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Vom Nein zum Ja?

Von Thomas Sablowski

Statt Konzessionen zu machen hätte SYRIZA eine Alternative: Banken unter öffentliche Kontrolle bringen, raus aus der Eurozone und gegenüber den Kapitaleignern in die Offensive gehen, meint Thomas Sablowski.

Die Vorschläge der griechischen Regierung vom 9.7. unterscheiden sich nur geringfügig von den Forderungen der Gläubiger vom 26.6., die die Mehrheit der griechischen Wähler mit dem Referendum am 5.7. ablehnte.

Wie bereits seit ihren Vorschlägen vom 22.6. ist die griechische Regierung bereit, die Mehrwertsteuer zu erhöhen – eine verteilungspolitisch regressive Maßnahme, die SYRIZA zuvor abgelehnt hatte (eine der »roten Linien«). Dabei hat die griechische Regierung inzwischen alle Forderungen der Gläubiger akzeptiert, bis auf den Mehrwertsteuersatz für die Hotels, den die Gläubiger von gegenwärtig 7 Prozent auf 23 Prozent erhöhen wollen, die griechische Regierung dagegen »nur« auf 13 Prozent. Inzwischen hat letztere sogar die Abschaffung des 30-prozentigen Rabatts auf die Mehrwertsteuer auf den griechischen Inseln akzeptiert, die sie noch am 30.6., als sie erstmals einen Kredit im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) beantragte, zurückgewiesen hatte. Die Mehrwertsteuermehreinnahmen sollen insgesamt ein Prozent des BIP betragen.

Die griechische Regierung hat auch in Bezug auf die Rentenreform die Forderungen der Gläubiger akzeptiert. Rentenkürzungen sollen bereits 2015 Einsparungen in Höhe von ¼ bis ½ Prozent des BIP und 2016 Einsparungen in Höhe von einem Prozent des BIP erbringen. Zu diesem Zweck soll die Frühverrentung eingeschränkt und das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre (oder 62 Jahre bei 40 Beitragsjahren) gesteigert werden. Die Solidarzuwendungen (EKAS) sollen bis Ende 2019 auslaufen. Für die oberen 20 Prozent der Zuwendungsempfänger sollen sie bereits in diesem Jahr auslaufen. Die Krankenkassenbeiträge der Rentner sollen von 4 Prozent auf 6 Prozent gesteigert werden, und dabei sollen auch die Zusatzrenten fortan in die Berechnung einbezogen werden. Und noch einige Maßnahmen mehr. Insgesamt entsprechen die jetzt von der Regierung angebotenen Rentenreformen genau denen, die von den Gläubigern vor dem Referendum gefordert wurden.

Auch die Privatisierungspläne der Gläubiger hat die Regierung vollständig akzeptiert. Neben den Privatisierungen sind zahlreiche weitere Liberalisierungsmaßnahmen geplant. Die Vorschläge der griechischen Regierung entsprechen also fast genau den Forderungen der Gläubiger, die sie noch eine Woche zuvor abgelehnt hatte.

Tsipras hat argumentiert, die griechische Regierung hätte kein Mandat, die Eurozone zu verlassen. Aber hat die Regierung nach dem Referendum ein Mandat, diese Sparmaßnahmen mit den Gläubigern zu vereinbaren?

Sicherlich hat Tsipras schon vor dem Referendum deutlich gemacht, dass er mit den Gläubigern weiter verhandeln will. Er hat argumentiert, mit einem »Nein« beim Referendum würde sich die griechische Verhandlungsposition verbessern. Hat sich die griechische Verhandlungsposition verbessert? Wenn man die aktuellen Reformpläne anschaut, wird man diese Frage verneinen müssen. Was erhält Griechenland als Gegenleistung der Gläubiger für all diese Konzessionen? Der Antrag auf einen ESM-Kredit dient lediglich dem Zweck, den laufenden Refinanzierungsbedarf des griechischen Staates zu decken, und zwar nach dem Antrag vom 30.6. für zwei Jahre, nach dem Antrag vom 8.7. für drei Jahre. In den Briefen von Tsipras und Tsakalotos vom 8. und 9. Juli an die Gläubiger wird dieser Finanz-bedarf noch nicht einmal konkret beziffert. In den Medien wird allerdings eine Zahl von mehr als 53 Milliarden Euro kolportiert.

Das entspricht nahezu den Berechnungen in der Schuldentragfähigkeitsanalyse des IWF vom 26. Juni. Dort hatten Mitarbeiter des IWF den Finanzbedarf des griechischen Staates für den Zeitraum von Oktober 2015 bis Ende 2018 auf 51,9 Mrd. Euro beziffert. Dabei dürfte die Schätzung des IWF wie alle seine vorangegangenen Prognosen für Griechenland wieder zu optimistisch sein. Denn für die Wiederauffüllung des Hellenic Financial Stability Fund (HFSF), der der Bankenrekapitalisierung dienen soll, sind in der Aufstellung des IWF nur 5,9 Milliarden Euro vorgesehen.

Dies dürfte aber nicht reichen, zumal sich die Finanzlage der Banken in den letzten zwei Wochen drastisch verschlechtert hat. Außerdem rechnet der IWF für dieses Jahr mit null Prozent Wachstum des BIP; nach der Schrumpfung des BIP im ersten Halbjahr dürfte es jedoch kaum noch möglich sein, diese auszugleichen. Es ist also für das Jahr 2015 mit Negativwachstum zu rechnen. Und für 2016 rechnet der IWF bereits mit 2 Prozent Wachstum, für 2017 mit 3 Prozent. Das scheint sehr hoch gegriffen. Im besten Fall würde ein ESM-Kredit in der genannten Höhe also gerade dazu reichen, die vertraglich vereinbarten Zins- und Tilgungszahlungen auf die griechische Staatsschuld für die nächsten drei Jahre zu bestreiten, wahrscheinlich aber nicht einmal das.

Es handelt sich hier demnach um eine kurzfristige Umschuldung. Die Atempause wäre etwas länger als vor dem Auslaufen des zweiten »Hilfsprogramms«, als nur über einen Überbrückungskredit für wenige Monate verhandelt wurde. Der ESM würde gewissermaßen die Zahlungen an den IWF und die EZB übernehmen. Die Verhandlungskonstellation für einen längerfristigen Schuldenschnitt oder eine längerfristige Umschuldung würde sich dadurch eventuell vereinfachen, wobei freilich noch nicht ausgemacht ist, dass der IWF und die EZB nicht doch längerfristig im Boot bleiben.

Die Frage eines Schuldenschnitts bzw. einer längerfristigen Umschuldung scheint aber auch jetzt wieder ausgeklammert oder nicht verbindlich behandelt zu werden. Dabei war dies einer der Gründe für die Zurückweisung der Gläubigerforderungen durch die griechische Regierung vor dem Referendum. Noch wichtiger aber: Finanziellen Spielraum für eine alternative Wirtschaftspolitik würde die griechische Regierung durch diese Vereinbarung mit den Gläubigern nicht erhalten.

Wie die früheren Memoranden würde diese Vereinbarung lediglich verhindern, dass die Gläubiger ihre Forderungen abschreiben müssen. Außerdem würde verhindert, dass Griechenland unter dem Druck der Gläubiger in den nächsten Tagen eine neue Währung einführen muss. Umfangreiche Investitionsprogramme bzw. ein keynesianisch orientiertes deficit spending, die eigentlich notwendig wären, um die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, sind bei den geplanten Primärüberschüssen jedenfalls nicht möglich. Die Regierung könnte zwar endlich ihre Ankündigungen wahr machen und die Reichen steuerpolitisch stärker zur Kasse bitten, aber ob das angesichts der jetzt geplanten rezessiven Maßnahmen und angesichts des Investitionsstreiks der Kapitalisten ausreicht, um Handlungsspielräume zu gewinnen, darf bezweifelt werden.

Warum lässt sich die griechische Regierung auf genau die Maßnahmen ein, die sie bis vor kurzem bekämpft hat? Offenbar funktioniert die Erpressung, die mit der finanziellen Strangulierung durch die Troika und die Eurogruppe verbunden ist. Sie hat bereits im Februar funktioniert, denn ohne die finanzielle Strangulierung hätte SYRIZA wohl nicht das Abkommen vom 20. Februar unterzeichnet. Sie funktionierte im Juni, wie die Vorschläge der Regierung seit dem 22. Juni zeigen. Und sie funktioniert auch nach dem Referendum, das bereits Makulatur zu sein scheint.

Selten ist der Widerspruch zwischen Kapitalismus und Demokratie derart offensichtlich gewesen. Die Erpressungen werden fortgesetzt werden, falls es zu einem ESM-Kredit kommt. Dieser wird in Raten ausgezahlt, und die Raten werden wie bisher an die Überprüfung der griechischen Regierungspolitik durch die Gläubiger gebunden sein. Das alte Spiel geht also weiter.

Es gäbe freilich eine Alternative, die darin bestünde, wie vom linken Flügel in SYRIZA gefordert, die Banken unter öffentliche Kontrolle zu bringen, aus der Eurozone auszusteigen und gegenüber den Kapitaleignern in die Offensive zu gehen. Vor diesem Weg schreckt die Regierung zurück. Er wäre sicherlich sehr riskant und führte ins Ungewisse. Mit der Konzessionspolitik verspielt SYRIZA jedoch die Unterstützung, die sie gegenwärtig noch bei jenen hat, die nichts oder jedenfalls nicht mehr viel zu verlieren haben.

Die Linke scheitert, wenn sie sich zu weit von den Massen entfernt. Und sie kann sich auf zwei Arten von den Massen entfernen und scheitern: Indem sie im Verhältnis zu den geschichtlichen Möglichkeiten zu weit voranprescht oder indem sie diese nicht ausnutzt und ihnen hinterher hinkt.

Thomas Sablowski ist Politikwissenschaftler und Referent für politische Ökonomie der Globalisierung des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

* Aus: neues deutschland (online), Sonntag, 12. Juli 2015


Gegen das linke Grexit-Gerede

Von Thomas Seibert **

Die linken Freunde einer Zukunft Griechenlands jenseits des Euro machen einen schweren Fehler. Thomas Seibert über Schäubles Projekt und das Dilemma von SYRIZA.

Der Grexit ist, jetzt ist es offiziell, zunächst einmal das Projekt Schäubles. Er ist das politische Projekt einer bestimmten Partei des Kapitals, nicht des Kapitalismus als solchen: der hat größere Spielräume, könnte mit einer milderen oder gar keiner Austeritätspolitik auskommen, könnte ein Schuldenmoratorium oder einen –schnitt zulassen.

Wenn die Schäuble-Partei durchmarschiert, hängt das wesentlich an der 70-Prozent-Zustimmung im eigenen Land, ist damit ein Problem der Linken in Deutschland (und erweitert Kerneuropas). Darauf zu setzen, dass sich auf der Kapitalseite eine andere Partei durchsetzt, war gleichwohl nicht falsch und könnte sich noch immer als tragfähige Option erweisen: das werden die nächsten Stunden und Tage zeigen.

61 Prozent der Griech*innen haben bei einer Wahlbeteiligung von 50 Prozent mit OXI gestimmt. Das war definitiv ein Votum gegen die Schäuble-Forderungen, aber zu keinem Zeitpunkt ein Votum für den Grexit, denn die Ablehnung der Schäuble-Forderungen war zugleich an den Willen zum Verbleib im Euro gekoppelt: erklärtermaßen, immer wieder.

Das Votum war in sich links, aber kein Votum einer mehrheitlich linken Gesellschaft, die sich als solche will – die Mehrheit der OXI-Wähler*innen haben ihre Erniedrigung und Verelendung zurückgewiesen und ihre Würde behauptet, aber nicht für einen Bruch mit den herrschenden Verhältnissen und die daraus erwachsenden Konsequenzen gestimmt: das zu unterstellen, ist Sozialromantik im pseudoradikalen Sinn des Worts.

Der wichtigste Punkt: Den Grexit jetzt von links durchzuziehen hieße, ihn gestützt auf eine Minderheit der OXI-Wähler*innen durchzuziehen, tendenziell gegen die Mehrheit der OXI-Wähler*innen, definitiv gegen die NAI-Wähler*innen und offensichtlich gegen einen erheblichen Teil der Nicht-Wähler*innen. Unstrittig ist, dass der Grexit mindestens zunächst (für mehrere Jahre) in rapide Verelendung führt, bei Privilegierung aller, die Zugang zu Euros haben oder gehen werden.

Darin liegt: Der Grexit von links würde gegen den erklärten Widerstand einer wachsenden Hälfte der Griech*innen durchgezogen. Dieser Widerstand würde mit Sicherheit zum militanten Widerstand werden, er würde von außen in jeder erdenklichen Form gestützt werden, die Zahl der linken Grexit-Befürworter*innen würde sich weiter verringern.

Das linke Grexit-Griechenland würde im 21. Jahrhundert den Sozialismen des 20. Jahrhunderts ein Nachzugsprojekt hinzufügen: die autoritär-sozialistische Verwaltung eines Elendszustands, dessen Befürworter*innen eine ideologischen Dividende (»sozialistisches Griechenland, voran, voran, die Zukunft wird strahlend sein!«) ausgezahlt wird, die immer weniger Leute zufriedenstellt, je länger der Zustand andauert.

Alle Erfahrung des 20. Jahrhunderts lehrt, dass ein Kampf um radikale Emanzipation dann unter schlechtestmöglichen Bedingungen zu führen sein wird: die politische und moralische Verwüstung der ex-realsozialistischen Gesellschaften und die Ausstrahlung dieser Verwüstung auf die ganze Welt lässt da keine Illusion zu: Sie war und ist die erste Bedingung der neoliberalen Hegemonie.

Auf den linken Grexit zu verzichten, heißt für die aktuelle SYRIZA-Regierung offensichtlich, die Schäuble-Forderungen hinzunehmen und den Akzent auf die Schuldenfrage zu setzen. Das ist kein »Verrat«, sondern schlicht die Anerkennung der herrschenden Machtverhältnisse und ihrer Exekution durch die Schäuble-Partei – nochmals: gestützt von 70 Prozent der Deutschen, der Kerneuropäer*innen, der Bewohner*innen der ex-realsozialistischen Länder. Gemessen am Aufbruch und am Tag des Referendums wird das, selbst wenn es partiell gelänge, eine Niederlage sein, nicht nur SYRIZAs, sondern der ganzen Linken, jedenfalls all derer, die das SYRIZA-Projekt als Kampf um ein anderes Europa geführt haben.

Eine solche Niederlage muss aber kein Ende sein, sondern kann zum Anfang der jetzt zu führenden Kämpfe werden. Diese Kämpfe werden nicht »einfach« sein: nicht bloß, weil sie schwer, sondern weil sie an mehreren Fronten zugleich zu führen und zugleich in sich konfliktiv sein werden. Sie werden vermutlich (das ist momentan aber noch gar nicht zu entscheiden) nicht mehr ein Kampf sein, dessen erster Akzent auf Regierungshandeln liegt: zurück also zur Situation vor dem Januar 2015.

Was der griechische Widerstand errungen hat und woran er festhalten kann – von der Demokratie der Plätze bis zur Politisierung des Alltags und der Adoption einer politischen Partei – hängt nicht an der Politik der SYRIZA-Regierung, sondern kann in (vielleicht sogar solidarisch bleibender) Distanz zu ihr, auch in Konfrontation mit ihr fortgesetzt werden: da ist vieles Neues möglich, unerprobte, noch nicht gegangene Schritte eines erst zu erfindenden Sozialismus des 21. Jahrhunderts von unten. In seinen radikalen und von daher eher minderheitlichen Formen wird er, wie überall, ein Setzen auf den kommenden Aufstand sein. Ein solcher Aufstand aber ist mit dem Projekt eines linken Grexit und der zwangsläufig autoritären Durchsetzung eines neo-realsozialistischen Elendsregimes nicht zu verwechseln, weil seine Militanten nur im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten handeln und deshalb nicht versuchen werden, andere zur Befreiung und zum Glück zu zwingen. Dieser Unterschied ist ein Unterschied ums Ganze.

Noch gibt es keinen Grund, SYRIZA die bis heute gewährte Solidarität – die viel zu schwach war und zur aktuellen Niederlage wesentlich beigetragen hat – zu entziehen. Im Gegenteil: von dem was es heißt, mit dem griechischen Aufbruch solidarisch zu sein, wissen wir viel zu wenig, weil uns viel zu wenig gelungen ist. Das Verrats-Krakeele ist vor diesem Hintergrund eine ungeheuerliche Anmaßung, ebenso lächerlich wie widerwärtig.

Thomas Seibert ist Philosoph, Aktivist und in verschiedenen sozialen Bewegungen und politischen Zusammenhängen aktiv.

** Aus: neues deutschland (online), Sonntag, 12. Juli 2015


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