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Vier verlorene Jahre für Haiti

Nach dem Beben ist so gut wie alles schief gelaufen

Von Hans Ulrich Dillmann, Santo Domingo *

Auf die Frage, was gut und was schlecht nach dem haitianischen Erdbeben im Januar 2010 gelaufen sei, hat die ehemalige Ministerpräsidentin Michèle Pierre-Louis eine kurze und bündige Antwort: »So gut wie alles ist schief gelaufen.« Und die 66-jährige Politikerin steht mit diesem Urteil nicht allein.

Entwicklungshelfer und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen loben zwar die internationale Hilfe nach dem »Goudou Goudou«. So nehmen die Haitianer inzwischen lautmalerischen Bezug auf den ohrenbetäubenden Lärm, als die Erde rund um die Hauptstadt Port-au-Prince erzitterte und zwischen 250 000 und 300 000 Menschen in den Tod riss. Die Entwicklung des Landes zeichnen die Helfer allerdings in düsteren Farben.

Zehntausende Häuser sind zerstört, die staatliche Infrastruktur ist durch den Zusammenbruch der Ministerienbauten kollabiert und der Großteil der Bestände der zentralen Liegenschafts- und Standesämter ist pulverisiert. Das macht die Kontrolle des Personenstandswesens und der Besitztitel schwierig bis unmöglich.

Dazu kam eine Choleraepidemie, die das schon vorher defizitäre Sanitärsystem völlig überforderte. Mehr als 8000 Menschen starben an der Darminfektion. Und welch eine Ironie: Die Cholera war über Jahrzehnte verschwunden und wurde von infizierten Mitgliedern der UN-Sicherheitstruppe eingeschleppt.

Ein »Jahr der verpassten Chancen für den Wiederaufbau Haitis«, bilanzierte der Leiter der britischen Hilfsorganisation Oxfam in Haiti, Roland van Hauwermeiren, bereits das Jahr 2010. Drei weitere verlorene Jahre folgten. Und jeder Sturm, und davon gab es in den letzten Jahren einige, verschärft die Situation des Landes. Die Wälder sind abgeholzt, die Erde in dem bergigen Land ist ausgelaugt.

Auch wenn die Mehrzahl der Zeltstädte verschwunden ist, müssen nach wie vor ungefähr 170 000 haitianische Frauen, Kinder und Männer unter improvisierten Zeltplanen leben. Zwar sind viele Trümmerberge abgetragen, der Eisenschrott ist in die Hüttenbetriebe der USA verschifft oder erneut verbaut worden, erste Wohnsiedlungen sind am Rande der Stadt entstanden, alte Häuser wurden wieder bewohnbar gemacht. Doch nach wie vor ist Haiti in Sachen Sicherheit auf die Militär- und Polizeimission MINUSTAH der Vereinten Nationen angewiesen.

Wirtschaftlich hat sich im Armenhaus Lateinamerikas seit dem »grollenden Monster« wenig oder gar nichts geändert. Nach wie vor leben rund 80 Prozent der Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze von zwei Dollar pro Tag. Ohne die jährlich zwei Milliarden Dollar, die die haitianischen Migranten an ihre Familien zu Hause schicken, könnten die wenigsten Armen überleben.

In Port-au-Prince können auch halbwegs Begüterte kaum die Mieten bezahlen. Hotels entstanden, wo sich Unternehmensberater, Projektentwickler, Städteplaner und Entwicklungsexperten abends bei kühlem Bier oder Cocktails von der Last des Alltags zu Preisen entspannen, von denen eine haitianische Familie eine ganze Woche leben könnte. Viele der fast zehn Milliarden Dollar an zugesagten Hilfsgeldern wurden noch immer nicht ausgezahlt, weil die Kontrolle über die Ausgabepraxis der staatlichen Institutionen schwierig ist und Bewilligungen ewig dauern – ohne Korruption läuft nichts.

Auch die Hoffnung auf einen politischen Umschwung hat sich inzwischen verflüchtigt. Er werde alles besser machen, hatte der einstige Sänger und jetzige Präsident Michel Martelly vor den Wahlen im Mai 2011 versprochen. Auf den unkonventionellen Musiker setzten viele ihre Hoffnung. Aber »Tet Kale«, der »Kahlkopf«, wie er auch gerufen wird, zeigte schnell, wes Geistes Kind er ist, als er sich mit Beratern aus dem Umfeld von Exdiktator Jean-Claude Duvalier umgab und aus seiner Nähe zu Mitgliedern der haitianischen Todesschwadronen kein großes Geheimnis mehr machte.

Zusätzlich waren Martelly politisch die Hände gebunden, denn im Parlament sitzen nur drei Abgeordnete seiner Partei Repons Peyisan, im Senat keiner. Und um Gesetze umzusetzen, muss er sich das Wohlwollen der Abgeordneten im wahrsten Sinne des Wortes erkaufen. Längst müssten Regional- und Senatswahlen stattgefunden haben, aber Martelly verhindert sie mit immer neuen Tricks, aus Angst, die Oppositionsparteien könnten gestärkt werden.

Auf der Liste der ärmsten und katastrophenanfälligsten Länder ist Haiti unter den ersten zehn zu finden.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 28. Dezember 2013


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