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Die Turkel-Farce

Israel lässt den Überfall auf die Gaza-Hilfsflotte am 31. Mai rechtfertigen

Von Norman Paech *

Der israelische Überfall auf die Gaza-Hilfsflotte am 31. Mai wurde von einem UNO-Gremium untersucht, aber auch von einer israelischen Kommission, benannt nach ihrem Leiter, dem Juristen Jacob Turkel. Deren Bericht, der seit Sonntag vorliegt, bewertet den Überfall, bei dem neun Menschen getötet wurden, als rechtmäßig.

Wir kennen das. Kein Kriegsherr hält seine Schlachten für illegal: weder die NATO ihren Überfall auf Jugoslawien 1999 noch US-Präsident Bush seinen Krieg gegen Irak 2003 oder Israels Verteidigungsminister Barak das Massaker im Gazastreifen 2008/09. Sieger ziehen nur die Gegner vor Gericht. So ist es auch beim Angriff der israelischen Armee auf die Gaza-Hilfsflottille im Mai 2010. Man installiert eine Kommission aus folgsamen alten Herren, die Turkel-Kommission, garniert sie mit ausgemusterten Staatsmännern befreundeter Staaten ohne Stimmrecht, mietet zwei Professoren aus Deutschland und Großbritannien und lässt sich die eigene Unschuld bestätigen. Eine Farce zwar, billig darüber hinaus, aber das Ergebnis ist gesichert.

Alle Vorwürfe der Untersuchungskommission des UNO-Menschenrechtsrats, der ehemaligen und derzeitigen UN-Beauftragten für die besetzten Gebiete und Gaza, John Dugard und Richard Falk, der Phalanx internationaler Juristen – alle sind nach dem jetzt veröffentlichten sogenannten Turkel-Report falsch und unbegründet. So der Vorwurf, dass die jahrelange Blockade des Gaza-Streifens sich als Kollektivstrafe gegen die Einwohner auswirkt, was völkerrechtlich verboten ist. Die Herren leugnen schlicht, was für die UNO-Kommission erwiesen ist: die katastrophale Lebenssituation der Bewohner des Gaza-Streifens, nicht nur der materielle Mangel sondern auch die Gefängnissituation, die allen Menschenrechten Hohn spottet. Sie behaupten einfach entgegen der täglichen Realität, dass Israel seinen Versorgungspflichten nachkommt, als wenn die Tunnel nach Ägypten ein israelisches Hilfsprogramm wären.

Die Blockade der Gaza-Hilfsflottille wird von der Kommission mit der Notwendigkeit gerechtfertigt, Waffenlieferungen an den Feind zu unterbinden. Dass die Flottille nicht eine einzige Pistole oder Handgranate an Bord hatte, musste Israel spätestens nach der Löschung der Ladungen in Ashdod einräumen. Dass Israel darüber auch schon seit der Abfahrt der Schiffe informiert war, können wir getrost den Fähigkeiten des Geheimdienstes Mossad zuschreiben, dem es immerhin gelang, zwei der Boote so zu manipulieren, dass sie havarierten.

Den Angriff auf die »Mavi Marmara« stellen die Herren als Verteidigungskampf der Armee dar. Sie habe sich bei ihrem Versuch, an Bord zu kommen, gegen die Passagiere zur Wehr setzen müssen. Die neun Toten und über 40 Verletzten hätten die Passagiere selbst zu verantworten. Eine derart dreiste Verdrehung der Tatsachen ist nur mit ungewöhnlichen Untersuchungsmethoden möglich: Kein Soldat, der an der Aktion direkt beteiligt war, hatte eine Aussagegenehmigung, kein Passagier der Schiffe bekam die Gelegenheit, als Zeuge aufzutreten. Die Herren schlossen die Augen und machten die Opfer zu Tätern.

Die UNO-Kommission, die weit über hundert Passagiere vernommen hat, kommt demgegenüber zu dem ganz eindeutigen Urteil, dass das Militär ein Übermaß an völlig unnötiger Gewalt und unglaublicher Brutalität angewandt habe, das durch nichts gerechtfertigt gewesen war. Sie spricht von vorsätzlicher Tötung, Folter, unmenschlicher Behandlung und vorsätzlicher Verursachung von großem Leiden – alles schwere Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts.

Was macht man mit dem Bericht der Turkel-Weißwäscher? Der türkische Premier Erdogan hat ihn als »wertlos« beiseitegeschoben. Der einzige Ort, wo er verhandelt werden könnte, wäre der Internationale Strafgerichtshof. Dort hat jeder Angeklagte das Recht zur Lüge. Der UN-Sicherheitsrat hätte die Möglichkeit, die Verantwortlichen dorthin zu bringen. Aber seine Mitglieder haben wohl kaum die Kraft zur Klage.

* Norman Paech, emeritierter Professor für internationales Recht, war außenpolitischer Sprecher der LINKEN im Bundestag. Er befand sich seinerzeit an Bord eines der überfallenen Schiffe.

Aus: Neues Deutschland, 26. Januar 2011


Wie es die israelische Regierung sieht

Im Folgenden dokumentieren wir eine Verlautbarung des israelischen Außenministeriums zu den Ergebnissen der staatlichen Untersuchungskommission. Danach war der israelische Piratenakt vollkommen im Einklang mit internationalem Recht.

Bericht der öffentlichen Kommission zur Untersuchung des Seezwischenfalls vom 31. Mai 2010 **

Am 3. Januar 2009 verhängte Israel als Maßnahme im bewaffneten Konflikt mit der Hamas eine Seeblockade über die Gewässer vor dem Gazastreifen. In den Tagen vor dem 31. Mai 2010 näherte sich eine Flottille aus sechs Schiffen mit insgesamt ungefähr 700 Personen an Bord der Küste Israels. Das größte Schiff der Flottille, die Mavi Marmara, hatte insgesamt ungefähr 590 Menschen (Passagiere und Besatzung) an Bord. Am 31. Mai 2010 fingen Kräfte der IDF (Israelische Verteidigungsstreitkräfte) die Mavi Marmara ab und gingen zur Durchsetzung der Seeblockade des Gazastreifens an Bord. Während des Betretens und der Übernahme des Schiffes stießen die Kräfte der IDF auf gewaltsamen Widerstand. Während der Kämpfe auf dem Schiff wurden neun der Schiffspassagiere getötet und 55 verletzt. Neun Soldaten der Zahal wurden ebenfalls verwundet.

Am 14. Juni 2010 setzte die israelische Regierung eine unabhängige öffentliche Kommission ein, um verschiedene Aspekte der vom Staat Israel durchgeführten Maßnahmen zu untersuchen.

Die wichtigsten Feststellungen und Ergebnisse der Turkel-Kommission

Die wichtigsten Feststellungen
  1. Die israelische Regierung setzte eine öffentliche, unabhängige und selbstständig agierende Kommission ein. Den Vorsitz der Kommission hatte ein ehemaliger Richter des israelischen Obersten Gerichtshofes; weitere Mitglieder waren Juristen, weltweit anerkannte Experten und internationale Beobachter. Das beweist, dass Israel ein Rechtsstaat ist, der in der Lage ist, sich selbst zu überprüfen. Nur wenige Länder wären bereit, sich einer solch intensiven und fundamentalen Untersuchung zu unterziehen.
  2. Die Kommission hat eindeutig festgestellt, dass die Durchführung einer Blockade – auch in internationalen Gewässern – rechtens ist.
  3. Obwohl verschiedene Stimmen versucht haben, Israel Kriegsverbrechen zu beschuldigen, beweisen die Ergebnisse der Kommission, dass Israel die Wahrheit gesagt und in Einklang mit dem Gesetz gehandelt hat.
  4. Die israelische Regierung und die IDF werden sich mit dem Bericht ausführlich befassen und daraus die nötigen Lehren für die Zukunft ableiten.
  5. Waffen, die in den Gaza-Streifen gebracht werden, stellen ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. Obwohl Israel die Lebensbedingungen für die Zivilbevölkerung Gazas kontinuierlich verbessert, werden weiterhin Raketen und Mörsergranaten auf israelische Städte abgefeuert. Die Hamas investiert weiter alle ihre Ressourcen in die Aufrüstung mit Raketen und Waffen.
  6. Die israelische Regierung und die Sicherheitskräfte werden weiterhin alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Zivilbevölkerung Israels zu schützen.
  7. Der Bericht unterstreicht, dass Gaza für nahezu alle Arten von Gütern und Produkten offen ist. Jede Organisation, die Hilfsgüter nach Gaza einführen möchte, kann dies über die existierenden Grenzübergänge tun. Es besteht keinerlei Notwendigkeit für weitere Flottillen. Diese stellen eine Provokation dar und haben keinen Bezug zu humanitären Hilfsprojekten.
Die wichtigsten Ergebnisse

1. Die Seeblockade wurde aufgrund der Sicherheitsbedürfnisse des Staates Israel eingerichtet und entspricht den Vorschriften des internationalen Rechts.
  • Die Kommission ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Seeblockade angesichts der Sicherheitsbedenken legitim und in Einklang mit internationalem Recht verhängt worden war.
  • Die Kommission ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Israel seiner internationalen humanitären Verantwortung unter den Gegebenheiten einer Seeblockade nachkommt. Dies wird unter anderem dadurch deutlich, dass Schiffe in den Hafen von Ashdod einlaufen und Hilfsgüter abladen dürfen.
2. Die israelischePolitik gegenüber dem Gazastreifen entspricht internationalem Recht und Menschenrechten.
  • Israels Kontrolle über den Gazastreifens endete mit der vollständigen Räumung und Abkopplung im Jahr 2005.
  • Israel verhindert nicht die Einfuhr von Gütern des täglichen Bedarfs für die Zivilbevölkerung Gazas. Es stellt jene humanitäre und medizinische Unterstützung zur Verfügung, die laut internationalem Recht notwendig ist. Israel kooperiert auf diesem Gebiet mit der Palästinensischen Autonomiebehörde und der internationalen Gemeinschaft.
  • Die Maßnahmen Israels bedeuten keine „kollektive Bestrafung“ der Bevölkerung Gazas. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Israel vorsätzlich Beschränkungen durchgesetzt hat mit dem alleinigen Ziel oder der Absicht, der Zivilbevölkerung Gazas lebensnotwendige Versorgungsmittel vorzuenthalten.
3. Die Übernahme der Marmara wurde im Einklang mit internationalem Recht vollzogen.
  • Laut internationalem Recht ist es erlaubt, ein Schiff unabhängig von seiner Position zu übernehmen, wenn festgestellt wurde, dass dieses absichtlich versucht, eine Blockade zu durchbrechen. Dies gilt auch in internationalen Gewässern. Die Kommission hat alle Begleitumstände in Betracht gezogen und ist zu dem Schluss gekommen, dass die Übernahme in internationalen Gewässern rechtens war.
  • Die Möglichkeiten Schiffe, vor allem große Schiffe, auf hoher See zu stoppen, sind sehr beschränkt. Deshalb war das Abseilen der Soldaten von Helikoptern aus eine angemessene Taktik, die internationalem Recht entspricht. Marineeinheiten anderer Länder nutzen diese Taktik ebenfalls. Außerdem kann diese Vorgehensweise das Risiko von Todesfällen im Vergleich zu anderen Methoden verringern.
  • Gemäß der Anweisungen durfte das Feuer nur in tatsächlich und unmittelbar lebensbedrohlichen Situationen eröffnet werden. Die Kommission ist davon überzeugt, dass dieser Befehl den Einheiten, die an der Aktion teilgenommen haben, klar gemacht wurde.
  • Es gab zahlreiche Warnungen an die Schiffe, aber der Kapitän der Marmara sagte, er weigere sich anzuhalten und versuchte nicht, den Kurs zu ändern.
  • Es wird hervorgehoben, dass keine humanitären Güter an Bord der Marmara gefunden wurden.
4. Die Soldaten ergriffen erst Maßnahmen, nachdem sie von der Schiffsbesatzung brutal attackiert worden waren. Das Verhalten der Soldaten entsprach internationalem Recht.
  • Während der Vorbereitung der Flottille betonten deren Organisatoren der Flotille, dass man so weit wie möglich auf Gewalt verzichten müsse. Aus diesem Grund rechneten die IDF nicht damit, dass es sich bei der Schiffsbesatzung nicht nur um unschuldige Zivilisten sondern auch um aktive Gewalttäter handeln würde. Die Anweisungen zum Gebrauch der Schusswaffe spiegelten diese Erwartungen wider und entsprachen hauptsächlich den Gegebenheiten einer Polizeimaßnahme.
  • Die Soldaten versuchten zunächst, die Marmara von Schlauchbooten aus zu betreten. Aufgrund des gewalttätigen Widerstandes wurde dann jedoch entschieden, sich von Helikoptern aus abzuseilen.
  • Die Soldaten wurden brutal mit Geschossen, Messern, Knüppeln, Hämmern, Schlägen und ähnlichem angegriffen. Neun Soldaten wurden verletzt, teilweise durch scharfe Munition und Messerstiche. Drei Soldaten wurden gefangen genommen und in das Innere des Schiffes gezerrt.
  • Die Kommission befand, dass sich die Soldaten insgesamt professionell verhalten haben, als sie mit extremer Gewalt konfrontiert wurden, mit der sie nicht gerechnet hatten. Die meisten Fälle, in denen Soldaten Gewalt anwenden mussten, befinden sich in Einklang mit internationalem Recht. Dies beinhaltet jene Fälle, in denen Soldaten Schüsse auf die Körperschwerpunkte von Angreifern abfeuerten. In einigen wenigen Fällen hatte die Kommission nicht genügend Informationen, um eine abschließende Aussage zu treffen.
5. Das Verhalten der Passagiere
  • Die Passagiere der Marmara können in zwei Gruppen unterteilt werden: Friedensaktivisten, die nach einer Sicherheitsinspektion das Schiff in Antalya betraten, sowie ein „harter Kern“ von 40 IHH-Aktivisten, die in Istanbul dazustießen. Sie unterliefen keine Sicherheitsüberprüfung und kapselten sich von den restlichen Passagieren ab. Sie wurden von ca. 60 weiteren Aktivisten unterstützt, die sich ebenfalls an den Gewalttätigkeiten beteiligten.
  • Als der Schiffskapitän alle Passagiere anwies zu ihren Plätzen unter Deck zurückzukehren, blieben die IHH-Aktivisten an Deck, zogen Rettungswesten an und bewaffneten sich mit Äxten, Ketten, Messern, Hämmern usw. Sie zeigten einen hohen Grad an Organisation und Gewaltbereitschaft.
  • Die Kommission ist überzeugt, dass die IHH-Aktivisten scharfe Munition benutzten. Ihre Intention war es, die Seeblockade zu durchbrechen und so der Hamas einen Vorteil im Kampf gegen den Staat Israel zu verschaffen.
  • Die Kommission stellt fest, dass die Mitglieder der gewalttätigen Gruppe den Status von direkt an Kampfhandlungen beteiligten Personen (direct participants in hostilities (DHP)) besitzen, denen nicht der gleiche Schutz zuteil wird, der Zivilisten zusteht.
  • Von den neun getöteten Passagieren wurden vier als IHH-Aktivisten identifiziert. Vier weitere wurden als Aktivisten türkisch-islamischer Organisationen identifiziert. Es ist nicht bekannt, ob der weitere Tote einer Gruppe angehörte. Die Verwandten von einigen der Toten sagten aus, dass diese als Shahids (Märtyrer) sterben wollten. Einige hatten sogar Briefe mit ihrem Testament hinterlassen.
6. Die Behandlung der Passagiere
  • Nachdem die Übernahme beendet war, wurden die Verletzten behandelt. Achtzehn Ärzte, sechs Rettungssanitäter, 70 Sanitätssoldaten und ein leitender Arzt waren daran beteiligt. Einige der Verletzten widersetzten sich der medizinischen Behandlung, aber niemand starb nach Beginn der medizinischen Versorgung an seinen Verletzungen.
  • Den Passagieren wurde Wasser und Essen gereicht und sie wurden zu den Toiletten geführt, wenn immer sie darum baten.
  • Einigen der Passagiere wurden Handschellen angelegt, insbesondere jenen, von denen befürchtet wurde, sie könnten versuchen anzugreifen oder Unruhe zu stiften. Durchsuchungen brachten Messer und große Summen Geld, sowie die Pistole eines israelischen Soldaten, kalte Waffen und Materialien, die der Hamas-Bewegung gehörten, und weiteres zutage.
  • Die Kommission ist der Ansicht, dass die Behandlung der Flottillen-Teilnehmer, nachdem das Schiff im Hafen von Ashdod angekommen war, legal und in Einklang mit internationalem Recht war.
** Quelle: Außenministerium des Staates Israel, 24.01.2011; mitgeteilt im Newsletter der israelischen Botschaft, Berlin, 25. Januar 2011




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