Selbstkritik nach Wahlschlappen
Indiens Kommunisten vor "Hauptkampf" in Westbengalen und Kerala
Von Hilmar König *
Weitgehend hinter verschlossenen Türen hat die Kommunistische Partei Indiens (Marxistisch) bei einer Tagung ihres Zentralkomitees die jüngsten Wahlschlappen der indischen Linken analysiert und nach Gründen für die ernüchternden Ergebnisse bei den Parlamentswahlen 2008 und die schmerzlichen Rückschläge bei den jüngsten Kommunalwahlen in der roten Hochburg Westbengalen gesucht. KPI (M)-Generalsekretär Prakash Karat erklärte anschließend, man habe die eigene Stärke überschätzt. Es sei nicht gelungen, die säkulare »Dritte Front« als Alternative zur Kongreßpartei und zur hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP) zu etablieren. Für das seit 1977 von der KPI (M) regierte Westbengalen seien eine gewachsene Kluft zwischen Bevölkerung und Partei, Verärgerung und Enttäuschung bei den Minderheiten, der Verzicht auf die Durchsetzung von Maßnahmen im Interesse der Bevölkerung durch die Regionalregierung sowie »gewisse Mängel« in der Parteiführung mitverantwortlich für die Ergebnisse bei den Kommunalwahlen, bei denen die Oppositionspartei Trinamool Congress (TC) die Linken überflügelt hatte. Diese Partei sowie »maoistische Banden« machte Karat außerdem für eine Reihe brutaler Übergriffe verantwortlich, denen in den vergangenen anderthalb Jahren 225 Parteimitglieder zum Opfer gefallen seien.
Insgesamt gehe es um eine neue Charta für politischen und sozialen Wandel, so Karat. Die indische Linke sei die wirkliche Alternative zum neoliberalen Kurs der gegenwärtigen Regierung der Vereinten Progressiven Allianz (VPA), deren Wirtschaftspolitik er scharf kritisierte. Durch die enorm gestiegenen Preise für Waren des täglichen Bedarfs und Treibstoff würden die ohnehin Benachteiligten besonders hart getroffen, so der Generalsekretär. Der neoliberale Kurs von Premier Manmohan Singh schließe Millionen Bürger vom Zugang zu Lebensmitteln aus, verwehre ihnen Arbeitsplätze sowie soziale Sicherheit und Gerechtigkeit. Im Juli hatte sich das Zentralparlament in Delhi mehr als eine Woche lang mit der seit Monaten anhaltenden Teuerungswelle im Land beschäftigt. Aufgrund der Proteste durch die gesamte Opposition mußten die Sitzungen nahezu täglich abgebrochen werden. Die Linken mobilisierten außerdem Hunderttausende Menschen zu machtvollen Demonstrationen.
Vor diesem Hintergrund komme den nächsten Abstimmungen in Indien besondere Bedeutung zu, heißt es in einer von der Tagung verabschiedete Resolution: »Die Wahlen zu den Volksvertretungen im Mai 2011 in Westbengalen und Kerala werden ein Hauptkampf zwischen den Käften sein, die für die Interessen der arbeitenden Menschen, für soziale Gerechtigkeit, für Säkularismus und für die Souveränität unseres Landes eintreten, und jenen Kräften, die die Interessen der Großkapitalisten, Landbesitzer, der Reichen und jener Kreise repräsentieren, die nach einer strategischen Allianz mit dem Imperialismus trachten und sich zur Erreichung ihrer Ziele ultralinker Anarchie und Spalterpolitik bedienen.«
Mit Blick auf die jüngsten Unruhen im indischen Teil Kaschmirs, bei denen bislang 50 Menschen getötet wurden, fordert KPI (M)-Generalsekretär Karat, die Regierung müsse sofort einen Dialog mit allen Gruppen im Kaschmirtal aufnehmen. Die dortigen Proteste machten die Intensität der Entfremdung junger Menschen vom indischen Staat deutlich. »Den Menschen in Kaschmir muß zugesichert werden, daß ihre Identität und ihr Sonderstatus in einem neuen politischen Rahmenwerk Ausdruck finden, in dem ein Maximum an Autonomie den Grundstein bildet«, sagte er.
* Aus: junge Welt, 12. August 2010
Kritische Analyse der Marxisten Indiens
KPI(M) zu "gewissen Mängeln" in der Partei
Von Hilmar König **
Auf einem »kleinen Parteitag«, einer erweiterten ZK-Tagung, hat sich die KP Indiens (Marxistisch) in
den vergangenen Tagen kritisch sowohl mit Mängeln der eigenen Politik als auch mit der
sozialökonomischen Lage im Land befasst. Das Meeting diente der Überprüfung der auf dem 19.
Parteitag 2008 beschlossenen politischen Strategie.
Generalsekretär Prakash Karat bekräftigte in seiner Analyse, die indische Linke sei die wirkliche
Alternative zum neoliberalen Kurs der gegenwärtigen Regierung der Vereinten Progressiven Allianz
(VPA). Doch wie die bescheidenen Ergebnisse der letzten Parlamentswahlen und die enormen
Rückschläge bei jüngsten Kommunalwahlen in der roten Hochburg Westbengalen zeigen, zieht
diese Alternative gegenwärtig nicht. Sie hat spürbar an Anziehungskraft eingebüßt.
Als Gründe dafür nannte Karat die gewachsene Kluft zwischen Bevölkerung und Partei, Verärgerung
und Enttäuschung der Minderheiten, Nichtdurchsetzen der angestrebten volksfreundlichen
Maßnahmen sowie »gewisse Mängel« der Parteiführung. Zudem habe sich die Linksfront in
Westbengalen und besonders die KPI(M) brutaler Attacken seitens der oppositionellen Partei
Trinamool Congress sowie maoistischer Banden zu erwehren. Ihnen seien in anderthalb Jahren 225
Parteimitglieder zum Opfer gefallen. Der Generalsekretär versicherte, der Prozess zur Überwindung
dieses Zustands sei bereits im Gange.
Eine von dem Meeting verabschiedete Resolution konstatiert in diesem Zusammenhang: »Die
Wahlen zu den Volksvertretungen im Mai 2011 in Kerala und Westbengalen werden ein Kampf
zwischen den Kräften sein, die für die Interessen der arbeitenden Menschen, für soziale
Gerechtigkeit, für Säkularismus und für die Souveränität unseres Landes eintreten, und jenen
Kräften, die die Interessen der Großkapitalisten, Landbesitzer, der Reichen und jener Kreise
repräsentieren, die nach einer strategischen Allianz mit dem Imperialismus trachten und sich zur
Erreichung ihrer Ziele des Kommunalismus (religiös motivierter Zwist – H.K.), ultralinker Anarchie
und Spalterpolitik bedienen.«
Ausführlich debattierte man den Wirtschaftskurs von Premier Manmohan Singh. Die gesamte
Opposition protestiert derzeit so vehement gegen die seit Monaten anhaltende Teuerung, dass die
Sitzungen nahezu täglich abgebrochen werden mussten. Die Linken mobilisierten Hunderttausende
Menschen zu machtvollen Demonstrationen.
Die Food Corporation of India, die staatliche Ernährungsbehörde, habe 60 Millionen Tonnen
Getreide auf Lager. Doch da die Regierung das öffentliche Verteilungssystem beschnitten habe,
verrotteten Unmengen davon und erreichten die Hungernden und Unterernährten nicht. Im
Agrarsektor, wo die Hälfte der Arbeitskräfte Indiens beschäftigt ist, gebe es nur ein geringes
Wachstum. Landreformen würden rückgängig gemacht, staatliche Unterstützung für Bauern
abgebaut, Agrargroßunternehmen gefördert. Es werde nichts Ernsthaftes gegen die Agrarkrise
unternommen.
Die 370 Teilnehmer der Tagung übten scharfe Kritik an der Steuer- und Fiskalpolitik der Regierung.
Diese helfe dem Big Business, Superprofite zu machen und den Reichen und Mächtigen nationale
Ressourcen zuzuschieben. Dazu gehöre auch die verstärkte Privatisierung profitabler
Staatsunternehmen. Es wachse der Druck, den Banken- und Versicherungssektor für
Auslandsdirektinvestitionen zu öffnen. Nach wie vor grassiere Korruption auf allen Ebenen.
Zu einem zentralen innenpolitischen Thema, den jüngsten Unruhen im indischen Teil Kaschmirs, bei
denen bislang 50 Menschen getötet wurden, bezog Generalsekretär Karat eine klare Stellung. Die
Regierung sollte sofort einen Dialog mit allen Gruppen im Kaschmirtal aufnehmen. Die dortigen
Proteste machten die Intensität der Entfremdung junger Menschen vom indischen Staat deutlich.
»Den Menschen in Kaschmir muss zugesichert werden, dass ihre Identität und ihr Sonderstatus in
einem neuen politischen Rahmenwerk Ausdruck finden, in dem ein Maximum an Autonomie den
Grundstein bildet,« sagte er.
Welchen Einfluss die Ergebnisse der erweiterten ZK-Tagung auf die politische Landschaft Indiens
haben, bleibt abzuwarten. Immerhin machte die KPI(M) damit einige Tage lang Schlagzeilen – auch
in den bürgerlichen Medien Indiens.
** Aus: Neues Deutschland, 12. August 2010
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