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"Das ist ein schockierender Vorfall" / "This is a shocking incident"

Israelisches Militär verhindert Erste Hilfe durch Mitarbeiter des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds

Der Krieg im Gazastreifen wird dereinst hoffentlich auch die internationalen Gerichte beschäftigen. Im Folgenden dokumentieren wir eine Pressemitteilung des Roten Kreuzes vom 8. Januar 2008, worin über einen eklatanten Vorfall militärisch verhinderter ärtlicher Hilfeleistung berichtet wird. Rotkreuz-Mitarbeitern und Helfern des Roten Halbmonds wurde von israelischen Militärs untersagt, verwundeten Palästinensern, darunter Frauen und Kindern, erste Hilfe zu leisten.
Wir wünschten, dass der Vorfall ein Einzelfall sein möge, haben aber begründete Zweifel, dass dem so ist. Eher dürfte die Vermutung des Roten Kreuzes zutreffen, dass das israelische Militär seinen Verpflichtungen gegenüber dem humanitären Völkerrecht (den Genfer Konventionen) nicht nachkommt. Der weiter unten stehende Artikel befasst sich mit dem selben Thema.



MEDIA RELATIONS UNIT
International Committee of the Red Cross

ICRC News Release No. 09/04, 8 January 2009

Gaza: ICRC demands urgent access to wounded as Israeli army fails to assist wounded Palestinians

Geneva/Jerusalem/Tel Aviv (ICRC) - On the afternoon of 7 January, four Palestine Red Crescent Society (PRCS) ambulances and the International Committee of the Red Cross (ICRC) managed to obtain access for the first time to several houses in the Zaytun neighbourhood of Gaza City that had been affected by Israeli shelling. The ICRC had requested safe passage for ambulances to access this neighbourhood since 3 January but it only received permission to do so from the Israeli Defence Forces during the afternoon of 7 January.

The ICRC/PRCS team found four small children next to their dead mothers in one of the houses. They were too weak to stand up on their own. One man was also found alive, too weak to stand up. In all there were at least 12 corpses lying on mattresses.

In another house, the ICRC/PRCS rescue team found 15 other survivors of this attack including several wounded. In yet another house, they found an additional three corpses. Israeli soldiers posted at a military position some 80 meters away from this house ordered the rescue team to leave the area which they refused to do. There were several other positions of the Israeli Defence Forces nearby as well as two tanks.

"This is a shocking incident," said Pierre Wettach, the ICRC's Head of Delegation for Israel and the Occupied Palestinian Territories. "The Israeli military must have been aware of the situation but did not assist the wounded. Neither did they make it possible for us or the Palestine Red Crescent to assist the wounded."

Large earth walls erected by the Israeli army had made it impossible to bring ambulances into the neighbourhood. Therefore, the children and the wounded had to be taken to the ambulances on a donkey cart. In total, the ICRC/PRCS rescue team evacuated 18 wounded and 12 others who were extremely exhausted. Two corpses were also evacuated. The ICRC/PRCS will recover the remaining corpses on Thursday.

The ICRC was informed that there are more wounded sheltering in other destroyed houses in this neighbourhood. It demands that the Israeli military grant it and PRCS ambulances safe passage and access immediately to search for any other wounded. Until now, the ICRC has still not received confirmation from the Israeli authorities that this will be allowed.

The ICRC believes that in this instance the Israeli military failed to meet its obligation under international humanitarian law to care for and evacuate the wounded. It considers the delay in allowing rescue services access unacceptable.

www.icrc.org


Verletzte ohne Hilfe

Von Rüdiger Göbel *

Die Nachrichten aus dem von Israel belagerten und bombardierten Gazastreifen werden mit jedem Kriegstag schlimmer. Helfer des Roten Kreuzes fanden in der Stadt Gaza vier Kleinkinder neben der Leiche ihrer Mutter. Den Rettungskräften war von der israelischen Armee erst vier Tage nach einem Granatenangriff auf die Siedlung Sajtun der Zugang zu dem Haus erlaubt worden, sagte der Sprecher des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Pierre Wettach, am Donnerstag in Genf. »Das israelische Militär muß von der Situation gewußt haben, tat aber nichts, um den Verletzten beizustehen«, so Wettach. Tagelang sei es weder den IKRK-Helfern noch den Sanitätern des Palästinensischen Roten Halbmonds ermöglicht worden, die erforderliche Hilfe zu leisten. Schließlich seien in drei Häusern dann 15 Tote und 18 Verletzte geborgen worden. Unter letzteren waren auch die vier Kinder, die so geschwächt waren, daß sie nicht mehr stehen konnten. Die Behinderung der Rettungsdienste sei inakzeptabel, so das IKRK. Israels Botschafter in Genf, Aharon Leshno-Yaar, wies den Vorwurf des Verstoßes gegen das Völkerrecht zurück und behauptete, sein Land würde mit Hilfsorganisationen kooperativ zusammenzuarbeiten.

Kurz darauf meldete die UNO den Beschuß eines Lastwagens mit Hilfslieferungen für den Gazastreifen. Bei dem Angriff der israelischen Armee wurde der Fahrer getötet. Die Attacke erfolgte nach UN-Angaben während der dreistündigen Waffenruhe, die Israel zur Versorgung der 1,5 Millionen Palästinenser mit Nahrung und Wasser eingeräumt hatte. Die Vereinten Nationen hatten die Hilfslieferung mit Israel koordiniert und das Fahrzeug mit einer UN-Flagge und -Abzeichen gekennzeichnet. Die UNO setzt die Hilfslieferungen aus, bis Israel die Sicherheit ihrer Mitarbeiter und Einrichtungen wieder garantiert. Am Dienstag waren UN-Schulen, in denen Palästinenser Zuflucht gesucht hatten, bombardiert worden.

Hilfsorganisationen warnen wegen der mehr als 3000 verletzten Palästinenser vor dem drohenden Kollaps des Gesundheitssystems im Gaza­streifen. Die Krankenhäuser und medizinischen Dienste sind den Angaben zufolge überfordert. Zudem droht eine sanitäre Katastrophe. Nach Angaben der Weltbank wurde die Kläranlage von Beit Lahija durch israelischen Beschuß schwer beschädigt. Wegen der anhaltenden Stromausfälle sind im gesamten nördlichen Gazastreifen die Pumpen ausgefallen, die verschmutztes Wasser zu den Klärwerken transportieren.

Die britische Zeitung The Times bekräftigte unterdessen die Vorwürfe, daß Israel weißen Phosphor einsetzt (siehe jW vom 6. Januar). Auf Pressefotos, die vergangene Woche an der Grenze zum Gazastreifen aufgenommen wurden, seien die Phosphorbomben aus US-Produktion an der Kennzeichnung M825A1 eindeutig zu erkennen, meldete das Blatt gestern. Mediziner berichteten von schweren Verbrennungen bei zivilen Opfern, wie sie beim Einsatz von Brandbomben entstehen. Israel wies die Vorwürfe zurück.

Insgesamt weitete die israelische Armee am Donnerstag ihre Angriffe auf die Palästinenser aus. Mindestens elf Menschen kamen ums Leben, unter ihnen auch zwei Frauen und ein älterer Mann, die aus ihren Häusern fliehen wollten. Bei Kämpfen wurde ein israelischer Offizier getötet.

An der israelischen Nordgrenze schlugen am Donnerstag morgen mindestens drei Katjuscha-Raketen aus dem Libanon ein. Israel reagierte mit Artilleriebeschuß. Wer die Kampfzone auszuweiten versuchte, ist unklar. Die Hisbollah wies die Verantwortung für die Angriffe zurück. In Syrien und Iran protestierten gestern Hunderttausende Menschen gegen den Krieg.

* Aus: junge Welt, 9. Januar 2009


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