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Blutige Kämpfe im Gazastreifen

Dutzende Tote und Verletzte / Palästinensische Fatah beendete Kongress

Während es im Gazastreifen zu schweren Gefechten zwischen Hamas-Kräften und Extremisten kam, beendete die Fatah-Organisation ihren ersten Kongress seit 20 Jahren.

Bei blutigen Kämpfen zwischen der Polizei der Hamas-Bewegung und einer der Al Qaida nahestehenden Islamistengruppe sind im Gazastreifen mindestens 24 Menschen getötet worden. Palästinensischen Rettungskräften zufolge wurden bei den mehrstündigen Schusswechseln am Wochenende zudem 130 Menschen verletzt.

Die Kämpfe nahe Rafah an der Grenze zu Ägypten hatten am Freitagabend (14. Aug.) begonnen und dauerten bis Samstag (15. Aug.). Nach Augenzeugenberichten stürmte die radikalislamische Hamas eine Moschee in Rafah, in die sich Mitglieder der Gruppe Dschund Ansar Allah zurückgezogen hatten.

Unter den Toten sind den Rettungskräften zufolge der Chef der fundamentalistischen Gruppe, Abdelatif Mussa, und sein Stellvertreter. Auch der militärische Hamas-Führer für die südliche Region des Gazastreifens sowie fünf Polizisten wurden getötet. Die Hamas-Polizei nahm nach eigenen Angaben 80 Menschen fest, die sie der Gruppe zuordnet. Die Stürmung der Stellung der Fundamentalisten erfolgte, nachdem Mussa am Freitag ein »Islamisches Emirat« ausgerufen hatte. Dabei stellte die bewaffnete Gruppe die Vorherrschaft der Hamas im Gazastreifen in Frage.

Unterdessen beendete die Fatah-Organisation am Samstag ihren ersten Kongress seit 20 Jahren. Während des elftägigen Treffens in Bethlehem wurden die Führungsgremien neu gewählt ein neues Programm verabschiedet. Mahmud Abbas wurde an der Fatah-Spitze bestätigt. Die rund 2000 Delegierten vollzogen wie schon beim Zentralkomitee auch beim Revolutionsrat einen Generationenwechsel: Für die 80 der 120 Mandate, die zur Wahl standen, wurden 70 meist jüngere Kandidaten berufen.

Erstmals in ihrer Geschichte wählte die Fatah einen aus Israel stammenden Juden in ihren Revolutionsrat. Uri Davis, ein in Jerusalem geborener Jude, hatte in den 80er Jahren aus Protest gegen die israelische Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens seine israelische Staatsbürgerschaft niedergelegt.

* Aus: Neues Deutschland, 17. August 2009


Hamas kontra Islam-Emirat

Palästinenserverwaltung im Gazastreifen stoppt religiöse Fundamentalisten

Von Karin Leukefeld **


Sicherheitskräfte der palästinensischen Hamas haben am Wochenende der Gründung eines »Islamischen Emirats« im Gazastreifen ein schnelles Ende bereitet. Scheich Abdul Latif Mousa hatte vor Anhängern der Gruppe Dschund Ansar Allah (Soldaten der Nachfolger Gottes) beim Freitagsgebet (14. August) in Rafah das Emirat und die Einführung der islamischen Gesetzgebung Scharia ausgerufen. Hamas-Kräfte umstellten die Moschee, in der sich etwa hundert schwerbewaffnete Mitglieder der Dschund Ansar Allah verschanzt hatten. Sie beschossen das Gebäude mit Maschinengewehren und Panzerabwehrraketen, die Fundamentalisten erwiderten das Feuer.

Bewaffnete und teilweise vermummte Männer flohen schließlich mit Scheich Abdul Latif Mousa zu dessen Haus. Dort habe ein Unterhändler der Hamas den Scheich aufgesucht und aufgefordert, sich den Sicherheitskräften zu stellen. Als Antwort habe sich Abdul Latif Mousa mit einer Sprengstoffweste in die Luft gesprengt und den Hamas-Vertreter ebenfalls getötet. Ingesamt starben bei dem folgenden Kampf 24 Menschen, darunter sechs Polizisten der Hamas und ein elfjähriges Mädchen. Mehr als hundert Menschen sollen verletzt worden sein.

Die Anhänger von Dschund Ansar Allah gelten als Selafisten und berufen sich auf eine extrem dogmatische Ideologie des sunnitischen Wahabismus. Sie wird auch mit Al-Qaida verglichen. Die Klassifizierung läßt allerdings außer acht, daß mit den Kriegen in Irak und Afghanistan sehr unterschiedliche Gruppen entstanden sind, die nur noch entfernt der Al-Qaida von Osama Bin Laden zuzuordnen sind. Die Selafisten zeichnen sich durch gewalttätige Feindschaft gegenüber den Schiiten aus, die sie als »Ungläubige« bezeichnen. Christen werden als Parteigänger westlicher Politik verfolgt.

Unter den Palästinensern war Selafismus bisher nicht populär. Erstmals konnte sich eine ähnliche Gruppierung, die Fatah Al-Islam, 2007 im palästinensischen Flüchtlingslager Naher Al-Bared im Nordlibanon niederlassen. Der libanesischen Armee gelang es erst nach vier Monaten schwerer Kämpfe, die Gruppe zu besiegen. Dabei starben fast 500 Menschen auf beiden Seiten, 30 000 Palästinenser flohen, das Lager wurde in Schutt und Asche gelegt. Im Gazastreifen hat Dschund Ansar Allah unter jungen Palästinensern erst in den vergangenen Monaten Zulauf erhalten.

Der politische Weg der Hamas, die sich an Wahlen beteiligt und seit Monaten einen Waffenstillstand mit Israel einhält, wird von einer wachsenden Zahl junger Palästinenser als erfolglos abgelehnt. Ein Angriff von Dschund Ansar Allah gegen Israel im Juni schlug fehl, im Juli war es zu einer Schießerei mit Sicherheitskräften der Hamas gekommen. Der Gruppe werden auch Angriffe auf Internetcafés im Gaza­streifen angelastet, die sie als »Quelle der Unmoral« zerstören wollten. Vermittler der Hamas und muslimische Geistliche hatten zuletzt Abdul Latif Mousa mehrfach aufgefordert, die öffentlichen Hetzreden einzustellen.

Mit dem harten Vorgehen am Wochenende wollte Hamas ein »Exempel statuieren«, sagte Sprecher Taher Al-Nunu. Er warf dem Ausland vor, die Gruppe zu finanzieren, nannte aber keine Einzelheiten. Man wolle niemandem die eigene Meinung aufzwingen, werde aber ein »Islamisches Emirat im Gazastreifen« nicht zulassen. Die Hamas kämpfe gegen Israel, nicht gegen den Westen.

** Aus: junge Welt, 17. August 2009


Revolutionär

Mit dem Soziologen gehört erstmals ein Jude dem Revolutionsrat der Fatah an ***

Uri Davis ist Professor für Soziologie an der El-Kuds-Universität im Westjordanland. Geboren wurde er 1943 in Jerusalem als Sohn eines britischen Vaters und einer tschechischen Mutter, fünf Jahre vor der Gründung Israels. Seine jüdische Mutter überlebte als einzige ihrer Familie den Holocaust. Von ihr habe er gelernt, nie zu verallgemeinern, erinnerte sich Davis 2002 im Gespräch mit der »Irish Times«. »Nicht die Deutschen waren am Tod ihrer Familie schuldig, sondern die Nazis.«

Seit den 60er Jahren engagiert sich Davis für die Rechte der Palästinenser und kritisiert Israel bis heute für einen Zionismus, der mit Judentum nichts zu tun habe. Während »Zionismus ein politisches Programm« ist, sei »Judentum ein religiöses Bekenntnis« und reine Privatsache, so seine Meinung. Die und vieles mehr über sein Leben kann man auf seiner Internetseite www.uridavis.info nachlesen. In vielen Vorträgen, Artikeln und Büchern hat Davis sich mit den Folgen des politischen Zionismus für die Palästinenser seit 1948 befasst, die er als »absolut negativ« und »ethnische Säuberung« bezeichnet.

Das Vorgehen der israelischen Besatzungsmacht gegen die Palästinenser sei »nicht nur schädlich für das palästinensische Volk, sondern auch für die jüdische Gesellschaft in Israel«, so Davis. Er kritisiert den Rassismus in Israel und bezeichnet das Land als Apartheidsstaat, was viele gegen ihn aufgebracht hat. Davis hält einen Boykott gegen Israel für richtig und setzt sich für einen demokratischen Staat ein, in dem Israelis und Palästinenser gleichberechtigt zusammenleben. Aus Protest gegen die anhaltende Besatzung von Westjordanland und Gazastreifen legte Davis 1980 seine israelische Staatsbürgerschaft nieder. Zwei Jahre später erhielt er die palästinensische Staatsbürgerschaft, 1984 wurde er Mitglied der Fatah.

Drei Mal geschieden ist der Vater von vier Kindern seit 2006 in vierter Ehe mit der Palästinenserin Miyassar Abu Ali verheiratet. Früher sei er Pazifist gewesen, sagt Davis, heute erkenne er das Recht des bewaffneten Widerstandes an: »Die Erfahrung hat mich dazu gebracht.« Beim 6. Parteitag der Fatah wurde mit ihm nun erstmals ein Jude in den Revolutionsrat der Bewegung gewählt.

Karin Leukefeld

*** Aus: Neues Deutschland, 17. August 2009




Kein Erbarmen

Von Roland Etzel ****

Das blutige Ende eines religiösen Eiferers und seiner Anhänger im Gaza-Streifen hat der dort herrschenden Hamas im Westen drastische Kommentare eingebracht - in hiesigen Medien fast unisono. Die Organisation kenne »mit Feinden kein Erbarmen« titelte beispielsweise der dpa-Korrespondent. Und: Wer die Hamas herausfordere, dem drohe der Tod. Es möge dahingestellt bleiben, welches Ziel eine derart martialische Ausdrucksweise verfolgt. Einen Nachrichtenwert hat sie jedenfalls nicht.

Dabei wirft das Ereignis Fragen auf, die der Beantwortung wert wären. Warum zum Beispiel geht die Hamas, die hierzulande nie ohne das Attribut »radikalislamisch« beim Namen genannt wird, gegen eine Gruppe vor, die diese Einordnung tatsächlich verdient? Weshalb bekämpft die Hamas jemanden, die mit Al Qaida in Verbindung gebracht wurde, was man sonst ihr selbst unterstellt? Wie wäre die Reaktion hierzulande ausgefallen, wenn die Hamas das »islamische Emirat« toleriert hätte?

Eine sachliche Bewertung dieser Fragen fiele wohl nicht zum Nachteil der Hamas aus und würde deren in Israel und im Westen gepflegtes Terroristen-Image erheblich in Frage stellen. Auch könnte man dann nicht so einfach ihre Dialogsignale ignorieren und auch nicht ihr erfolgreiches Bemühen, Abenteurer in ihrem Machtbereich an unkontrollierter Raketenbastelei zu hindern. Die Möglichkeit und Notwendigkeit des Dialogs mit Hamas hatte 2008, noch weit vor dem Gaza-Krieg, der altersweise Ex-US-Präsident Jimmy Carter festgestellt. Das wollte und will aber niemand hören. Hier nicht und schon gar nicht im offiziellen Israel. Dort gilt Carter als unerwünschte Person. Da gibt es kein Erbarmen.

**** Aus: Neues Deutschland, 17. August 2009 (Kommentar)


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