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Kopfloser Abzug oder überlegte Exit-Strategie? Die Niederländer verlassen Afghanistan

Ein Beitrag von Franz Feyder aus der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Ulrike Bosse (Moderation)
Als „Maßstab für andere“ hat NATO-Generalsekretär Rasmussen den Einsatz der niederländischen Truppen in Afghanistan gelobt. Doch die Niederländer, die seit 2006 in der südlichen Unruheprovinz Uruzgan gegen Taliban kämpften und sich um Entwicklung bemühten, ziehen ab. Nicht mit einigen Einheiten, sondern ganz. Ob sie damit einer überlegten Exitstrategie folgen oder ob es doch eher ein kopfloser Abzug ist, dazu Franz Feyder:

Manuskript Feyder:

Mohammed Daoud ist der stolze Führer der Durannis. 25.000 Menschen folgen in der afghanischen Unruheprovinz Uruzgan den Entscheidungen des soft wirkenden Mitzwanzigers. Eine Autorität, die Daoud von seinem Vater Rozi Kahn erbte. Der Haudegen schoss vor drei Jahren niederländische Soldaten aus einer Falle der Taliban – und verblutete dann 2009 selbst im Kugelhagel australischer Friedenshüter. Versehentlich, wie die Soldaten aus Down Under beteuern.

In diesen Tagen ist der stolze Mohammed Daoud verzweifelt: Ab diesem Wochenende verlassen die niederländischen Soldaten die Unruheprovinz Uruzgan im Zentrum Afghanistans. Jetzt, ist Daoud überzeugt, bleiben im nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Taliban um Schutz anzuflehen oder mit seinem Volk die angestammten Siedlungsgebiete zu verlassen.

Im 5200 Kilometer entfernten Den Haag ärgert sich auch angesichts solcher Alternativen Professor Rob de Wijk über den Rückzug seiner Landsleute vom Hindukusch:

O-Ton de Wijk:
„Aus meiner Sicht ist der ganze Rückzug unverantwortlich. Ich bin da nicht stolz auf das, was mein Land politisch macht. Es war rein politisches Kalkül, der Sozialdemokraten: Sie wollten die Koalition und damit die Mission in Afghanistan nur aus Wahlkampftaktischen Gründen nicht fortsetzen.“

Immer noch wurmt den Direktor des Institutes für Strategische Studien in Den Haag, dass im Februar 2010 nach 16 Stunden erbitterter Verhandlungen die niederländische Regierung aus Christ- und Sozialdemokraten zerbrach. Das Kabinett hatte darüber gestritten, ob es am 1. August 2010 die 1.950 niederländischen Soldaten aus Afghanistan abziehen sollte oder nicht. So, wie die Politiker es in den Koalitionsvereinbarungen drei Jahre zuvor festgeschrieben hatten. Obwohl das Thema Afghanistan im Koalitionspoker keine Rolle spielte, wie Mark Kranenburg beobachtete. Der außenpolitische Korrespondent der führenden niederländischen Tageszeitung NRC-Handelsblad:

O-Ton Kranenburg:
„Die hatten schon Probleme miteinander, als sie eine Koalition bildeten. Sie konnten die Regierung wegen Afghanistan platzen lassen – wie sie es auch getan haben. Oder sie hätten sie ein paar Wochen später wegen eines innenpolitischen Themas zerbrechen lassen können. Ein lustiges Detail war dann, dass im späteren Wahlkampf dann die Afghanistan-Mission überhaupt keine Rolle mehr gespielt hat. Da ging es nur um Sozial- und Wirtschaftspolitik."

In die unwirtliche, hart umkämpfte Provinz hatte Premier Jan Peter Balkenende seine Soldaten 2006 geschickt. Bis zu 2.400 Niederländer versuchten, den Willen der afghanischen Zentralregierung umzusetzen, die Region aufzubauen und die Taliban aus ihr fernzuhalten. Für Kranenburg mit mäßigem Erfolg:

O-Ton Kranenburg:
„Aus militärischer Sicht sieht man nicht viel Erfolg in Uruzgan. Wir reden in den Niederlanden immer viel über das Drei-D-Konzept, also Diplomatie, Entwicklung und Verteidigung. Und wenn die Holländer da über Ergebnisse reden, dann muss man sich besonders die Entwicklungshilfe anschauen.“

Und die, resümiert der Journalist, sei nicht beeindruckend.

Trotzdem hatten seit September 2009 immer wieder US-Präsident Barrack Obama, sein halbes Kabinett und der NATO-Generalsekretär Rasmussen die Regierung um den Christdemokraten Balkenende gedrängt, noch ein, zwei Jahre die Truppen am Hindukusch zu belassen. Der Abzug der niederländischen Truppen könnte alle Pläne NATO über den Haufen werfen. Für das Bündnis befürchte Washington einen Dominoeffekt, gestanden amerikanische Regierungsvertreter kürzlich de Wijk, der auch die NATO in strategischen Fragen berät:

O-Ton de Wijk:
„Ich glaube, es wird den NATO-Einsatz in Afghanistan untergraben. Aus zwei Gründen: Zunächst ist es ein moralischer Erfolg der Taliban. Wenn sich die Koalition selbst schwächt, ist das ein Erfolg für die und sie werden ihren Kampf fortsetzen. Und zweitens ist es ein sehr schlechtes Signal für die Alliierten und für die Allianz, weil es den Erfolg der gesamten Einsatzes in Afghanistan in Frage stellt.“

Obama sieht seine Afghanistan-Strategie aus gutem Grund in Gefahr: Nach dem Crash der Regierung Balkenende beschloss zunächst Kanada, seine Truppen bis Ende 2011 abzuziehen, Polen will seine Soldaten bis Dezember 2013 nach Hause holen.

Dass gerade die sonst so bündnistreuen Niederländer den Anfang vom Ende der Afghanistan-Mission machen könnten, hatte niemand auf dem Zettel. Einen Imageschaden befürchten gerade konservative niederländische Politiker. Zudem werden Schmähungen selbst im eigenen Land laut: Ähnlich wie in Bosnien 1995 würden die Untertanen von Königin Beatrix Menschen in Not im Stich lassen. In der Enklave Srebrenica, wird den seinerzeit dort eingesetzten Blauhelmen vorgeworfen, hätten sie der serbischen Soldateska tatenlos zugeschaut, die 8.000 Muslime massakrierte. Bis heute ein Trauma für das Königreich. Das diskutiert seitdem intensiv über sein militärisches Engagement. Mark Kranenburg:

O-Ton Kranenburg:
„Einer der Gründe, warum so viele Menschen in den Niederlanden ein Problem mit Militäreinsätzen im Ausland haben ist, dass sie in Uruzgan einen Krieg sehen, der nicht zu gewinnen ist. Der Unterschied zu Srebrenica ist da nur der, dass wir jetzt auch viele niederländische Verluste haben. Während des Einsatzes in Srebrenica hatten wir einen toten Soldaten.“

Bis heute fielen 23 Soldaten in Kämpfen mit den Islamisten am Hindukusch – unter ihnen auch der Sohn des Generalstabschefs. Trotzdem kämpfte General Peter van Uhm noch bis kurz vor dem Regierungsende der schwarz-roten Koalition in Den Haag engagiert dafür, die Truppen in Uruzgan zu belassen. Gegen die Meinung von 66 Prozent Bevölkerung, die den Abzug fordert. So, wie in den meisten truppenstellenden Ländern die Mehrheit der Menschen einen Ausstieg aus der Mission fordert. Die Blaupausen dafür hat die Allianz längst gezeichnet. So weiß de Wijk:

O-Ton de Wijk:
„Die Ausstiegsstrategie ist einfach: Erst Truppenverstärkungen, dann versucht man, die Kämpfe besonders im Süden auf ein niedrigeres Niveau zu bringen, erklärt den Sieg und zieht ab.“

Wenn es denn noch zum selbsterklärten Sieg kommt. Rob de Wijk hat seine Zweifel daran. Denn der niederländische Abzug, aber auch die Veröffentlichung zehntausender, teilweise geheimer Dokumente über den Afghanistan-Einsatz am Wochenanfang stärke die Taliban. Der Wissenschaftler ist überzeugt:

O-Ton de Wijk:
„Alles was gerade passiert, ist großartig für die Taliban. Manchmal wundere ich mich über deren strategischen Möglichkeiten: Sie können weiterkämpfen – das tun sie im Moment. Oder was sie aber auch machen können, ist nichts tun.“

Das Ergebnis sei gleich: Die NATO drohe – wie zuvor die Russen und Engländer – am Hindukusch zu scheitern.

O-Ton de Wijk:
„Ich glaube, da ist eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die NATO in Afghanistan scheitert. Und diese Wahrscheinlichkeit wächst von Monat zu Monat.“

Die NATO nehme dabei schweren Schaden, ist de Wijk überzeugt und fährt fort:

O-Ton de Wijk:
„Ich glaube nicht, dass die NATO sich dann auflöst. Aber ihre Glaubwürdigkeit ist dann schwer beschädigt. Der Schlüssel zum Erfolg für ein Bündnis ist seine Glaubwürdigkeit. Und wenn man in einem entwicklungsschwachen Land wie Afghanistan scheitert, dann hat man ein richtig großes Problem.“

* Quelle: NDR-Forum STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 31. Juli 2010; www.ndrinfo.de


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