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Unter einem großen Schutzdach

Indische Milchbauern in einer globalisierten Welt

Von Jochen Reinert*

Während sich in Davos die Beschleuniger der kapitalistischen Globalisierung tummeln, sehen sich die armen Kleinbauern Indiens auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre repräsentiert

Nach den trägen Mittagsstunden ist die 2.000-Seelen-Gemeinde Iwar im westindischen Unionsstaat Gujarat erwacht. Durch das einer Filmkulisse ähnelnde Eingangstor mit der Aufschrift »Welcome« rumpeln Rinderkarren und Kleinlaster. Am Dorfrand nimmt die Kleinbäuerin Vidyaben Patel einen blitzenden Edelstahleimer und geht über den Hof zu den Viehunterständen, in denen die drei Tiere der Familie stehen, zwei Kühe und ein Büffel, und beginnt zu melken.

Wenig später wird die 50-Jährige zur nahen Milchsammelstelle aufbrechen, wo sie für durchschnittlich vier Liter am Tag rund 35 Rupien (rund 70 Cent) erhält. Neben der Lohnarbeit des Mannes ist dies das einzige Einkommen der Familie, die nur einen Acre (0,47 Hektar) Land besitzt. Davon finanzieren die Patels auch den Schul- bzw. Collegebesuch eines 15-jährigen Sohnes und einer 19-jährigen Tochter.

Kokila Bin besitzt nur zwei Büffelrinder

Die Milchsammelstelle gehört zum riesigen Netzwerk des indischen National Dairy Development Board (NDDB), der größten Milchkooperative der Welt. Die Nationale Entwicklungsgesellschaft für Milchwirtschaft hat in fast jedem fünften der rund 550.000 indischen Dörfer einen solchen lokalen Stützpunkt. Ihre inzwischen 11,4 Millionen Mitglieder beliefern 170 Molkereien von Gujarat im Westen bis Nagaland im äußersten Nordosten Indiens. Die Kooperative ist zugleich mit Abstand der größte indische Produzent für Trinkmilch, Butteröl, Milchpulver, Speiseeis oder Käse – ein Resultat der »Operation Flood«, die in Indien gern als »Weiße Revolution« bezeichnet wird.

Wenige Kilometer weiter, im Dorf Navali, hat die 30-jährige Kokila Bin bereits ihre beiden Büffelrinder gemolken und sich mit ihrer Kanne auf den Weg zur örtlichen Milk Producers Cooperative Society gemacht. Als sie an der Sammelstelle ankommt, dunkelt es bereits. Doch das zweistöckige Gebäude ist nicht zu verfehlen – außer den Hindu-Tempel überragt es am Marktplatz alle anderen Häuser. Die Schlange vor der Sammelstelle, meist sind es Frauen in bunten Saris, ist lang. Doch in knapp zehn Minuten ist es soweit, die landlose Büffelhalterin gießt die Milch in einen größeren Edelstahlbottich. Nachdem sie ihre Chipkarte eingegeben hat, rechnet ihr der Computer vor: 2,9 Liter mit einem Fettgehalt von 5,8 Prozent. Dafür bekommt sie 27 Rupien gutgeschrieben.

Wie Vidyaben Patel und Kokila Bin besitzen die meisten der gut 11 Millionen Mitglieder – 2,6 Millionen davon sind Frauen – nur ein bis drei Kühe oder Büffel. Etliche von ihnen, aber keineswegs alle, verfügen über ein kleines Stück Land, meist nur ein oder zwei Acres. Von den 932 Mitgliedern der Navali-Kooperative sind 460 landlos, 415 haben bis zu zwei Acres Land, 57 darüber. Kokilas Familie, zu ihr gehören auch zwei Söhne und eine Tochter, bestreitet ihren Unterhalt maßgeblich von den Einkünften aus dem Milchverkauf, rund 1.500 Rupies kommen im Monat zusammen. Auch ohne große Mathematik wird schnell klar: Ohne die Einkünfte aus der Kooperative könnten diese beiden indischen Familien – ebenso wenig wie die anderen 60 Prozent der als »arm, marginalisiert« eingestuften Mitglieder – kaum überleben.

Die Wiege der Superkooperative steht nicht weit von diesen beiden Dörfern im rund 110.000 Einwohner zählenden Anand im Herzen von Gujarat. Hier erheben sich auch die imposanten Gebäude des NDDB-Hauptquartiers. Schon kurz nach der Unabhängigkeit Indiens 1947, berichtet die selbstbewusste Genossenschaftschefin Dr. Amrita Patel, schlossen sich am Rande von Anand Milchbauern zu einer kleinen Kooperative zusammen, um die Zwischenhändler zu umgehen und die Milch selbst zu vermarkten. Der Durchbruch aber kam erst nach 1970, als NDDB mit Unterstützung der EU und der Weltbank die »Operation Flood« einleitete – eine Flut von Milch für Indien. Damals hatte die EU aus ihren Überschüssen als Entwicklungshilfe Milchpulver und Butteröl kostenlos geliefert, und mit den Erlösen wurde – auch staatlich gefördert – jenes weite Kooperativennetz über ganz Indien gespannt. Als die Operation 1996 abgeschlossen war, stand die Kooperative unangefochten an der Spitze der inländischen Milchproduzenten und Indien überholte mit heute 88 Millionen Tonnen pro Jahr die USA als weltgrößten Milchproduzenten.

Harte Konkurrenz der Privaten

Doch inzwischen »hat sich das wirtschaftliche und politische Szenario in Indien und der Welt« für die Anander Superkooperative »deutlich verändert«, heißt es in deren jüngstem Jahresbericht. Mehreren großen Herausforderungen gelte es zu begegnen. An erster Stelle die von der Welthandelsorganisation WTO erzwungene Zulassung privater einheimischer und ausländischer Firmen, die – so klagen die NDDB-Leute – bereits erhebliche Einbrüche in die NDDB-Märkte erzielen konnten, überdies die Kleinstproduzenten ignorieren und keine sozialen Verpflichtungen übernehmen. So bietet z.B. die Navali-Kooperative Kokila Bin und den anderen Mitgliedern außer dem Genossenschaftsbonus eine Reihe sozialer Leistungen. Von den jährlich über 200.000 Rupien Sozialausgaben der lokalen Kooperative stehen mehr als 40.000 Rupien für Milch für den Kindergarten des Ortes, Zuschüsse für Lehrerwohnungen oder die Familienplanung zu Buche.

Große Sorgen bereiten dem Anander Management nicht zuletzt die von der WTO legitimierten ungleichen Bedingungen für Industrie- und Entwicklungsländer beim Welthandel von Milchprodukten. Gerade auch mit dem einstigen Gönner EU hat die Großkooperative Probleme. Seit 1997 kommen keine Hilfslieferungen mehr aus Brüssel – stattdessen, wenn auch in geringem Umfang, Milchpulver und Butteröl zu Dumpingpreisen. Die Gefahr, dass die EU ihr eigenes großes Entwicklungsprojekt ruinieren könnte, besteht nach Ansicht des Welternährungsbeauftragten des Evangelischen Entwicklungsdienstes Dr. Rudolf Buntzel-Cano »auf jeden Fall weiter«. Die EU produziere »anhaltend große Milchüberschüsse, die auf den Weltmarkt drängen und mit Hilfe von Subventionen exportiert werden«. So etwa in die Golfstaaten, dem bisher einzigen relevanten Markt für indische Milchprodukte. »Und natürlich kann die EU nichts davon abhalten, auch jederzeit die Märkte in Indien selbst wieder zu infiltrieren«, glaubt der Experte.

Nicht minder kritisch sieht Buntzel-Cano, der mehrfach Gespräche in Anand führte, die Rolle der in Indien tätigen Lebensmittelkonzerne Nestlé, Danone oder Britannia. »Nestlé ist der größte internationale Milchhändler, und Nestlés Milchfabriken, auch die in Indien, können jederzeit auf Importmilch umgestellt werden. Und da solche Multis sowohl auf dem indischen als auch auf dem internationalen Markt als Milchhändler tätig sind, haben sie natürlich ganz andere Interessen als ein rein nationaler Player wie das NDDB. Insofern ist die Anwesenheit von Multis auf dem eigenen Binnenmarkt eine große Gefahr.«

Dennoch haben Indiens Milchbauern nach Ansicht von Buntzel-Cano auch in der globalisierten Welt recht gute Chancen. Milch sei ein sehr arbeitsintensives Produkt, bei dem die Arbeitskosten eine große Rolle spielten, und da sei Indien absolut wettbewerbsfähig. Außerdem sei es für sie sehr vorteilhaft, einen nationalen Schutzschirm wie die Kooperative NDDB zu haben, die nach wie vor von der indischen Regierung weitgehend unterstützt werde. »Und das ist schon ein großer Vorteil, auch gegenüber der Konkurrenz der Multis wie Nestlé oder Danone.«

Sterne für die Armen – wie lange noch?

Die NDDB-Chefin Amrita Patel bleibt angesichts des »zunehmend aggressiven Wettbewerbs auf dem Milchmarkt« auf der Hut. Auf einem den armen Tierhaltern der Dritten Welt gewidmeten Workshop der Welternährungsorganisation FAO ging sie unlängst mit den reichen Industrieländern ins Gericht: Während diese weiterhin Herstellung und Export von Milchprodukten stark subventionieren, versuchten sie die Schieflage im internationalen Agrarhandel zu Gunsten des Nordens zu verstärken. »Doch glücklicherweise zeigte der gemeinsame Druck von Regierungen der Entwicklungsländer und Gruppen der Zivilgesellschaft u.a. auf der WTO-Ministerkonferenz von Cancun Wirkung und ließ die Sterne für die Armen aufleuchten – aber für wie lange?«

Die beiden Kleinstbäuerinnen Vidyaben Patel und Kokila Bin können sich unter dem Schutzdach der weltgrößten Milchkooperative einstweilen sicher fühlen – aber wie lange noch?

* Aus: Neues Deutschland, 26. Januar 2005


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