Bevölkerung in Indien ist frustriert
Korruption und Teuerungsrate sind kein Ruhmesblatt für die Regierung
Von Henri Rudolph, Delhi *
Vor dem Unabhängigkeitstag am 15. August zeigt eine Umfrage: Trotz Wirtschaftswachstums von
über acht Prozent wächst in Indien die Unzufriedenheit. Die außerparlamentarische Opposition
erhält breite Zustimmung für ihr Engagement gegen Korruption.
Kurz vor dem Unabhängigkeitstag Indiens am 15. August veröffentlichte das Zentrum für Studien
sich entwickelnder Gesellschaften in Delhi eine Meinungsumfrage zum »Zustand der Nation«. Ende
Juli hatte das Institut mehr als 20 000 Personen repräsentativ befragt. So entstand eine Art Bilanz
zum Jahrestag, die nicht gerade für die von Premier Manmohan Singh geführte Regierung spricht.
Und das, obwohl das wirtschaftliches Wachstum gut über acht Prozent liegt.
Über die Hälfte der Befragten macht die Regierung zum Beispiel für den rasanten Preisauftrieb der
letzten Monate verantwortlich. Auch zum Thema Landerwerb gab es viel Kritik. Beim Verkauf von
Agrarland gehe es meist unfair zu und Bauern würden dabei enorm benachteiligt, äußerten 36
Prozent der Befragten. Sie glauben auch, dass sich insbesondere die Situation der Klein- und
Kleinstbauern in den letzten zwei Jahren verschlechtert habe.
Die Umfrage bestätigt viel Skepsis gegenüber der Öffnung der Wirtschaft für Auslandsfirmen, der
Privatisierung staatlicher Unternehmen und der Einführung einer Agrarsteuer. Bei der Einschätzung
der Wirtschaftslage insgesamt scheiden sich die Geister: Die Mittelklasse, die am meisten vom
neoliberalen Kurs profitierte, sieht die Situation positiv. Die Einkommensschwachen und Armen
gaben verschlechterte Bedingungen an. Und die Befragung zeigte, dass die Bevölkerung immer
stärker unter der verbreiteten Korruption leidet.
Hierzu zählt auch die Verschwendung öffentlicher Gelder sowie im Ausland gebunkertes
Schwarzgeld der Reichen. Seit dem Frühjahr engagiert sich der Sozialaktivist Anna Hazare, der
Gandhis Methoden des Hungerstreiks als Druckmittel gegen die Regierung anwendet, mit seiner
Bürgerbewegung für ein Antibestechungsgesetz. Er arbeitete über Monate mit Regierungsvertretern
am Entwurf eines solchen Gesetzes, wurde aber ausgebootet. Die Regierung legte dem Parlament
Anfang August einen Entwurf vor, der von der Bürgerbewegung als schwach und unehrlich
abgelehnt wird. Hazare und sein Team haben nun aus Protest für den 16. August einen
Hungerstreik in Delhi angekündigt und die Bevölkerung aufgerufen, am Unabhängigkeitstag aus
Solidarität zwischen 20 und 21 Uhr alle Lichter zu löschen und ab 16. August eine Urlaubswoche zu
nehmen.
Mehr als 50 Prozent der Bürger halten die gegenwärtige Regierung für korrupt. Premier Singh, der
bislang einen Ruf als Saubermann hatte, verlor an Ansehen. Polizeibeamte, Behördenangestellte,
Gemeinderäte, Personal an Gerichten und Volksvertreter werden als am bestechlichsten
eingeschätzt. Anna Hazare hingegen erfreut sich laut Umfrageergebnissen breiter Unterstützung. 39
Prozent der Befragten befürworten Aktionen der außerparlamentarischen Opposition.
Und wer soll Indien künftig regieren? 19 Prozent wollen Rajiv Gandhi, den Sohn der Kongress-
Chefin Sonia Gandhi, als nächsten Premier. Es folgen Manmohan Singh und Sonia Gandhi mit zehn
Prozent und mit fünf Prozent als erster Vertreter der Opposition Narendra Modi von der rechten
Indischen Volkspartei (BJP). 33 Prozent fordern die Ablösung des Premiers.
* Aus: Neues Deutschland, 15. August 2011
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