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Gbagbos Tortur

Anhörung des 2011 gestürzten ivorischen Präsidenten vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verschoben

Von Gerd Schumann *

Die Geschichte des gestürzten, getretenen, in Geheimhaft gequälten und schließlich nach Den Haag gebrachten Präsidenten von Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste), Laurent Gbagbo, macht dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) zu schaffen. Die für den kommenden Montag geplante erste Anhörung zum Inhalt der Anklage gegen ihn wurde per Beschluß vom 2. August erneut verschoben – zum zweiten Mal nach dem 18. Juni: Damals hatte die Verteidigung des 67jährigen Politikers auf Antrag zusätzliche Zeit für eine bessere Vorbereitung auf das Verfahren erhalten. Diesmal ist es Gbagbos angeschlagene Gesundheit, die die zwei für den 13. und 21. August vorgesehenen »Hearings« verhinderte. Eine Neuterminierung blieb vorerst aus.

Inzwischen fordert Serges Gbougnon, einer der Anwälte Gbagbos, die sofortige Freilassung seines Mandanten, derweil die Zeitung Notre Voie, die in der ivorischen Hafenmetropole Abidjan erscheint, am vergangenen Samstag mit der Schlagzeile aufmachte: »Ouattara a torturé Gbagbo« – Ouattara hat Gbagbo gefoltert. Das gehe aus dem »vertraulichen medizinischen Bericht« einer dreiköpfigen Expertengruppe vom 26. Juli hervor, die den Inhaftierten im ICC-Auftrag untersucht hatte. Gbagbo habe in den Monaten, während derer er sich in den Händen seines Nachfolgers Alassane Ouattara im nordivorischen Korhogo befand, »Mißhandlungen ertragen« müssen. Er sei derzeit psychisch keinesfalls in der Lage, an einem Prozeß teilzunehmen.

Einseitige Parteinahme

Die Bilder von Gbagbo und seiner Frau Simone, die am 11. April 2011 und in den Tagen danach im Abidjaner Hôtel du Golf, Ouattaras Hauptquartier, geschossen wurden, gingen seinerzeit um die Welt: Umringt von »Rebellen« genannten Männern, er im Unterhemd, Schwellungen im Gesicht, offensichtlich malträtiert, sie ein Häufchen Elend, entmutigt hochblickend in die Kamera des Fotografen. Später würde Gbagbo vom ICC-Chefankläger Luis Moreno-Ocampo vorgeworfen werden, er sei in den Monaten nach der Stichwahl um die Präsidentschaft vom 28. November 2010 als »indirekter Mittäter« für Mord, Vergewaltigung, Mißhandlungen und andere Taten verantwortlich.

Bereits vor dem Sturz Gbagbos hatte Moreno-Ocampo Ermittlungen gegen den Präsidenten angekündigt – eine einseitige Parteinahme in einer Konfliktsituation. Absehbar war, daß der ICC deswegen in die Kritik geraten könnte. Tatsächlich wurde spätestens mit der Überführung Gbagbos in die Niederlande am 29. November 2011 die – sowieso schon angeschlagene – Autorität des Gerichtshofs erneut und eindringlich hinterfragt: Zu offensichtlich politisch motiviert war die Verfolgung Gbagbos. Sie provozierte geradezu den schon oft gegen das Gericht erhobenen Vorwurf der »Parteilichkeit« in neuer Schärfe. Dieser würde den Prozeß begleiten.

Im Fall Gbagbo ging es nicht nur darum, daß der ICC bisher ausschließlich Afrikaner verfolgt hat – und die großen Kriegsverbrecher dieser Erde – mit George W. Bush, Nicolas Sarkozy und Anthony Blair an der Spitze – eben nicht. Es ging auch nicht nur darum, daß das Haager Gericht – wie im Fall der gegen Sudans Präsidenten Omar Al-Baschir und gegen den libyschen Revolutionsführer Muammar Al-Ghaddafi erlassenen Haftbefehle – Partei für vom Westen inspirierte Rebellengruppen ergriffen hatte. In Sachen Côte d’Ivoire war zudem bekannt, daß die Gbagbo-Gegner – darunter Ouattara sowie der einflußreiche Expremier und derzeitige Parlamentspräsident Guillaume Soro – Grausamkeiten während der von ihnen veranlaßten Intervention der Nordtruppen verübt hatten.

Und: Im Laufe eines Prozesses gegen Gbagbo könnte nicht nur die neue Herrschaft in der ivorischen Hauptstadt Yamoussoukro ins Gerede kommen, sondern auch die UNO mit ihrer Blauhelmtruppe sowie die ehemalige Kolonialmacht Frankreich und deren in Abidjan stationierten Krieger der »Opération Licorne« (Operation Einhorn). Diese hatten den Angriff der von ehemaligen Putschisten geführten »Nouvelles Forces« maßgeblich militärisch unterstützt und Gbagbos Gefangennahme – und damit den lange geplanten Regime change – erst ermöglicht.

Der wirtschaftsliberale Ouattara, ein ehemaliger Vizepräsident des Internationalen Währungsfonds und als ivorischer Premier (1990–1993) zuständig für umfangreiche Privatisierungsmaßnahmen, trat an die Stelle des kolonialkritischen Gbagbo. Der mehrfach inhaftierte Gewerkschafter hatte gemeinsam mit seiner späteren Frau Simone 1982 im Untergrund die linke Ivorische Volksfront (FPI) – ein späteres Mitglied der Sozialistischen Internationale – gegründet. Als Präsident seit 2000 im Amt steuerte er – auch vor dem Hintergrund einer wachsenden Verelendung des westafrikanischen Landes, des größten Kakaoproduzenten der Welt – einen zunehmend von Paris unabhängigen Kurs.

Der französische Präsident Nicolas Sarkozy zögerte während der Turbulenzen um die Wahlergebnisse Ende 2010 auch keinen Moment: Im Galopp setzte er durch, daß sein »Bon ami« Ouattara international anerkannt wurde. Sarkozy war bereit, gegebenenfalls auch die militärische Karte zu spielen. Angesichts der unterschiedlichen ökonomischen Interessen, der ethnischen Gegensätze ebenso wie der politischen Ziele war Gewalt programmiert. Das Land war gespalten. Die Nouvelles Forces standen Gewehr bei Fuß. Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft drohte mit einer militärischen Intervention. Letztlich jedoch wurde die Machtfrage von den bereits im Land stationierten ausländischen Truppen entschieden. »Ich habe die Mission angewiesen, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Einsatz von schweren Geschützen gegen die Zivilbevölkerung zu verhindern«, erklärte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon Anfang April 2011. Die Entscheidungsschlacht nahm ihren Lauf. Gbagbo wurde von »Licorne«-Kriegern und Hubschraubern der UN-Blauhelmtruppe weggebombt.

Rekolonisierung

In weiser Voraussicht hatte Ouattara bereits am 14. Dezember 2010 verfügt, daß er als »neuer Präsident« die Gerichtsbarkeit des ICC in Den Haag anerkennt. Ouattara, offensichtlich unsicher, ob seine am 2. Dezember 2010 unter obskuren Bedingungen im belagerten Hôtel du Golf vorgenommene Inthronisierung juristisch auch haltbar war, erneuerte sicherheitshalber sein Schreiben einige Monate danach. Es könnte schließlich Probleme geben, seinen Kontrahenten vom Haager Gericht aburteilen zu lassen: Côte d’Ivoire hat das Rom-Statut, auf dessen Basis der ICC arbeitet und Kriegsverbrechen individuell verfolgen soll, nicht unterzeichnet. Es hatte die Haager Gerichtsbarkeit zwar 2003 ankannt, das geschah allerdings im Zusammenhang mit dem Putsch von 2002 und war insofern unterschiedlich interpretierbar.

Gbagbo ist nunmehr der erste – ehemalige – Staatschef, der vom Gerichtshof in Haft genommen wurde, derweil bis heute kein einziger Kämpfer Ouattaras behelligt wurde, geschweige denn die Anführer des Aufstands. Unterdessen schreitet die Rekolonisierung Côte d’Ivoires voran. Ende Januar 2012 machte Ouattara seinen Antrittsbesuch in Paris und unterzeichnete ein neues »Verteidigungsabkommen«, in dessen Zentrum eine Dauerpräsenz der »Force Licorne« in Abidjan steht.

Auch Sarkozy-Nachfolger Francois Hollande, einst Erster Sekretär der französischen Sozialisten (PS), empfing kürzlich Ouattara. Das veranlaßte die FPI als ivorische Bruderpartei der PS zu einem »Wunsch« an ihn: »Die obskure Komplizenschaft und die gefällige Nachsicht, mit denen dem ivorischen Tyrannen seitens des Eliysées zu Zeiten Nicolas Sarkozys gehuldigt wurde«, solle doch beendet werden. Der »Diktator Ouattara« gehöre ebenso wie Soro nach Den Haag, Gbagbo und 42 weitere »politische Gefangene«, die in Côte d’Ivoire einsitzen, müßten freigelassen werden. Hollande reagierte nicht.

Nun muß sich der ICC mit seiner neuen afrikanischen Chefanklägerin, Fatou Bensouda aus Gabun, entscheiden. Mit der medizinischen Expertise zu Gbagbos angeschlagenem Gesundheitszustand erhielt er die Möglichkeit, sich der prekären Hinterlassenschaft von Moreno-Ocampo und Sarkozy relativ elegant zu entledigen, seine Imageprobleme zu relativieren und die Kritiker durch Einstellung des Verfahrens zu besänftigen. Auch ist die Entscheidung, ob die Beweismittel einen Prozeß gegen Gbagbo rechtfertigen, offiziell noch nicht gefallen. Darüber sollten die nunmehr abgesagten Hearings befinden.

Verschoben ist nicht aufgehoben, und derzeit deutet wenig darauf hin, daß es zu einer Absage kommen könnte. Hierfür müßte der ICC seine bisherige Rolle als Instrument supranationaler Klassenjustiz verlassen.

Côte d’Ivoire: Masterplan zum Umsturz

Der Regime change in Côte d’Ivoire 2011 war masterplanartig vorbereitet. Er benötigte ungefähr ein Jahrzehnt Zeit zur Umsetzung. Wahrscheinlich gewannen die Überlegungen dazu bereits 2001 Konturen, nachdem der Präsident Laurent Gbagbo erstmals von einer Revision der Verträge sprach, »von denen die Unternehmen der alten Kolonialmacht profitieren, mit der Houphouët-Boigny stets beste Beziehungen unterhalten hatte« (Le monde diplomatique).

Tatsächlich war »Der Alte«, wie der erste ivorische Präsident Felix Houphouët-Boigny (1960–1993) genannt wurde, nicht nur ein autokratischer Herrscher wie aus dem Bilderbuch, sondern als solcher auch zuverlässiger Garant für den Erhalt postkolonialen Einflusses gewesen. Französische Firmen wie France Télécom, Wasser- und Elektrizitätsgesellschaften, der mächtige Baukonzern Bouygues SA, Schokoladenhersteller und Plantagenbesitzer mußten um ihre Pfründe fürchten. Zudem waren vor der Küste Côte d’Ivoires umfangreiche Öl- und Gasvorkommen entdeckt worden, eine inzwischen sprudelnde Einnahmequelle für den westafrikanischen Staat am Golf von Guinea.

Die offene Konfrontation begann nach dem Putschversuch von 2002, durchgeführt von unzufriedenen Offizieren der ivorischen Armee. Er führte letztlich zur Spaltung des Landes unter maßgeblicher Beteiligung der französischen Truppen der »Operation Einhorn«, die einen Korridor zwischen Nord und Süd einrichteten und kontrollierten. Die ivorische Luftwaffe wurde auf Befehl des französischen Präsidenten ­Jacques Chirac (1995–2007) zerstört. Frankreich moderierte 2003 die Konferenz der Konfliktparteien in Linas-Marcoussis nahe Paris, die maßgeblich zur diplomatischen Etablierung der Putschisten als der legalen Regierung gleichgestellte Kraft beitrug. Ein Fahrplan zur »nationalen Versöhnung« wurde ausgearbeitet, an dessen Ende Präsidentschaftswahlen und also die Ablösung Gbagbos stehen sollte – so das französische Kalkül.

Der UN-Sicherheitsrat wurde 2003 eingeschaltet, bis zu 10000 Blauhelme zur Umsetzung des Plans stationiert. Nach neuen Kämpfen und etlichen Turbulenzen wurden 2007 die Putschisten aus dem muslimischen Norden an der Regierung beteiligt, doch kam es nicht zur vorgesehenen Bildung einer einheitlichen Armee. Zwar wurde im Oktober und November 2010 tatsächlich abgestimmt, doch war angesichts der anhaltenden Konfrontation klar, daß der Konflikt nicht bewältigt sein würde.

Der Rest ist Geschichte, in der sich die beiden Parteien über das Wahlergebnis streiten, das bei etwa fifty-fifty liegt, sich zwei Präsidenten vereidigen lassen. Der eine – Gbagbo – wird schließlich von Blauhelmen und »Einhörnern« aus dem Amt entfernt. Ouattara, der Favorit des Westens, erhält das Zepter.



* Aus: junge Welt, Freitag, 10. August 2012


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