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Das neue Sorgenkind der EU heißt Frankreich

Regierung fürchtet Protestaktionen gegen drastischen Sparkurs

Von Ralf Klingsieck, Paris *

Die Salami-Taktik der französischen Regierung, ihre Maßnahmen zur Defizitbekämpfung nur scheibchenweise bekannt zu geben, lässt im In- und Ausland Zweifel aufkommen, ob sie dem Problem und vor allem seinen sozialen und innenpolitischen Konsequenzen gewachsen ist.

Vor zwei Wochen legte die Regierung offiziell ein Maßhalteprogramm vor, das vorsieht, die öffentlichen Ausgaben »einzufrieren« und jede zweite freiwerdende Stelle im öffentlichen Dienst nicht mehr zu besetzen. Vor einer Woche hat Präsident Nicolas Sarkozy zudem angekündigt, dass er die Verpflichtung zur Defizitbegrenzung in der Verfassung verankern lassen will. Das würde auch künftigen - eventuell wieder linken - Regierungen beim Geldausgeben die Hände binden. Am vergangenen Wochenende nun begann Budgetminister François Baroin in einem Fernehinterview, den Franzosen schlückchenweise reinen Wein einzuschenken. »Wir müssen unser AAA-Rating behalten«, sagte er und fügte hinzu, dass dies ein »ehrgeiziges Ziel« sei und »unter Umständen schwierig werden« könne. AAA ist die Höchstnote, die Ratingagenturen für die Kreditwürdigkeit eines Landes vergeben, und davon hängt die Höhe der Zinsen ab, die ein Land für seine Staatsschulden auf den Finanzmärkten bezahlen muss.

Diese Äußerung - nur zwei Tage nach der Rückstufung Spaniens auf die zweitbeste Stufe AA+ durch die Agentur Fitch - schlug ein wie eine Bombe. Immerhin hatte Fitch Frankreich erst Ende März sein AAA-Rating bestätigt. Doch seitdem hatte es am 27. Mai einen Nationalen Streik- und Aktionstag gegeben, der sich gegen die Sparpläne und in diesem Zusammenhang vor allem gegen die geplante Rentenreform richtete. Die sieht ein von 60 auf mindestens 62 Jahre heraufgesetztes Rentenalter und eine Verlängerung der Beitragsdauer vor. Dagegen sind landesweit rund eine Million Franzosen auf die Straße gegangen, ein weiterer Aktionstag ist bereits für den 24. Juni beschlossen. Dieser Widerstand in der Bevölkerung spielte wohl mit, als die Aktienmärkte nach den öffentlich geäußerten Bedenken von Minister Baroin auf Talfahrt gingen und der Eurokurs zeitweise auf 1,2112 Dollar sank.

Die Regierung bemühte sich umgehend um Schadensbegrenzung. Baroin ruderte zurück und versicherte in einem neuen Interview, es bestehe »kein Risiko« einer Rückstufung. Im Gegenteil, auf den Finanzmärkten würden französische Schuldverschreibungen - ebenso wie deutsche - von Investoren bevorzugt erworben, »weil wir eine diversifizierte Wirtschaft, qualifzierte Arbeitskräfte und eine im Vergleich zu anderen Ländern geringe Verschuldung der Unternehmen und Haushalte sowie eines der stabilsten Bankensysteme haben«. Auch Wirtschafts- und Finanzministerin Christine Lagarde versuchte, Zweifel zu zerstreuen, als sie dieser Tage in einem Schreiben an die Brüsseler Kommission die von dieser geforderten Auskünfte über die Maßnahmen zur Rückkehr zu den Maastricht-Kriterien gab. Das Defizit des Staatshaushalts, das 2009 bei 7,5 Prozent lag und im laufenden Jahr 8,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreichen wird, soll durch die angekündigten Sparmaßnahmen im kommenden Jahr auf 6 und 2012 auf 4,6 Prozent gesenkt werden, um 2013 wieder unter die vorgeschriebene Grenze von drei Prozent zu kommen. Ob ihr das jemand glaubt, ist fraglich, denn die meisten Beobachter halten die Wirtschaftswachstumsannahmen, die diesen Hochrechnungen zugrunde liegen, für viel zu optimistisch.

Die Konsolidierungsmaßnahmen müssten also noch verschärft werden, bis hin zu Steuererhöhungen - darauf hatte Baroin wohl die Franzosen mit seinen missglückten Äußerungen vom Wochenende vorbereiten wollen. Danach präsentierte Premier François Fillon eine weitere Salamischeibe und kündigte an, dass die Steuernischen pauschal um 10 Prozent »abgehobelt« werden sollen. Hinzu kommt, dass französische Banken in großem Umfang Staatsanleihen der »PIGS«-Länder (Portugal, Spanien, Irland, Italien, Griechenland) halten. Sollte eines dieser Länder in ernste Probleme geraten, droht Frankreich eine Banken- und Staatskrise.

Diese gesamte Entwicklung hat zu starken Dissonanzen mit Deutschland, der anderen großen Wirtschaftsmacht in Europa, geführt. Das persönliche Verhältnis zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Staatspräsident Nicolas Sarkozy hat sich spürbar abgekühlt. Doch am gemeinsamen Handeln der traditionellen Partner führt auf Dauer kein Weg vorbei. Um »Deutschland zurück ins europäische Spiel zu holen«, wie es die Zeitung »Le Monde« nennt, hat Nicolas Sarkozy seinen Vorschlag erneuert, eine »europäische Wirtschaftsregierung« zu bilden. Die soll laut »Le Monde« aus den Staats- und Regierungschefs der Eurozone zusammengesetzt werden, ein eigenes Sekretariat erhalten und künftig die gesamteuropäische Wirtschaftspolitik vorgeben. Merkel hat sich zwar auch schon für eine europäische Wirtschaftsregierung ausgesprochen, später aber präzisiert, dass sich diese nicht auf die Eurostaaten beschränken dürfe, sondern alle 27 EU-Länder umfassen müsse.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Juni 2010


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