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Traumatisierte Kinder von Gaza

Der Arzt Ralf Syring weilte für medico international in dem nahöstlichen Krisengebiet und beobachtete fatale Zustände

Dr. Ralf Syring (62) ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und für die deutsche medizinische Hilfsorganisation medico international tätig. In dieser Woche kehrte er aus dem Gaza-Streifen zurück. Mit ihm sprach für das "Neue Deutschland" (ND) unser Mitarbeiter Roland Etzel.



ND: Waren Sie erstmals in Gaza?

Syring: Ja.

Mit welchem Eindruck haben Sie die Region jetzt verlassen?

Das sind ganz vielfältige Eindrücke. Ich bin sehr betroffen von der Zerstörung, die ich gesehen habe. Da sind zum einen die Gebäude, die offenbar gezielt ausgewählt wurden, um zerbombt zu werden. Dabei handelt es sich um Polizeistationen und Regierungsgebäude, aber auch um einige Wohnhäuser. Es wurden aber auch viele Schäden »nebenbei« angerichtet. Wenn man ein Objekt in dicht besiedeltem Gebiet bombardiert, wird dessen Nachbarschaft naturgemäß in Mitleidenschaft gezogen. Dabei sind auch Menschen umgekommen.

Zum anderen war da die Bodeninvasion, und da war es besonders schmerzlich anzusehen, wie ganze Wohnviertel zerstört worden sind mit Panzern und Bulldozern. Dadurch haben Tausende von Menschen ihr Obdach verloren, und viele sind auch umgekommen.

Ich kannte vorher nur Krieg und Kriegsfolgen in ländlichen Gebieten, in Afrika und Lateinamerika. und habe das in dieser Form noch nicht gesehen.

Wie reagieren die Menschen darauf?

Am letzten Abend war ich eingeladen bei einer Familie mit einer siebenjährigen Tochter. Die sagte zu mir: »Wirst du denn auch jüdische Menschen treffen, wenn du jetzt ausreist?« Und da habe ich gesagt: »Selbstverständlich.« Dann fragte sie, ob ich denn da keine Angst hätte. Ich habe geantwortet: »Nein, es sind ja nicht alle Menschen in Israel solche, die euch vernichten wollen oder euch angreifen.« Das hat sie mir nicht geglaubt.

Das heißt: Kinder und Jugendliche im Gaza-Streifen erleben ihre Altersgenossen in Israel nur als Angreifer, während die jungen Israelis die Palästinenser nur noch durch ihre Zielfernrohre sehen und auch nicht mehr kennen lernen. Diese Apartheidpolitik hat eine furchtbare Langzeitwirkung.

Lesen Sie hierzu auch den Bericht aus "Lancet":

Eine Tonne Sprengstoff pro Kopf / A million and a half tons of explosives
Erschütternder Bericht zweier Chirurgen aus Großbritannien, die während des Krieges in Gaza gearbeitet haben / Two Surgeons from the UK describe their experiences (14. Februar 2009)



Ihr Kollege Tsafrir Cohen hat uns bereits im vergangenen Jahr in einem Interview gesagt, nicht nur die direkte Gesundheitsversorgung liege in Gaza im Argen, sondern auch die Bereiche Wasser, Abwasser, Ernährung und Bildung befinden sich in schlimmem Zustand, das gesamte medizinische System drohe zu kollabieren. Wie muss man sich das jetzt vorstellen?

Darauf habe ich speziell geachtet. Der Gaza-Streifen war ja blockiert. Das heißt, eine Öffnung der Grenzen als Bestandteil des ausgehandelten Waffenstillstandes hatte es nicht gegeben. Und somit existierten Versorgungsschwierigkeiten. Das ist ja der Grund, weshalb diese vielen Tunnel gegraben wurden, die ja häufig in den Medien, soweit ich das bemerkt habe, nur als Waffenschmuggelkanäle genannt werden, die aber eigentlich Versorgungskanäle sind. Darüber kam ein Teil der Nahrungsmittel.

Die Wasserversorgung war und ist schwierig, auch die Klärung von Abwasser, denn die Kapazität der beiden existierenden Anlagen ist viel zu gering. Das bedeutet, weil die Überlastung der Klärstufen groß ist, dass das Endprodukt kontaminiert, noch nicht sauber ist. Und das kontaminierte Wasser wird trotzdem wieder in das Leitungssystem geführt. Damit ist das Trinkwasser nicht sauber.

Ein Wort zu den Hygienebedingungen in den Gesundheitseinrichtungen. Sie sind kurz gesagt sehr mangelhaft. Eine Folge ist zum Beispiel, dass alle Verletzungen, die ich habe sehen können an verletzten Menschen, infiziert waren. Ich glaube, dass das zum einen an einer gewissen Enge der Krankenhäuser liegt, aber auch ein Managementproblem ist. Es fehlt an Ausbildung und dergleichen. Dazu die Blockade. Und wenn Sie darauf noch einen großen, vernichtenden Angriff setzen, wird die Situation noch prekärer.

Es werden ja immer wieder Versorgungskonvois von Israel durchgelassen. Heißt Blockade trotzdem, dass es echte Notsituationen gibt?

Ich kann nur sagen, was ich gesehen habe vor Ort. Man kann natürlich berechnen, wie groß der Bedarf an Nahrungsmitteln und anderen Gütern jeden Tag ist und das sozusagen umrechnen in Lastwagenladungen, die dann jeden Tag über die Grenze gehen müssten. Man muss aber berücksichtigen, es handelt sich um ein Gebiet von der Größe des Bundeslandes Bremen mit 1,4 Millionen Menschen. Und da entsteht ein Bedarf einer städtischen und durchaus vom Entwicklungsstand her gehobenen Gesellschaft, und dieser Bedarf wird nicht hinreichend gedeckt. Durch die Tunnel wird deshalb versucht, einen Teil der erforderlichen Waren nach Gaza hineinzubringen.

Dazu kommt, dass via Israel manches einfach nicht hineindarf. Zum Beispiel sind sehr viele Sachen definiert als solche, die auch zur Waffenherstellung verwendet werden können. Dazu gehört zum Beispiel Treibstoff. Das heißt, es gibt oftmals Mangel an Diesel, der nötig ist, um Elektrizität zu produzieren. Zement ist zum Teil definiert als ein Stoff, mit dem auch bei der Waffenproduktion gearbeitet werden kann.

Auf welche Weise und in welchem Umfang gelangen denn derzeit überhaupt Krankenhausmaterialien nach Gaza, und wer finanziert das?

Das ist für mich schwierig zu beantworten. Es gibt Organisationen, die Hilfsgüter schicken. Die kommen zum Teil über Israel rein und zum Teil eben nicht. Es wird erzählt, während der Angriffe habe es Mangel an bestimmten Verbrauchsmaterialien wie Verbandszeug gegeben, die man nur einmal verwenden kann. Es sind weiterhin Engpässe aufgetreten bei der Versorgung. Wenn das ganze Gesundheitssystem sich auf die Behandlung von Schwerverletzten konzentrieren muss, geht das auf Kosten der Normalversorgung. Die muss ja eigentlich auch weitergehen.

Denken Sie an Menschen, die Diabetiker sind oder an hohem Blutdruck leiden, die brauchen regelmäßig ihre Medikamente. Und die waren zum großen Teil nicht mehr da. Das würde auch hier passieren, selbst in einer großen Stadt, wenn plötzlich irgendeine Katastrophe eintritt, bei der es Hunderte bis Tausende von Verletzten gäbe. So hatten eben in Gaza zum Beispiel Diabetiker große Probleme, weil sie einfach ihr Insulin nicht mehr bekamen.

Wir haben bisher schon mobile Kliniken unterstützt, von denen aber einige zerstört worden sind während der jüngsten israelischen Angriffe. Es sieht ganz so aus, als sei das auch gezielt geschehen. Es gab in Gaza-Stadt drei neue mobilen Kliniken – das sind Lastwagen mit einer guten Ausrüstung –, die sind durch einen Bombenabwurf zerstört worden, der ganz gezielt auf ein Wohngebiet durchgeführt wurde.

Sie können gezielte Zerstörungen von medizinischen Einrichtungen belegen?

Das kann ich. Ich habe mit sehr vielen Krankenwagenfahrern gesprochen, das ist ganz eindeutig. Die Rechtfertigung für die Angriffe ist häufig, dass mit den Krankenwagen auch Waffen transportiert worden sind. Ich habe danach gefragt. Das kann niemand ausschließen, aber die Beweislast liegt bei der israelischen Armee. Es gibt keine Rechtfertigung, selbst wenn irgendwann mal ein Krankenfahrzeug missbraucht worden sei, daraufhin alle zu militärischen Zielen zu erklären.

Was ist gegenwärtig das Dringlichste in medizinischer Hinsicht?

Das sind zum Beispiel Rehabilitationsmaßnahmen. Viele Kinder, aber auch Erwachsene, die Gliedmaßen verloren haben, brauchen Rehabilitation, sowohl physisch als auch psychosozial.

Es war erschreckend anzusehen, aber auch zu erwarten, dass Kinder regressives Verhalten zeigen, dass sie sich also verhalten, als wären sie ein paar Jahre jünger; dass Schulkinder wieder anfangen mit Bettnässen; dass Kinder nicht mehr in die Schule gehen wollen, weil sie sich nicht von ihren Eltern trennen möchten.

Wir brauchen jetzt physisch betrachtet Prothesenversorgung, plastische Chirurgie für großflächige Verbrennungen, entstellte Gesichter und dergleichen. Außerdem müssen jetzt viele Einrichtungen wieder aufgebaut werden. Es sind viele Krankenhäuser beschädigt, zahlreiche Krankenwagen zerstört. Das alles muss wieder ersetzt werden.

* Aus: Neues Deutschland, 14. Februar 2009


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