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Israel eskaliert Krieg

Fortgesetzte Angriffe auf den Gazastreifen. Drohung mit Bodenoffensive und "signifikanter Ausweitung" der Operationen. 16000 Reservisten einberufen

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Mit zahlreichen Angriffen hat Israel seinen Krieg gegen den Gazastreifen fortgesetzt. Die Zahl der Luftattacken der Operation »Säulen der Verteidigung« erhöhte sich bis Freitag morgen auf 460. Gleichzeitig berief die Armeeführung 16000 Reservisten ein; eine Bodenoffensive sei eine von vielen Optionen, sagte Armeesprecherin Avita Leibovich. Panzer und Truppentransporter wurden im Grenzgebiet stationiert, auch die Marine beteiligte sich an den Militärschlägen auf den dicht besiedelten palästinensischen Küstenstreifen.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu drohte mit einer »signifikanten Ausweitung« des Krieges. Israel werde alles Nötige tun, um sich zu verteidigen, sagte er. Ein BBC-Korrespondent berichtete von zerstörten Regierungsgebäuden wie dem Innenministerium der Hamas inmitten von Wohngebieten in Gaza-Stadt, unmittelbar neben einer Schule. Der Sprecher der UN-Organisation für die Palästinensischen Flüchtlinge (UNRWA), Chris Gunnes, informierte die britische BBC über den Tod eines Mitarbeiters im Norden des Gazastreifens. Der UNWRA-Lehrer wollte seinen Bruder evakuieren, als ihr Fahrzeug bei einem israelischen Luftangriff getroffen wurde.

Das palästinensische Gesundheitsministerium im Gazastreifen gab die Zahl der Toten bisher mit 20 an. Mehr als 230 Personen wurden verletzt. Die Khassam-Brigaden und andere militante Gruppen aus dem Küstenstreifen feuerten in den letzten drei Tagen mehr als dreihundert Raketen auf den Süden Israels ab, drei Menschen kamen dabei ums Leben. Raketenalarm gab es auch in der israelischen Wirtschaftsmetropole Tel Aviv. Auch im Großraum Jerusalem schlug eine Rakete ein. Die Hamas kündigte an, Raketen vom Typ Fadschr 5 aus iranischer Produktion (Reichweite 75 km) gegen Israel einzusetzen.

Eine für Freitag morgen – Beginn des islamischen neuen Jahres – vereinbarte dreistündige Waffenruhe hatte nicht gehalten. Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig, die Vereinbarung gebrochen zu haben. Der ägyptische Ministerpräsidenten Hisham Kandil besuchte am Freitag morgen das Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt, wo während seines Aufenthaltes zwei weitere Todesopfer eingeliefert wurden. Der Angriff Israels auf den Gazastreifen sei eine »Katastrophe«, so Kandil. Der ägyptische Präsident Mohammed Mursi bezeichnete die israelischen Luftschläge als »unverhüllten Angriff auf die Menschlichkeit«. Am heutigen Samstag wird der tunesische Außenminister in Gaza-Stadt erwartet.

Vor der Al-Azhar-Moschee in Kairo demonstrierten am Freitag Tausende Gläubige gegen die israelische Luftoffensive. Auch in palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon kam es zu Protesten. Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah rief die arabischen Staaten zum Handeln auf. Niemand erwarte zur Hilfe der Palästinenser Armeen, Panzer oder Flugzeuge, aber »senkt Euren Ölexport oder erhöht die Preise etwas, und Ihr werdet die USA und Europa erschüttern«, erklärte Nasrallah.

Bundeskanzlerin Angela Merkel machte die Hamas für die militärische Eskalation verantwortlich. Es gebe keine Rechtfertigung für den Abschuß von Raketen, die die israelische Zivilbevölkerung bedrohten, ließ Merkel Regierungssprecher Georg Streiter mitteilen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 17. November 2012


Israelische Fehlkalkulationen

Rückhalt in der Bevölkerung für Gaza-Politik der Regierung hinter deren Erwartungen

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem **


Im Nahen Osten stehen die Zeichen auf Krieg. Doch die in Israel in solchen Situationen eigentlich übliche Unterstützung für den Kurs der Regierung bleibt weitgehend aus. Misstrauisch beobachten Bevölkerung und Medien die Entwicklungen. Denn die Erinnerung an die Verfehlungen der Politik im Libanon-Krieg 2006 sind noch frisch.

Die Nervosität steigt. Der Kollege in Tel Aviv berichtet gerade von einer Pressekonferenz des Verteidigungsministeriums am Vorabend, als im Hintergrund, tief, drohend, alles durchdringend, die Sirene ertönt. »Wo ist denn der nächste Luftschutzraum?«, fragt er jemanden. »Keine Ahnung; den suche ich auch«, dringt die hektisch-angespannte Antwort durch den Hörer. Dann ist ein lautes Knallen, metallisch-knirschend, zu hören. Ein Einschlag?

»Kein Einschlag«, sagt ein Sprecher des Militärs einige Minuten später. Ob er's sagen würde, wenn's einer gewesen wäre? Er zögert. »Nicht, wenn ich nicht müsste«, sagt er dann.

Das, was die Einwohner Tel Avivs nun erleben, hatte Verteidigungsminister Ehud Barak in seiner Pressekonferenz am Donnerstag erklärt, sei das, was eine Million Menschen »seit Jahren Tag für Tag durchmachen«. Kurz zuvor hatte es die ersten beiden Luftalarme in der israelischen Wirtschaftsmetropole seit dem Golfkrieg 1991 gegeben.

Doch die in Krisenzeiten sonst übliche Unterstützung für den Kurs der Regierung ist weitgehend ausgeblieben; immer wieder wird in den Medien die Frage bearbeitet, was denn nun das Ziel dieses Krieges ist und immer öfter wird dabei auch angemerkt, dass bei den Planungen ganz offensichtlich einige Dinge übersehen worden sind: dass mit der Tötung Ahmed Jabaris, dem Oberbefehlshaber der Hamas im Gaza-Streifen, ausgerechnet derjenige ausgeschaltet wurde, der jüngst für die Durchsetzung von Waffenstillständen gesorgt hat. Und dass anscheinend niemand einberechnet hat, dass Ägyptens Regierung, die bislang diese Waffenruhen ausgehandelt hat, diese Vermittlerrolle nun aufgeben könnte. Aber noch viel mehr als all dies: dass die Raketen auch Tel Aviv erreichen können.

Ein Krieg wie dieser werde in Tel Aviv verloren, so ein Analyst des Fernsehsenders Kanal Zehn am Freitagmittag. Denn der Raketenbeschuss sei das Szenario, vor dem beispielsweise Ex-Mossad-Chef Meir Dagan warnt: Dauerten die Angriffe länger als ein paar Tage an, könne dies das öffentliche Leben im Großraum Tel Aviv zum Erliegen bringen und damit auch nahezu die gesamte israelische Wirtschaft. Im Radius der Raketen seien der internationale Flughafen Ben Gurion, die Börse, ein Großteil der Häfen und eine Vielzahl von internationalen und nationalen Großunternehmen ansässig. Und: Millionen von Menschen, für die sich Krieg seit Jahrzehnten nur in der Ferne abgespielt hat, und die sehr oft nicht einmal wissen, wo der nächste Bunker ist.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 17. November 2012


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