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Georgien zählt und streitet weiter

Präsidentenwahl ist längst nicht entschieden

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Zufall oder nicht: Als Georgien am Montag das orthodoxe Weihnachtsfest beging, trafen sich Michail Saakaschwili und Lewan Gatschetschiladse, der Kandidat der Opposition bei den vorgezogenen Präsidentenwahlen von Sonnabend, in der Kirche. Beide schüttelten sich die Hände, Saakaschwili hatte zuvor sogar erklärt, das Abschneiden seines Herausforderers hätte ihn »begeistert«.

Schon am Dienstag war es mit der Harmonie vorbei: Gatschetschiladse und dessen Anhang stürmten das Büro von Georgiens oberstem Wahlleiter, Lewan Tarchinischwili, und forderten von diesem Direktverhandlungen mit der Opposition. Gleichzeitig warfen sie der Zentralen Wahlkommission »gewissenlosen Betrug« und flächendeckende Fälschungen vor.

Diese hat am Dienstagmittag die Stimmen von 3070 der insgesamt 3512 Wahlbezirke ausgezählt. Demzufolge kam Saakaschwili auf 52,1 Prozent, Gatschetschiladse auf knapp 25. Die Zahlen, so tobten dessen Anhänger, würden als solche zwar stimmen, seien jedoch falsch zugeordnet worden: Die Zustimmungsraten, die Saakaschwili angeblich kassiert, seien in Wahrheit die von Gatschetschiladse, dazu hätte die Zentrale Wahlkommission die Zählprotokolle aus den Wahlbezirken einfach umgeschrieben.

Die Opposition will daher klagen und notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen. Auch drohten deren Führer bereits mit neuen Massenprotesten gleich nach den Feiertagen. Zumal dann auch das amtliche Endergebnis erwartet wird.

Nahziel der Opposition ist ein zweiter Wahlgang. Denn eine Stichwahl, darin sind sich einheimische wie westliche Beobachter weitgehend einig, käme für Saakaschwili einer Katastrophe gleich. Obwohl er im ersten Wahlgang fast das Doppelte an Stimmen einfuhr wie Gatschetschiladse. Die anderen Kandidaten der Opposition nämlich haben ihre Wähler inzwischen aufgerufen, bei einer Stichwahl für Gatschetschiladse zu stimmen. Und die Chancen, dass es doch noch zu einem zweiten Wahlgang kommt, stehen nicht schlecht.

Zum einen ändern sich die Daten weiterhin ständig. Am Dienstagmittag kam Saakaschwili zwar auf über 52 Prozent, am Montagabend lag sein Ergebnis jedoch erneut nur knapp über 50 Prozent. Sein Vorsprung ist daher so hauchdünn, dass er wieder unter die magische Grenze abrutschen könnte, wenn auch nur in ein paar Wahlbezirken die Stimmen neu gezählt oder Nachwahlen angesetzt werden. Beides wollte nicht einmal die Zentrale Wahlkommission ausschließen.

Zwar heißt es im Abschlussbericht internationaler Beobachter, die Wahlen seien absolut frei gewesen und hätten den in Europa üblichen demokratischen Standards entsprochen. Wirklich fair, so Lewan Berdsenischwili von der Republikanischen Partei, sei die Abstimmung nur in Tbilissi gewesen, weil das Gros der Beobachter dort aktiv war. In der Hauptstadt aber liegt Gatschetschiladse deutlich in Führung.

Saakaschwili ist offenbar gesonnen, die Sache auszusitzen und hofft dabei, durch die Feiertage würden die politischen Leidenschaften allmählich abkühlen. Entgegen kommt ihm dabei auch, dass die Opposition sehr heterogen ist. Ihre zerstrittenen Führer haben sich bisher nur auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners -- Sturz von Saakaschwili -- zusammenraufen können. Womöglich zerbricht ihr Zweckbündnis schon bei den Parlamentswahlen im Frühling. Die Koalitionspartner müssen dann zwangsläufig gegeneinander antreten, weil das Gesetz Wahlbündnisse untersagt.

Auch haben die einfachen Georgier den Machtkampf ihrer selbst ernannten Eliten inzwischen offenbar mehr als satt. Die Opposition hatte bei ihrem Protestmeeting am Sonntag mit über 100 000 Teilnehmern gerechnet. Es kamen jedoch maximal 15 000. Und das könnte nicht nur am Schnee und an der Kälte gelegen haben.

* Aus: Neues Deutschland, 9. Januar 2008

Weitere Meldungen

Politologe erklärt Ergebnisse von Georgiens Präsidentenwahl für gefälscht

Laut dem armenischen Politologen vom analytischen Zentrum „Kawkas“, Sergej Schakarjanz, sind die Ergebnisse der georgischen Präsidentenwahl gefälscht.
„Die Bevölkerung Georgiens hat wiederholt Unzufriedenheit mit dem Staat geäußert und es ist klar, dass die Mehrheit der Bürger des Landes nicht erneut für (den bisherigen Staatschef Michail) Saakaschwili stimmen konnte“, sagte der Experte am Mittwoch vor der Presse.
Neben der Wahlfälschung beschuldigt er die georgischen Behörden, die Oppositionspolitiker mit Gewalt eingeschüchtert zu haben, berichtet die Nachrichtenagentur Novosti Armenia.

„Im Land herrschte während der Wahlen eine Atmosphäre der Angst und ich denke nicht, dass sich die Situation bald stabilisieren wird. Höchstwahrscheinlich wird sich die Opposition vereinigen und außer dem Hungerstreik andere Notmaßnahmen in Tiflis und anderen Großstädten treffen“, äußerte Schakarjanz.
Er betonte, dass die Wahlergebnisse vorhersagbar gewesen seien und die Opposition bereits im Vorfeld angekündigt habe, dass der Staat alles für eine Wiederwahl Saakaschwilis tun werde. „Ich glaube, dass die Parlamentswahlen in Georgien in ähnlicher Weise verlaufen werden und die Regierungspartei ‘Geeinte nationale Bewegung’ gewinnen wird“, ergänzte er.

Saakaschwili gewann die vorgezogene Präsidentenwahl vom 5. Januar und kam auf 52,21 Prozent der Wählerstimmen. Für den Oppositionskandidaten Lewan Gatschetschiladse stimmten 25,6 Prozent. Am heutigen Mittwoch trat er vor dem Gebäude des Staatsfernsehens in einen Hungerstreik, mit dem er die Ansetzung von Stichwahlen fordert.

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 10. Januar 2008


Proteste gegen Saakaschwili-Wahl. Hungerstreik angekündigt

Der bisherige Amtsinhalber Michail Saakaschwili hat die Präsidentenwahl in Georgien nach amtlichen Angaben mit 52,8 Prozent der Stimmen gewonnen. Sein wichtigster Rivale Lewan Gachechiladse erhielt 27 Prozent. Das wurde am Montag abend in Tbilissi bekanntgegeben. Die Opposition sprach von Wahlbetrug und rief ihre Anhänger zu Protesten auf. Am Dienstag (8. Jan.) demonstrierten Unterstützer Gachechiladses vor Georgiens wichtigstem TV-Sender. Sie forderten eine Wiederholung der Wahl und kündigten einen Hungerstreik an. Heftige Kritik am Verlauf der Abstimmung kam auch aus Rußland. Die Wahl könne kaum als frei und fair bezeichnet werden, erklärte das Außenministerium.

Derweil blieb die Beobachtergruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bei ihrer Einschätzung von Sonntag. Derzufolge verlief die Präsidentenwahl »im Großen und Ganzen nach demokratischen Standards«. Delegationsmitglieder sprachen sogar von einem »triumphalen Schritt« auf dem Weg »zur Demokratie«. Der Leiter der OSZE-Beobachtermission, der US-Abgeordnete Alcee Hastings, erklärte, es sei mit Sicherheit keine perfekte Wahl gewesen. Aber man dürfe nicht vergessen, daß Georgien noch »eine junge Demokratie« sei. (AP/AFP/jW)

(junge Welt, 9.Januar 2008)




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