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"Regierung muß das Stillschweigen beenden"

Der Bundestag debattiert heute (9. Juni) in einer aktuellen Stunde über den Überfall der Israelis auf ein Solidaritätsschiff. Ein Gespräch mit Norman Paech

Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht, er war von 2005 bis 2009 außenpolitischer Sprecher ader Linksfraktion im Bundestag und ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von IPPNW.



Sie haben sich an der Solidaritätsflottille des Free-Gaza-Movement beteiligt. Heute befaßt sich der Bundestag auf Antrag der Linksfraktion in einer aktuellen Stunde mit dem blutigen Überfall Israels auf den Friedenskonvoi letzte Woche. Wie wollen Sie erreichen, daß die Blockade des Gazastreifens im öffentlichen Bewußtsein bleibt?

Mit unserer Aktion gegen die Gaza-­Blockade wollten wir die Staatenwelt aufwecken und Druck erzeugen, damit Israel die Abriegelung aufgibt. Die Bundesregierung muß ihr Stillschweigen beenden und ihre offene Kollaboration mit Israels Premier Benjamin Netanjahu aufgeben. Politik ist, wenn gehandelt wird, reden hilft da nicht viel. Deshalb wird versucht, im Herbst eine neue, noch größere Solidaritätsflotte nach Gaza zu starten.

Sie sind Völkerrechtler - warum halten Sie die Blockade des Gazastreifens für rechtswidrig?

Gaza ist weder ein eigenständiger Staat noch sonst nach dem Völkerrecht faßbar. Dennoch haben dort weder das benachbarte Israel noch Ägypten eigene Souveränitätsrechte. Eine Blockade, die seit spätestens 2007 keinen Kontakt zur Außenwelt und keinen Transport lebensnotwendiger Güter erlaubt, ist als Kollektivbestrafung der gesamten Bevölkerung zu werten - nicht nur als Maßnahme gegen die lokale Regierung oder die Hamas als Organisation. Solche Kollektivstrafen sind völkerrechtswidrig.

Die israelische Regierung behauptet, sie wolle Waffenschmuggel unterbinden. Darf sie dafür den Gazastreifen abriegeln?

Nein. Waffenschmugel kann man anders verhindern. Das zeigt der internationale Marine-Einsatz vor der libanesischen Küste. Die Handelsströme können auch mit anderen Mitteln überwacht werden. An den Grenzübergängen zum Gazastreifen wären Inspektionen der Warenlieferungen möglich. Vor der Küste Gazas haben die Israelis ohnehin keine Hoheitsrechte. Die enden mit der eigenen Staatsgrenze.

Israel fühlt sich aber militärisch bedroht. In welcher Form darf sich das Land schützen?

Wenn es um Waffen geht, sind Kontrollen ja erlaubt. Auf der Embargo-Liste stehen aber Waren wie Fischernetze, Zement und sogar Schokolade oder etwa Koriander. So darf man einen Landstrich nicht abschnüren. Dringend benötigtes Baumaterial müßte Israel in jedem Fall liefern, weil das Land nach dem rechtswidrigen Krieg gegen Gaza vor anderthalb Jahren zum Wiederaufbau verpflichtet ist.

Sie waren Passagier auf der von israelischen Soldaten gekaperten »Mavi Marmara«. War das Piraterie oder eine Kriegshandlung?

Der Übergang ist fließend. Wenn ein Schiff gegen den Willen der Besatzung in internationalen Gewässern entführt wird, handelt es sich in jedem Falle um Piraterie. Denn das Schiff wurde weder militärisch genutzt noch hatte es militärische Güter an Bord. Die Entführer kamen mit Schnellbooten, Schlauchbooten und Hubschraubern in voller militärischer Ausrüstung, sie benutzten militärische Mittel wie Granaten, Maschinengewehre und Pistolen, um unser Schiff zu überfallen. Sie töteten neun Menschen und verwundeten über 20 schwer. Das ist in der Tat ein kriegerischer Akt. Juristisch ist der Angriff auf die »Mavi Marmara« einer Invasion auf türkisches Territorium gleichzusetzen.

Es wäre wohl abwegig, eine militärische Vergeltung durch die Türkei zu fordern. Was wäre eine angemessene Reaktion auf die israelische Aggression?

Israel ist kein Unterzeichnerstaat des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag. Gleichwohl könnte die Mehrheit der UN-Staaten den IGH anrufen, um dort ein Gutachten anzufordern. Damit würde einerseits eine internationale Untersuchung der Vorfälle in Gang gesetzt, andererseits würde durch ein unabhängiges, höchstrichterliches Gremium geklärt, ob der Überfall rechtmäßig oder rechtswidrig war. Ein ähnliches Gutachten wurde bereits zur Mauer im Westjordanland erstellt. Wir deutschen Beteiligten haben zudem bei der Bundesanwaltschaft Anzeige gegen Israels Verteidigungsminister Ehud Barak gestellt wegen Entführung und weiteren Verstößen gegen das Völkerstrafrecht.

Interview: Mirko Knoche

* Aus: junge Welt, 9. Juni 2010


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