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Hamas stoppt die Raketen

Auch Israel scheint auf Tauwetter im Gaza-Streifen zu setzen

Von Oliver Eberhardt *

Tauwetter zwischen Israel und der Hamas: Kämpfer der im Gaza-Streifen herrschenden Organisation sollen in der Grenzregion Raketenabschüsse verhindern; trotz vereinzelter Einschläge bleiben die Übergänge weitgehend geöffnet.

Den israelischen Bauern, die am Sonnabend auf ihren Feldern an der Grenze zum Gaza-Streifen nach dem Rechten sahen, bot sich ein ungewohntes Bild: In der Ferne, hinter dem hohen Grenzzaun, sahen sie Dutzende Männer, ohne dass Israels Armee reagierte. Anwohner auf der anderen Seite wiederum berichten, Kämpfer der Essedin al Kassam-Brigaden hätten seit Freitagmorgen Stellung entlang der Grenze bezogen. Die Männer des bewaffneten Flügels der Hamas durchsuchten jeden nach Waffen.

Gemessen daran, dass beide Seiten vor etwas mehr als einem halben Jahr in einen zerstörerischen Krieg verwickelt waren, ist das eine erstaunliche Entwicklung. Und es ist nicht die einzige, die darauf hindeutet, dass sich der Wind gedreht haben könnte.

So sind die Grenzübergänge regelmäßig geöffnet; die Fischereizone vor der Küste wurde ausgeweitet. Als wäre nie etwas gewesen, streiten sich beide Seiten über Höhe und Verteilung der Zollgebühren, während Ägyptens Militär seit Wochen Schmuggeltunnel zerstört. Protest der Hamas-Regierung gab es bisher kaum. Selbst die Raketen, die nach wie vor, wenn auch selten, in Richtung Israel abgeschossen werden, haben am Tauwetter bisher nichts ändern können.

Gleichzeitig hat die Hamas auf den angekündigten Wechsel an der Spitze des Politbüros verzichtet: Khaled Maschal bleibt vorerst im Amt - ein Schritt, der von ägyptischen Diplomaten, die in die Gespräche zwischen Israel und Hamas einbezogen sind, als Signal der Kontinuität gewertet wird: In der derzeitigen Situation wolle man bei dem Personal bleiben, das bekannt und einschätzbar ist - und das auch ausreichend Erfahrung hat. Denn die Hamas befindet sich in einer schwierigen Situation.

Die Lockerung der Blockade war eine der Bedingungen für die Normalisierung der türkischen Beziehungen zu Israel, zu der sich beide Staaten am Ende des Besuchs des USA-Präsidenten Barack Obama in der Region im März bereit erklärt hatten. Doch solche Vereinbarungen waren bisher stets nur von kurzer Dauer.

Warum es diesmal anders ist, darüber schweigen die Beteiligten. Aber es gibt viele Theorien. Eine davon lautet, dass die Versuche vor allem der arabischen Welt, aber auch der Türkei, die Hamas in die internationale Gemeinschaft einzubinden, erste Früchte tragen würden - und die Hamas-Regierung kann nur mit Hilfe von außen finanziell überleben. Einer anderen Theorie nach sind es vor allem innenpolitische Erwägungen, die dazu geführt haben, dass die Hamas moderater geworden ist. Am wahrscheinlichsten erscheint wohl eine Kombination aus beiden Vermutungen.

Die Hamas regiert nun seit fünf Jahren im Gaza-Streifen. Das waren fünf Jahre einer dauerhaften Blockade, die die Bevölkerung kriegsmüde gemacht hat, und damit auch einer sich stetig zuspitzenden sozialen Krise. Im Schatten dieser Entwicklungen sind eine Vielzahl von kleinen bewaffneten Gruppen entstanden, deren Antriebe von einem radikalen Islamismus bis hin zu kriminellen Motiven reichen.

Diese Gruppierungen haben mittlerweile Zugriff auf Raketen. Sie machen davon Gebrauch, um ihre Forderungen durchzusetzen. Das schränkt die Fähigkeit der Hamas, effektiv zu regieren, zunehmend ein - und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie an der Macht bleibt. Doch ein Kollaps ihrer Regierung ist ein Schreckensszenario, für die Menschen in und um Gaza, aber auch für die Nachbarstaaten.

Denn es ist weithin niemand in Sicht, der ein Machtvakuum füllen könnte: Die im Westjordanland regierende, säkular ausgerichtete, Fatah hat im religiöser werdenden Gaza einen nur noch geringen Einfluss. In ägyptischen, aber auch in israelischen Regierungskreisen und auch in den Reihen der Hamas wird deshalb bereits von der Gefahr gesprochen, dass ein »Somalia 2« entsteht.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 7. Mai 2013


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