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Israel lässt Kriegsziele im Ungewissen

Auch die Bodenoffensive wird den Raketenbeschuss durch die Hamas nicht beenden

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem *

Die israelische Bodenoffensive im Gaza-Streifen hat begonnen; das Militär hat den Landstrich in zwei Hälften geteilt; Soldaten durchsuchen ein Haus nach dem anderen nach Raketen, Waffen und Sprengstoff. Eine Besetzung sei nicht geplant, sagt das Militär; Ziel sei es, den Abschuss der Raketen zu erschweren und ihre Zielsicherheit weniger akkurat werden zu lassen.

Unaufhörlich, so scheint es, fliegen die Helikopter über die Köpfe der Menschen hinweg in Richtung Gaza, unter sich tödliche Fracht tragend, um sie auf Häuser, Kasernen, Felder abzuladen, die dazu benutzt werden, Raketen in Richtung Israel zu schießen. Immer wieder sind sie an diesem Sonntagmorgen auf einer einsamen Straße an der nördlichen Grenze zum Gaza-Streifen am Himmel zu sehen, nur ein paar Sekunden lang, bevor dann kurz darauf irgendwo in der Ferne eine Luftsirene und dann ein kurzer metallisch klingender Knall zu hören sind.

Sonntag (4. Jan.) ist auf beiden Seiten der Grenze eigentlich ein geschäftiger Werktag. Doch das öffentliche Leben ist selbst in den etwas entfernt gelegenen Großstädten Aschdod und Aschkelon nahezu zum Erliegen gekommen. Dort haben die Menschen Angst, dass die viel zielsicher und weitreichender gewordenen Raketen an belebten Orten einschlagen könnten. Und in Gaza fürchtet sich die Bevölkerung vor den israelischen Luftangriffen, die auch in der Nacht zum Sonntag weitergingen.

Und zu denen sich Samstagabend (3. Jan.) die israelischen Bodentruppen gesellten, die sich kurz nach Einbruch der Dunkelheit in Bewegung gesetzt hatten. Noch Minuten zuvor hatten die Soldaten an Panzer gelehnt oder in Zelten liegend vor sich hingedöst und versucht, die bittere Kälte zu ignorieren, die momentan fast die gesamte Region zittern lässt, als urplötzlich die Funkgeräte zu knacken begannen und Hektik einsetzte, noch bevor die Kommandeure ihre ersten Worten gesagt hatten. Dass die Bodenoffensive beginnen würde, hatte man den Soldaten bereits am Mittag mitgeteilt; dass sie kommen würde, war trotz aller Geheimhaltung für Außenstehende daran zu erkennen gewesen, dass überall in der Nachbarschaft des Gaza-Streifens Strom und Telefonverbindungen gekappt worden waren.

Von Kriegsbegeisterung konnte in diesen Minuten, an diesem trostlosen Ort, bei diesen Reservisten, die noch Tage zuvor das Leben in Tel Aviv, Haifa oder Jerusalem genossen hatten, keine Rede sein. Womit sie nicht alleine standen, denn nur 20 Prozent der Bevölkerung sind für die Bodenoffensive. Aber in diesen Minuten der Entscheidung, der Ungewissheit, ob man in ein paar Tagen noch am Leben sein wird, denn für die meisten ist es der erste Kampfeinsatz, war eine gewisse Entschlossenheit zu spüren, die Sache mit den Raketen jetzt zu Ende zu bringen – eine Illusion?

Ja, sagen Kontakte aus dem Umfeld des Generalstabes: »Wir können durch den Militäreinsatz dafür sorgen, dass die Raketen weniger genau gezielt werden können, indem wir die Infrastruktur der Hamas schwächen und die Orte einnehmen, von denen aus die Raketen abgeschossen werden, aber vollständig verhindern werden wir die Kassam-Abschüsse wohl nie.«

Eine möglicherweise langfristige Besetzung des Gaza-Streifens haben sowohl Israels Regierung als auch die Armeeführung ausgeschlossen. Stattdessen hat man auch jetzt, nach dem Beginn der Bodenoffensive, erneut äußerst moderate Ziele gesetzt. Wohl um nicht am Ende an den hochgesteckten Erwartungen zu scheitern, wie es während des Libanon-Krieges im Sommer 2006 geschah, als man zunächst angab, man wolle die beiden damals entführten Soldaten befreien (deren Tod seinerzeit dem Militär auf Grund der forensischen Beweise bereits bekannt gewesen sein musste), um dann mehrfach die Operationsziele zu ändern.

Damals wie heute ist der Preis allerdings hoch: Man müsse sich auf einen langen, erbitterten Kampf einstellen, sagte Verteidigungsminister Ehud Barak am Samstagabend zu Beginn einer Kabinettssitzung, während der die Regierung die Mobilisierung von mehreren zehntausend weiteren Reservisten genehmigte. In der Tat trafen die Soldaten auf starke Gegenwehr von Hamas- Kämpfern, als sie in der Nacht zum Sonntag damit begannen, in mehreren Städten im Gaza-Streifen ein Haus nach dem anderen nach Waffen, Raketen und Sprengstoff zu durchsuchen, nachdem andere Einheiten den rund 50 Kilometer langen, dicht bevölkerten Landstrich in zwei Hälften geteilt hatten, um dem Gegner die Fortbewegung zu erschweren. Zahlreiche Palästinenser wurden in diesen ersten Stunden der Bodenoffensive getötet; Hunderte haben seit Beginn der Operation »Gegossenes Blei« vor neun Tagen im Gaza-Streifen ihr Leben verloren; rund ein Viertel davon seien Zivilisten, erklärte die Flüchtlingshilfeorganisation der Vereinten Nationen, UNRWA.

Über die tatsächliche Katastrophe sagt dies jedoch wenig aus. Wie groß diese tatsächlich ist, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, weil Gaza nach wie vor für Journalisten geschlossen ist und die Hamas den Fluss der Informationen, den die arabischen Nachrichtensender verbreiten, weitgehend kontrolliert. Die Kapazitäten und Ressourcen der Krankenhäuser seien ob der Hunderte von Verletzten völlig ausgeschöpft, teilte der Rote Halbmond mit, das palästinensische Pendant zum Roten Kreuz. Man habe die Verteilung von Hilfsgütern an rund 700 000 Menschen einstellen müssen, so die UNRWA.

* Aus: Neues Deutschland, 5. Januar 2009


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