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Widerstand in Jaitapur

Indische Aktivisten wehren sich gegen den Bau des größten Atomkraftwerks der Welt

Von Anna Cavazzini und Janna Schönfeld *

In Jaitapur, zwischen der Metropole Mumbai und dem Urlauberparadies Goa, will die indische Regierung das größte Atomkraftwerk der Welt errichten. Mit Hilfe des französischen Konzerns Areva sollen sechs Druckwasserreaktoren entstehen. Die Bevölkerung rebelliert und Jaitapur wird zum Kristallisationspunkt der jungen indischen Anti-AKW-Bewegung.

Der Monsun hat dieses Jahr besonders früh eingesetzt. Das Meer ist genauso grau wie der Himmel, die Wellen schlagen meterhoch gegen die Steilküste. Ab und zu taucht ein Delfin aus der Gischt auf.

Rajendra Fatapekar steht am Rand der Klippe und trotzt dem Wind und den Regenschauern. Er ist ein Aktivist mit Herzblut, der sich stundenlang an der Politik der indischen Regierung erhitzen kann. Er zeigt die tiefen Risse im Hochplateau, die eines der letzten Erdbeben hinterlassen hat. Die Erde bebt hier regelmäßig: Zwischen 1985 und 2005 wurden 92 Beben gezählt. In Sichtweite liegt auf einer Halbinsel ein Stück die Küste hinunter der Ort, an dem die indische Regierung den größten Atomkraftwerkskomplex der Welt errichten will.

Ein Zentrum des Widerstandes ist Sakhari Nate, ein kleiner Ort neben dem geplanten Kraftwerk, der auf den Karten der AKW-Planer ebenso wenig verzeichnet ist wie die reichen Fischgründe der Region. 400 Fischerboote fahren hier auf Fang, neben Makrelen und Lachsen ziehen sie Hummer und Krabben aus den Fluten. Ein Teil davon wird exportiert, auch nach Europa.

Mehrere Milliarden Tonnen Kühlwasser sollen die sechs geplanten Reaktoren künftig jeden Tag ins Meer ablassen. Die daraus resultierende Erwärmung der See um mindestens sieben bis acht Grad könnte den Fischbestand zerstören, fürchten die in der Mehrzahl muslimischen Fischer. 15 000 Fischer in der Region wären direkt davon betroffen.

Abends versammeln sich die Dorfbewohner in der geräumigen Moschee, die Männer auf der rechten, die Frauen auf der linken Seite. »Das Kraftwerk wird unsere Lebensgrundlage zerstören. Die Regierung will uns mit dem Bau von Kühlhallen locken. Aber was sollen wir dort lagern, wenn unsere Fanggründe nicht mehr da sind?«, ruft einer der Männer in die Runde. Von allen Seiten kommen zustimmende Zurufe: »Wir geben nicht auf!«

Obwohl es bis jetzt noch keinen Liefervertrag mit dem französischen Konzern Areva gibt, sondern allein eine politische Absichtserklärung, hat die indische Regierung das Land, auf dem das Atomkraftwerk gebaut werden soll, schon mal beschlagnahmt, mit einer Mauer umfriedet und mit Polizisten zur dauerhaften Bewachung besetzt. Die Bauern sind verärgert, schließlich geht ihnen wichtiges Anbau- und Weideland verloren. Außerdem fürchten sie, dass austretende Radioaktivität ihre Produkte verderben wird, allen voran die weit über Indien hinaus berühmte Alphonso Mango, die Königin der indischen Mangos. Sie haben sich entschieden, die angebotenen Entschädigungszahlungen nicht anzunehmen und damit ihren Protest gegen die Pläne der Regierung zum Ausdruck zu bringen. Die Regierung wiederum lässt nichts unversucht, die Betroffenen zur Annahme der Zahlungen zu bewegen. Die Angebote wurden inzwischen mehrmals erhöht. Vielerorts kommen nahezu wöchentlich Beamte und Polizisten in die Häuser, um die Bewohner zu »überreden«. Aktivist Rajendra Fatapekar macht sich Sorgen: »Fällt eine kritische Masse der Bewohner um und nimmt das Geld an, könnte die Regierung mit dem Projekt voranschreiten und überall verbreiten, die örtliche Bevölkerung habe das Projekt nun akzeptiert.«

Es ist in Indien nicht ungefährlich, sich gegen die Atomkraft einzusetzen. Die Bevölkerung in Jaitapur kann davon ein Lied singen, sie leidet unter den Repressionen. Momentan herrscht Ausnahmezustand in der Region. Ein Gesetz aus der britischen Kolonialzeit, das eigentlich für Situationen wie Bürgerkrieg gedacht war, wird zur Anwendung gebracht. Es verbietet jede Ansammlung von über drei Personen. Nach früheren großen Protesten kam es zu mehr als 10 000 Anklagen, viele Verfahren laufen noch immer. Mehrere Hundert Aktivisten haben Tage und sogar Wochen in Untersuchungshaft verbracht. Die Einwohner durften tagelang ihre Häuser nicht verlassen. Einige Aktivisten aus Mumbai haben Einreiseverbot in die Region.

In Marathi, der Landessprache im Bundesstaat Maharashtra, erinnert eine Plakette an den Tod eines Dorfbewohners, der bei den letzten Protesten brutaler Polizeigewalt zum Opfer gefallen ist. »Sie haben ihm erst in die Brust geschossen, ihn dann in einen Jutesack gesteckt, auf den Hals getreten und in den Polizeiwagen geworfen. Als er im Krankenhaus ankam, lebte er nicht mehr«, erzählt eine Fischersfrau. »Meinem Sohn haben sie mit einem Stein auf den Kopf geschlagen«, fügt eine Nachbarin hinzu und schiebt das Haar ihres 15-jährigen Kindes zurück, um die Narbe zu zeigen.

Kumar Sundaram, der von Delhi aus die lokalen Bewegungen als Koordinator der Koalition für Nuklearabrüstung und Frieden unterstützt, berichtet von den Schwierigkeiten, mit denen seine Organisation zu kämpfen hat. Die Homepage mit kritischen Artikeln zur indischen Atompolitik wird regelmäßig gehackt, das Konto einer anderen Organisation, bei der sich die Koalition eingemietet hat, wurde eingefroren.

Indien ist eines der Länder, die ihre Atomkraftwerksindustrie in großem Stil ausbauen wollen. Von 4,78 Gigawatt im Jahr 2009 auf 470 Gigawatt möchte Premierminister Manmohan Singh die Leistung der Atomkraftwerke bis zum Jahr 2050 erhöhen. Diese Verhundertfachung entspräche mehr als der derzeitigen globalen Atomstromproduktion. Während Deutschland der Atomkraft den Rücken zukehrt und der Widerstand gegen »Atomstrom« auch andernorts zunimmt, spricht Singh von einer »nuklearen Renaissance«. Um sich zu entwickeln, »modern« zu sein und im Wettlauf der Nationen mithalten zu können, sei der Atomstrom unverzichtbar, behaupten indische Regierungschefs seit Jahrzehnten. Indien erwartet einen rasanten Anstieg seines Energiebedarfs und die Elite des Landes ist sicher, dass es zur Befriedigung dieses Bedarfs mehr Atomkraft braucht. Kritische Stimmen von Entscheidungsträgern sind selten, alle relevanten politischen Parteien stehen für die Ausbaupläne.

Nach dem indischen Atombombentest von 1998 schmiedeten westliche Staaten unter Führung der USA eine Blockade gegen das zivile Atomprogramm des Landes. Doch aus geopolitischen Erwägungen hob die Regierung unter George W. Bush diese Blockade durch den US-amerikanisch-indischen Nuklear-Deal 2008 wieder auf. Seitdem plant Delhi, nukleare Technologie im großen Stil zu importieren. In Unternehmen der USA, Frankreichs und Russlands leckt man sich die Münder.

Allerdings freuen sie sich vielleicht zu früh. Denn die betroffene Bevölkerung ist fest entschlossen, den Bau der Kernkraftwerke zu verhindern. »Areva go back!«, schreiben sie, an den französischen Staatskonzern gewandt, in großen Buchstaben auf Brunnen, Bushaltestellen und Moscheen. Die Kostenschätzungen für Jaitapur werden indessen regelmäßig nach oben korrigiert. Damit würde der Strom deutlich teurer als aus anderen Stromquellen. Die Handelsverträge sind noch nicht unterzeichnet.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 20. Juli 2013

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