellektuelle, Studenten und Leute aus den verschiedenen indischen Bundesstaaten anreisten«, so Fazel. Den Umgang der Regierung mit diesen Protesten hält er für gefährlich: »Unser Premierminister hat diese Proteste bedauerlicherweise als Proteste der Muslime beschrieben. Diese Idee wurde von den staatlichen Agenturen und den Medien aufgegriffen. In den Editorials der Zeitungen hieß es, daß alle Gegner der indischen Außenpolitik entweder Muslime seien oder solche, die auf ihre Wählerstimmen hoffen. Aber das stimmt nicht. Alle möglichen Gruppen und Milieus der Gesellschaft sind gegen diese Politik.«

Eine Bewegung für die Abrüstung

»Bewahrt die Religion vor denen, die machthungrig sind«, heißt es in einem Protestsong der indischen Antikriegsbewegung. Ihre Vertreter sind sich bewußt, daß -- auch wenn das Nuklearabkommen wegen der innenpolitischen Lage derzeit nicht umgesetzt wird -- der politische Trend deshalb noch nicht umgekehrt ist. »Selbst wenn der Nukleardeal nicht durchkommt, wird deswegen das Projekt der strategischen Partnerschaft mit den USA nicht beerdigt werden«, sagt Achin Vanaik. Er ist als Diplomatensohn viel in der Welt herumgekommen. Während der 68er-Zeit studierte er in Großbritannien und war Aktivist der Studentenbewegung. Mitte der 70er Jahre kehrte er nach Indien zurück und ist dort heute einer der Wortführer der Antikriegsbewegung. Ende 2007 ist der studierte Ökonom zum Leiter der Fakultät für internationale Politik an der Universität Delhi ernannt worden. Sie ist mit 300000 Studierenden die größte Universität des Landes.

Achin Vanaik weist darauf hin, daß es einen Monat vor der Unterzeichnung der Erklärung zum Nuklearabkommen, also im Juni 2005, bereits ein Abkommen über die militärische Kooperation beider Staaten gegeben hat. Verabredet wurden u.a. gemeinsame Luftwaffen- und Marinemanöver, die auch schon durchgeführt wurden: Im September 2007 kam es zum größten Marinemanöver, an dem Indien jemals teilgenommen hat. Im Golf von Bengalen exerzierte die Marine zusammen mit U-Booten, Flugzeugträgern und Zerstörern aus Japan, Australien und den USA. Dort befindet sich die Straße von Malakka, über die 60 Prozent des weltweiten Energietransports zu Wasser abgewickelt werden.

Auch die Waffenexporte aus den USA nach Indien florieren: Erst im Januar schloß die indische Regierung einen Vertrag mit dem US-Rüstungsriesen Lockheed Martin über zwei Milliarden US-Dollar für Transportflugzeuge und Hubschrauber. Der Konzern hat sich -- neben fünf anderen, darunter auch das europäische Konsortium EADS -- Ende April um den bisher größten Waffeneinkauf in der Geschichte Indiens beworben: Für zwölf Milliarden US-Dollar will Neu-Delhi 126 Kampfflugzeuge neuesten Typs einkaufen.

Indien und die USA schicken auch ihr militärisches Führungspersonal ins jeweils andere Land, um Militärtechnik und Strategie einander anzupassen. »Interoperabilität« heißt das im militärischen Fachjargon. Das gilt auch für die ballistischen Abwehrsysteme der Inder. Damit würde, so befürchtet Achin Vanaik, auch ohne das Nuklearabkommen ein Wettrüsten in der Region forciert. »Die ballistischen Abwehrsysteme sind der reine Wahnsinn«, so der Wissenschaftler, »sie sind ohne Frage gegen China und Rußland gerichtet und werden zu einer Militarisierung des Weltraums führen, einschließlich nuklearer Sprengköpfe«. Man könne nicht behaupten, diese Systeme würden gegen Terroristen eingesetzt. »Terroristen haben keine ballistischen Interkontinentalraketen, nur Staaten sind dazu in der Lage«, so Achin Vanaik. Er hält es für wahrscheinlich, daß so ein nukleares Wettrüsten angeheizt wird: »Die Chinesen beunruhigt das, also werden sie ihre nuklearen Kapazitäten ausbauen, mit immer größeren und besseren Raketen. Wenn aber die Chinesen aufrüsten, werden auch die Inder ihr nukleares Arsenal aufstocken. Dann wird Pakistan aufschreien: Mein Gott, die Inder rüsten auf, also müssen wir dasselbe tun.«

Achin Vanaik ist eines der Gründungsmitglieder der Koalition für Nukleare Abrüstung und Frieden in Indien, kurz CNDP. Die CNDP setzt sich für eine nuklearwaffenfreie Zone in Süd­asien ein. »Unsere Bewegung kann die indische Regierung nicht dazu zwingen, ihre nukleare Bewaffnung aufzugeben«, so Vanaik, »aber wir wollen die Legitimität für die Nuklearpolitik untergraben.« »Wir sprechen mit Schülern, Studenten und vielen anderen. Auch wenn wir nicht stark genug sind, diese Politik zu verändern, können wir den politischen Rückhalt in der Bevölkerung für ihre Nuklearprogramme ankratzen.«

Ob und wann das Nuklearabkommen in Kraft gesetzt wird, ist noch offen. Die Präsidentschaftskandidaten in den USA haben jedenfalls 2006 alle für das Abkommen gestimmt. Barack Obama und John McCain messen dem Verhältnis zu Indien höchste außenpolitische Priorität bei. Die Aufgabe der neuen Präsidentschaft wäre es u.a. auch, die Nuclear Suppliers Group, eine Gruppe von 45 Staaten, die zur Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen beitragen wollen, von einer Ausnahmeregelung für Indien zu überzeugen. Auch Deutschland gehört dazu. Bei ihrem Besuch im vergangenen Oktober in Neu-Delhi hat Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits Unterstützung für das Nuklearabkommen signalisiert.

In Indien wird spätestens im Mai kommenden Jahres neu gewählt. Kann die Linksfront unter Führung der CPI(M) ihren Einfluß halten oder gar vergrößern, dürfte die Umsetzung des Abkommens auf längere Sicht unmöglich sein. In Indien geht es um eine Weichenstellung für die Zukunft: »Einen solchen politischen Sturm hat es in Indien das letzte Mal Mitte der 90er Jahre gegeben, im Vorfeld der Gründung der Welthandelsorganisation«, sagt Prakash Karat, Generalsekretär der CPI(M).

* Aus: junge Welt, 16. Juni 2008


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