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"Was hat dieser Krieg mit Verteidigung zu tun?"

Werner Ruf über die israelische Kriegführung in Gaza *

Liebe Friedensfreunde, liebe Kasseler Bürgerinnen und Bürger!

Wir stehen heute hier in Solidarität mit den über 7.000 israelischen Demonstrantinnen und Demonstranten, die vergangene Woche auf dem Rabin-Platz in Israels Hauptstad Tel Aviv gegen den mörderischen Krieg in Gaza demonstriert haben. Sie sind dort aufgestanden gegen ihre Regierung, gegen die israelische Armee, gegen Gewalt und Mord, wie sie Begleiterscheinung eines jeden Krieges sind. Trotz brutaler Angriffe von national-religiösen Extremisten und Faschisten haben sie demonstriert gegen Hass und gegen den Bruch des humanitären Völkerrechts in diesem fürchterlichen Morden, das die Bevölkerung des Gazastreifens seit fast vier Wochen trifft. Mit diesen mutigen Menschen in Israel solidarisieren wir uns!

Ja, das humanitäre Völkerrecht wird von beiden Seiten verletzt, sieht es doch vor, dass Zivilisten, unschuldige Menschen, vor allem Frauen und Kinder von Kampfhandlungen verschont bleiben sollten. Da ist zunächst festzustellen, dass die Geschosse aus dem Gaza-Streifen – meist Raketen genannt – so ungenau sind, dass sie auch unbewaffnete und unbeteiligte Zivilisten treffen können. Die In-Kauf-Nahme ziviler Opfer ist zweifellos eine Verletzung des humanitären Völkerrechts. Diesen Geschossen gegenüber steht eine Armee, die in den gängigen militärischen Handbüchern als die viert- oder fünftstärkste Armee der Welt genannt wird. Diese Armee verfügt über die militärtechnisch perfektesten Mittel zur Kriegführung und damit auch zur Zielerkennung. Und dessen rühmt sich diese Armee, die sich selbst „die moralischste Armee der Welt“ nennt.

Zum Kriegsvölkerrecht gehört neben dem absoluten Schutz der Zivilbevölkerung auch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit: Die Zahl der in Gaza getöteten Zivilisten erreicht inzwischen fast die Zahl von 2.000 Menschen – von den vielen Tausenden unsäglich Verwundeten, lebenslänglich Verstümmelten, meist sind es Kinder, ganz abgesehen. Wo ist hier die Verhältnismäßigkeit?

Und wo bleiben die Grundsätze, denen zufolge nur Bewaffnete Ziel militärischer Aktionen sein dürfen?

Israel hat gezielt spielende Kinder am Strand mit Raketen zerfetzt. Israel bombardiert Krankenhäuser, Wohnhäuser, Moscheen, Schulen – stets unter der Behauptung, die im Gaza-Streifen regierende Hamas benutze die Bewohner, die Krankenhäuser, die Schulen, die Moscheen als „menschliche Schutzschilde“. Doch Israel hat bisher keinen Beweis erbracht, dass diese Einrichtungen als Basen für den Abschuss von „Raketen“ genutzt wurden.

Israel hat inzwischen sieben von den Vereinten Nationen betriebene Schulen im Gaza-Streifen bombardiert, in denen 240.000 Flüchtlinge – das ist fast ein Sechstel der in diesem Elendsgebiet lebenden Menschen mit ihren Kindern - Schutz gesucht haben, weil sie glaubten, Israel würde wenigstens diese unter internationaler Hoheit und Leitung stehenden Einrichtungen verschonen. Diese Schulen wurden vom UN-Flüchtlingswerk errichtet. Sie stehen in jenen Flüchtlingslagern, die entstanden, als 1948 Hunderttausende Palästinenser und Palästinenserinnen gewaltsam vertrieben wurden. Diese Schulen hatten, um die Flüchtlinge zu schützen, der israelischen Armee die GPS-Daten ihrer Lage übermittelt, da sie hofften, so Schutz vor den Bombardierungen durch „die moralischste Armee der Welt“ zu erhalten – dennoch wurden sie – nun schon zum siebten Male - bombardiert, mit Raketen und Panzern angegriffen. Man wagt kaum zu denken, dass die übermittelten GPS-Daten für die Zielprogrammierung genutzt worden sein könnten.

Die israelische Regierung und ihre Armee haben bisher nicht einen Beweis erbracht, der ihre Behauptung stützen würde, dass Einrichtungen der Vereinten Nationen, Krankenhäuser, Moscheen genutzt worden wären, um Abschussrampen von Geschossen zu verstecken. Auch muss man sich fragen, ob Zigtausende israelische Soldaten, die vor Ort sind – und täglich werden weitere Zehntausende von Reservisten eingezogen – nicht in der Lage sein müssten, diese Verdachtsmomente vor Ort zu überprüfen, anstatt zielgenau jene Einrichtungen zu beschießen, die nach den Genfer Konventionen unter besonderen Schutz der Kriegsparteien stehen? Israelische Bomben haben das einzige Kraftwerk des “größten Freiluftgefängnisses der Welt“ zerstört, mit der Folge, dass auch für Krankenhäuser kein Strom mehr zur Verfügung steht, dass die Wasserversorgung (und die Abwasserentsorgung), die immer prekär waren, zusammengebrochen sind. Die einzige Abwasser-Entsorgungsanlage ist komplett zerstört. Die beiden Meerwasser-Entsalzungsanlagen: Komplett zerstört. Die beiden Trinkwasser-Reservoirs: Komplett zerstört. Die israelische Armee hat zwei der sieben Krankenhäuser in diesem Elendsstreifen komplett zerstört, drei weitere sind schwer beschädigt. Seuchen drohen auszubrechen. Zu Recht nennt die Hochkommissarin der UN-Menschenrechtskommission, Navy Pillay, das israelische Vorgehen einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, der ein Kriegsverbrechen darstellen könne!

Was haben die massenhaften Tötungen und Verstümmelungen von Zivilisten mit der Bekämpfung militärischer Ziele zu tun? Was hat die Zerstörung jeder Art von Infrastruktur, die für das Überleben der Menschen unverzichtbar ist, mit Verteidigung zu tun? Dies ist Krieg gegen die Menschen, ein Verbrechen, das international geächtet ist – doch die Welt schaut zu.

Die USA liefern weiterhin Waffen, Mordwerkzeuge! Genauso unsere Bundesregierung. Schafft das Sicherheit oder schafft das neue Bedrohungen? Diese Bundesregierung, die allenthalben den Schutz der Menschenrechte als oberstes Ziel ihrer Politik benennt und durch den Mund des Bundespräsidenten erklärt, Deutschland müsse „mehr Verantwortung“ tragen, sieht dem Morden tatenlos zu. Die Bundeskanzlerin, die zu Beginn des Krieges erklärt hat, Israel habe das Recht auf Verteidigung, ist seither verstummt. Ich möchte fragen: Sieht so Verteidigung aus? Heißt Verteidigung, dass alle einschlägigen internationalen Konventionen, das Völkerrecht, das Kriegsvölkerrecht, die Genfer Konventionen mit Füßen getreten werden dürfen? Ich möchte dieser Bundesregierung den Satz des ersten Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galilnski, in Erinnerung rufen, der sagte: „Ich habe Auschwitz nicht überlebt, um zu neuem Unrecht zu schweigen.“

Die Doppelbödigkeit deutscher Politik ist unerträglich! Rolf Verleger, Hochschullehrer in Lübeck und vormals Mitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat dies hervorragend auf den Punkt gebracht.

„Mich beschleicht bei solchen Politiker-Äußerungen ein Verdacht. Die meisten Deutschen waren in der Nazi-Zeit Mitläufer: Sie sahen das Unrecht an den Juden, aber sie taten nichts dagegen … Könnte es sein, dass diese Mitläufer-Mentalität die eigentliche Konstante in der deutschen Politik ist? Ich meine, ich lebe gerne in Deutschland, auch deswegen, weil heute ein ehrliches allgemeines Bedauern darüber zu spüren ist, was im deutschen Namen den deutschen und europäischen Juden angetan wurde. Aber ist es nicht ziemlich billig, die Schuld bei den eigenen verstorbenen Vorfahren zu belassen und auf Gedenktagen zu zelebrieren und gleichzeitig aktuelles Unrecht zu rechtfertigen? Ist das nicht Mitläufer-Mentalität? …

Glauben deutsche Politiker wirklich, es sei eine Wiedergutmachung der Ermordung meiner Verwandtschaft, dass nun Israel haltlos und bindungslos alles machen darf, was ihm so gerade einfällt? … Statt Antisemitismus herbeizureden, sollten unsere Politiker und Medien mit ihrem Mitläufertum bei dem aktuellen Unrecht aufhören.“

Verehrte Anwesende!

Und hier meine ich ausdrücklich auch jene, die hier mit Israel-Fahnen ihre Solidarität mit Israel bekunden und Besorgnis um die Sicherheit des Staates Israel zu ihrem Leitmotiv machen: Müssen wir uns nicht fragen, ob Sicherheit erst dann gewährleistet ist, wenn auch der Andere in Sicherheit lebt? Israel kann Sicherheit finden, wenn die Palästinenser in Sicherheit leben – vor Bombardierungen, vor systematischem Landraub, vor der willkürlichen Verhaftung von palästinensischen Bürgern, vor Administrativhaft, der Verhaftung ohne Anklage, ohne Gerichtverfahren, ohne Verurteilung? Israel kann Sicherheit erlangen, wenn auch die Palästinenserinnen und Palästinenser und ihre Kinder in Sicherheit und unter menschenwürdigen Bedingungen leben können – sei es in einem eigenen Staat oder als gleichberechtigte Bürger in einem gemeinsamen Staat, ohne Diskriminierung aufgrund von Herkunft oder Religion? Gerade denen, die hier für die Sicherheit Israels demonstrieren, rufe ich zu: Solidarisieren Sie sich mit jenen Israelis, die gegen Krieg, Bomben und Mord – z. T. unter Gefahr für Leib und Leben - demonstrieren! Appellieren gerade Sie an die israelische Regierung, dem Morden Einhalt zu gebieten: So können sie Sicherheit gewinnen – auch und gerade für den Staat Israel und für die gesamte Region: Sicherheit ist nur zu erreichen, wenn Menschen in Würde leben können – nebeneinander und schließlich miteinander!

* Prof. Dr. Werner Ruf, langjähriger Hochschullehrer für Internationale Beziehungen an der Uni Kassel. Die Rede wurde auf einer Kundgebung des Kasseler Friedensforums (Motto: "Stoppt den Krieg in Gaza!") am 4. August 2014 in Kassel gehalten.

Notiz: Hamas-Forderungen

  1. Freiheit für den Gazastreifen,
  2. keine Militäroperationen, zu Lande, zu Wasser und in der Luft,
  3. Abzug der israelischen Armee aus Gaza, damit palästinensische Bauern ihr Land bis an den Grenzzaun zu Israel nutzen können,
  4. Freilassung von Palästinensern, die erst im Austausch für den israelischen Soldaten Gilat Shalit freikamen und dann bald wieder verhaftet wurden,
  5. die Beendigung der Blockade und Wiedereröffnung der Grenzen in Gaza. Auch muss der Hafen und der internationale Flughafen unter die Kontrolle der UN gestellt werden,
  6. Erweiterung der Fischerei-Zone und Internationale Überwachung des Grenzübergangs in Rafah,
  7. Zusage einer zehnjährigen Waffenruhe und Schließung des Luftraums in Gaza für israelischen Flugzeuge,
  8. Erlaubnis für die Einwohner des Gazastreifens für die Reise nach Jerusalem, um in der Al-Aksa-Moschee zu beten,
  9. Und schließlich keine Einmischung in die innerpalästinensische Innenpolitik und Regierungsbildung.
  10. und schließlich die Eröffnung von Gazas Industriezone.
Levy hält diese Bedingungen für „eine faire Grundlage“.




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