Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Leinen los nach Gaza

Von Peter Wolter, Fethiye *

Zwei Schiffe der internationalen »Free Gaza«-Solidaritätsflottille sind am Mittwoch (2. Nov.) vom türkischen Hafen Fethiye ausgelaufen, um die von Israel verhängte Seeblockade des Gazastreifens zu überwinden. Die kanadische »Tahrir« und die irische »Saoirse« werden voraussichtlich am Freitag das Seegebiet vor der palästinensischen Küste erreichen. Es wird erwartet, daß die israelische Marine auch dieses Mal versuchen wird, die Schiffe auf hoher See zu kapern und in den Hafen von Ashdod zu schleppen. Vor eineinhalb Jahren war die aus mehreren Schiffen bestehende erste »Free Gaza«-Flottille in internationalen Gewässern angegriffen worden. Dabei erschossen israelische Soldaten auf der »Mavi Marmara« neun türkische Aktivisten.

Die zweite Flottille war im Sommer 2011 in griechischen Häfen nach diplomatischer Intervention Israels am Auslaufen gehindert worden. Die »Tahrir« und die »Saoirse« waren danach in türkische Häfen verlegt worden, von wo aus jetzt ein neuer Anlauf unternommen wurde. Aber auch die Türkei machte bürokratische Probleme: Für beide Schiffe wurden jeweils maximal zwölf Personen an Bord zugelassen. Etwa 40 Aktivisten müssen daher an Land zurückbleiben. Alle Teilnehmer der »Free Gaza«-Flottille haben sich schriftlich zur Gewaltfreiheit verpflichtet und Deeskalationstrainings absolviert.

Die »Tahrir« wurde von kanadischen Aktivisten mit Spendenmitteln gekauft. Benannt ist das auf den Komoren registrierte Schiff nach dem zentralen Platz in Kairo, von dem der ägyptische Volksaufstand ausging. Etwa die Hälfte der Aktivisten, die sich an Bord der »Tahrir« auf den Weg nach Palästina machen, war schon im Sommer dabei, als der letzte Versuch des Blockadebruchs von den griechischen Behörden unterbunden wurde. Zuvor waren zwei der etwa ein Dutzend Schiffe, die sich in griechischen Häfen auf das Auslaufen vorbereiteten, durch Sabotage beschädigt worden – die Organisatoren der Flottille vermuteten dahinter den israelischen Geheimdienst. Die »Tahrir« versuchte, verbotswidrig auszubrechen, wurde aber auf See von der Küstenwache gekapert.

Gemeinsames Ziel der »Free Gaza«-Kampagne ist es, die Öffentlichkeit dagegen zu mobilisieren, daß Israel durch die Seeblockade nach wie vor 1,5 Millionen Palästinenser von der Außenwelt abschneidet. An Bord der Schiffe »Tahrir« und »Saoirse« (Freiheit) befinden sich laut Organisatoren unter anderem dringend benötigte Medikamente im Wert von 30000 US-Dollar. In vielen Ländern gibt es mittlerweile Solidaritätskomitees, die gemeinsam versuchen, Druck auf Israel auszuüben, um die Blockade zu beenden. Zu den Aktivisten an Bord der »Tahrir« gehören Universitätsprofessoren, Bürgerrechtler, Gewerkschafter – einige mit christlichem, andere mit muslimischem oder jüdischem Hintergrund. Die Nationalitäten sind bunt gemischt: Die Mitreisenden kommen unter anderem aus Kanada, Ägypten, Pakistan und Australien. Der Kapitän stammt aus Griechenland. An Bord der Schiffe befinden sich auch zwei Kamerateams. Eines davon schickte der arabischsprachige Fernsehsender Al-Dschasira.

* Aus: junge Welt, 3. November 2011


"Solidarität heißt nicht, keine Angst zu haben"

Zwei Schiffe der »Free Gaza«-Flottille sollen heute nachmittag den blockierten palästinensischen Küstenstreifen erreichen. Ein Gespräch mit David Heap **

Prof. David Heap ist Kanadier, Mitglied des internationalen Lenkungsausschusses der »Free Gaza«-Solidaritätsflottille und an Bord der »Tahrir«. Per Satellitentelefon sprach er am Donnerstag mit jW.


Sie sind am Mittwoch vom türkischen Hafen Fe­thiye aus in See gestochen und unterwegs zur Küste des palästinensischen Gazastreifens – mit dem Ziel, die von Israel verhängte Seeblockade zu überwinden. Frühere Versuche, dies zu tun, sind gescheitert – zum Teil dramatisch. Wie ist die Stimmung bei Ihnen an Bord?

Wir hatten gerade ein Meeting, bei dem wir noch einmal über unsere persönlichen Grenzen und Ängste gesprochen haben; und darüber, wie wir in Streßsituationen reagieren. Klar ist, daß sich jeder einzelne von uns dem Grundsatz der Gewaltfreiheit verpflichtet fühlt. Das haben wir auch explizit für Krisensituationen trainiert. Allerdings hat sich unsere Gruppe verkleinert. Wir sind jetzt nur sechs Aktivisten und fünf Presseleute an Bord der »Tahrir«. Mit dem Kapitän sind wir zu zwölft. Wir waren eine sehr viel größere Gruppe, aber von türkischer Seite aus durften nicht mehr Personen an Bord, sonst hätte man uns nicht auslaufen lassen. Zu dem irischen Schiff »Saoirse« haben wir allerdings Sichtkontakt; und das soll auch so bleiben. Wir achten darauf, daß wir in Kontakt bleiben.

Sie haben medizinische Hilfsgüter an Bord, wollen aber auch eine Grundsatzentscheidung herbeiführen – das Ende der Blockade. Israels Regierung spricht von einer Provokation und will die Schiffe abfangen. Was werden Ihre Gruppe und speziell der Kapitän tun, wenn die israelische Marine Sie vor der Küste von Gaza zur Umkehr auffordert?

Das werden wir in diesem Moment entscheiden. Unser Ziel bleibt aber: Freiheit für die palästinensische Bevölkerung Gazas und Aufhebung der Blockade. Und unser Motto heißt nach wie vor »Menschlich bleiben«. Leider liegt jedoch die Entscheidung, ob es Gewalt gibt, nicht bei den Unbewaffneten, sondern bei denen, die die Waffen haben – also beim israelischen Militär. Und das hat sich leider schon oft als unverantwortlich und unberechenbar erwiesen.

Sie sind Linguistikprofessor und leben überwiegend in Ontario. Was ist Ihre persönliche Motivation, sich an dieser riskanten Aktion zu beteiligen?

Meine Motivation ist eine tief empfundene Solidarität mit den Menschen im blockierten Gazastreifen. Eine Freundschaft, die ich bisher leider nur per E-Mail pflegen konnte, verbindet mich mit einem Professor, der an der Universität Gaza Französisch lehrt. Während es für meine Studenten normal ist, in der Welt herumreisen zu können, um andere Länder und Kulturen kennenzulernen, bleibt das seinen Studenten verwehrt. Sie haben diese Bewegungsfreiheit nicht; und dafür haben sie mein Mitgefühl. Wer der jungen Generation die Hoffnung nimmt, der nimmt sie allen.

Im Frühsommer 2010 hat die israelische Marine die Schiffe der »Free Gaza«-Flottille geentert und auf der »Mavi Marmara« neun türkische Aktivisten getötet. Im Sommer 2011 wurde auch das »Free Gaza«-Schiff »Dignité« von der Marine aufgebracht, allerdings gab es dabei keine Toten – vielleicht auch deshalb nicht, weil die Medienaufmerksamkeit groß war. Womit rechnen Sie bei diesem erneuten Versuch?

Diese Armee ist überzeugt, vor niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Sie ist bekannt dafür, Menschenrechte und internationales Recht nicht zu achten. Dementsprechend sind wir auf alles vorbereitet. Die Aufmerksamkeit von Medien oder deren Präsenz an Bord ist leider auch kein verläßlicher Schutz.

Das ist Ihre Einschätzung. Sie fahren trotzdem. Haben Sie Angst?

Natürlich. Jeder rational denkende Mensch hätte Angst. Nach den Erfahrungen, die es mit dieser Armee gibt, wäre es irrational, bei dieser Aktion keine Angst zu haben. Weder Ihre noch meine Regierung noch die Weltgemeinschaft waren bisher Willens und in der Lage, den israelischen Staat für seine völkerrechtswidrigen Gewaltexzesse zur Verantwortung zu ziehen. Aber Solidarität heißt nicht, keine Angst zu haben. Solidarität mit den Schwächeren und Unterdrückten bedeutet vielmehr, mit der Angst umgehen zu können – und trotzdem zu tun, was getan werden muß.

Interview: Claudia Wangerin

** Aus: junge Welt, 4. November 2011


Zurück zur Gaza-Seite

Zurück zur Homepage