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Realitätsverweigerung: Redemarathon der Großen Koalition im Bundestag

Und nebenbei die Verlängerung von Bundeswehreinsätzen beschlossen


Vier Monate nach der Bundestagswahl hat Kanzlerin Angela Merkel ihre Regierungserklärung abgegeben. Darin lobte sie die soziale Marktwirtschaft und die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die Opposition warf der CDU-Chefin vor, dass ihre Rede nichts mit der Realität zu tun habe. Im Anschluss an die Debatten stimmte das Parlament über zwei NATO-Missionen ab.
Im Folgenden dokumentieren wir Artikel und Kommentare zur Regierungserklärung sowie zu den Bundeswehrmandaten.
Eine erste Stellungnahme aus der Friedensbewegung finden Sie hier!.



Zum Zuhören verdammt

Angela Merkel startete den Redemarathon der Großen Koalition im Bundestag

Von Aert van Riel *


Die Opposition hat bei der Generalaussprache im Bundestag heftige Kritik an den Plänen der Bundesregierung zur Energiewende geübt. Allerdings sind die Grünen auch zu Kompromissen bereit.

Wie klein die Opposition ist, kriegt sie in dieser Woche von der Großen Koalition deutlich zu spüren. 15 Mitglieder des Bundeskabinetts geben ausgiebige Regierungserklärungen ab. Die Opposition darf lediglich kurzzeitig die Monologe der Regierungsparteien unterbrechen und muss vor allem zuhören. Den Fraktionen von Linkspartei und Grünen stehen wegen ihrer Größe nur beschränkte Redezeiten zur Verfügung.

Den Auftakt für Schwarz-Rot machte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die CDU-Chefin schritt auf Krücken zum Rednerpult des Bundestags, wo sie sich aufgrund ihrer Skiunfallverletzung hinsetzen musste. Zu Beginn ihrer einstündigen Rede lobte Merkel die rechts-konservative Opposition in der Ukraine, die zum Teil von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt wird. »Wir unterstützen eine friedliche Lösung und die berechtigten Anliegen der Opposition«, sagte die Kanzlerin. In ihrem Statement zur Lage im eigenen Land streute sie unter dem Beifall der Koalitionsfraktionen altbekannte Phrasen ein. Die soziale Marktwirtschaft sei »unser Kompass«, Deutschland der »Wachstumsmotor Europas« und man müsse den »gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken«. Merkel musste aber auch einräumen, dass die Krise in Europa noch nicht überwunden ist. Die »Staatsschuldenkrise« sei allenfalls unter Kontrolle, sagte sie.

Im Dialog mit den USA über die Konsequenzen aus der Geheimdienst-Spähaffäre will Merkel alleine auf die »Kraft der Argumente setzen«. Sie lehnte es ab, etwa durch ein Scheitern des Freihandelsabkommens, Druck auf die USA auszuüben. Allerdings kritisierte die Kanzlerin die US-Amerikaner ungewöhnlich deutlich. »Ein Vorgehen, bei dem der Zweck die Mittel heiligt, bei dem alles, was technisch machbar ist, auch gemacht wird, verletzt Vertrauen, es sät Misstrauen«, so Merkel.

Dem Fraktionsvorsitzenden der LINKEN, Gregor Gysi, ging diese Kritik nicht weit genug. »Wenn Sie Ihre Unterwürfigkeit gegenüber den USA nicht ablegen, dann gibt es keine Partnerschaft auf Augenhöhe«, monierte er. Ihm sei aufgefallen, dass Merkel nicht ein Wort über die Wirtschaftsspionage der NSA in der Bundesrepublik verloren hatte. Nur die LINKE würde sich dagegen wenden.

Gysi kreidete der Großen Koalition außerdem an, dass sie nichts für soziale Gerechtigkeit tue. »Es gibt kein bisschen Steuergerechtigkeit«, konstatierte er. Die Bundesregierung wage sich nicht an eine höhere Besteuerung von Spitzenverdienern und Vermögenden heran. So müsse weiterhin die Mitte der Gesellschaft alles bezahlen. Auch die Energiewendepläne von Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) sind aus Sicht von Gysi nicht sozial ausgewogen. Der Linksfraktionschef befürchtete eine höhere Belastung von ärmeren Haushalten. Er schlug vor, die Strompreisaufsicht wieder einzuführen, die Stromsteuer zu senken oder abzuschaffen, die Stromrabatte für deutsche Unternehmen auf ein Minimum zu beschränken und eine Abwrackprämie für Haushaltsgeräte einzuführen, um damit einen Anreiz zu schaffen, stromsparende Geräte zu kaufen. Mit diesen Maßnahmen könne Strom bezahlbar bleiben.

Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter warf der Koalition vor, »den Stillstand zu verwalten«. Er erinnerte daran, dass die Energiewende zum Ziel habe, aus Kohle und Kernkraft auszusteigen. Tatsächlich boomt aber derzeit die Braunkohle. Kritisch sah Hofreiter auch die Pläne von Gabriel, der den Ausbau von Windkraft drosseln will. Trotz ihrer Kritik streben die Grünen eine Zusammenarbeit mit der Regierung bei der Energiewende an. »Wir strecken die Hand zum Konsens aus, um Ihren Fehlstart zu korrigieren«, sagte Hofreiter. Hintergrund sind die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat. Obwohl Schwarz-Rot im Bundestag über eine große Mehrheit verfügt, kann die Koalition nicht durchregieren. In der Länderkammer ist sie auf die Grünen angewiesen.

Die LINKE hat weniger Möglichkeiten, die Regierung zu beeinflussen. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann stellte der Partei Bedingungen, wenn sie »Partner in diesem Hause« haben wolle. »Klären Sie Ihr Verhältnis zur deutschen Verantwortung, zu Europa und zum Euro«, forderte er. Die Linkspartei hatte in den vergangenen Wochen heftig über Formulierungen im Entwurf für ihr Europawahlprogramm diskutiert, in dem die EU als »neoliberale, militaristische und weithin undemokratische Macht« bezeichnet wird. Die SPD kann sich erst eine Zusammenarbeit mit der LINKEN vorstellen, wenn die Partei ihre Haltungen zu den neoliberalen »Rettungsprogrammen« für kriselnde EU-Staaten und Auslandseinsätzen der Bundeswehr revidiert.

Doch zunächst will die SPD gemeinsam mit der Union die Opposition kleinhalten. LINKE und Grüne können wegen ihrer zahlenmäßigen Schwäche Minderheitenrechte, wie die Beantragungen von Sondersitzungen, Untersuchungsausschüssen und Enquetekommissionen, nicht wahrnehmen. Oppermann erklärte, zur Klärung der Oppositionsrechte sei der Vorschlag von Bundestagspräsident Norbert Lammert eine gute Basis. Der CDU-Mann favorisiert einen einfachen Bundestagsbeschluss, um die Oppositionsrechte auszuweiten. LINKE und Grüne lehnen dies ab, weil ein solcher Beschluss keine Rechtssicherheit bringen würde.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 30. Januar 2014


Trotzdem

Uwe Kalbe sieht in Merkels Rede eine Art Realitätsverweigerung **

Trotzhaltung lehnt die Bundeskanzlerin ab. In ihrer Regierungserklärung am Mittwoch meinte Angela Merkel, solche habe noch nie zu einem Ergebnis geführt. Dabei verlangt es eine Menge Trotz, sich den Schlussfolgerungen zu verweigern, die bei Betrachtung mancher Realitäten doch so nahe lägen. Ihnen verweigert sich die Bundesregierung, in deren Namen Merkel sprach, etwa mit ihrer Beteuerung, das Verhältnis zu den USA nicht trüben zu wollen. Die Trübung ist längst Realität. Realität ist die absurde Behauptung Washingtons, dass das Ausspähen von Politikern in Deutschland angeblich nur zu deren Bestem, weil ihrer Sicherheit dienlich sei. Sich als Nutznießer der eigenen Ausforschung zu betrachten, eine solche Selbstverleugnung trotzig zu nennen ist schon überaus freundlich.

Der trotzige Spagat zwischen den Realitäten und deren Auslegung ist Markenzeichen dieser Kanzlerinnenrede und damit der Absichten des Merkel-Kabinetts. Auch wenn man nach einem Skiunfall keine Wunder erwarten sollte – es scheiterte nicht nur der Spagat zwischen Freundschaft und Unterwerfung im Verhältnis mit Washington. Es scheiterte auch der zwischen EU-Freizügigkeit und Merkels Beharren, dass die Sozialsysteme in Deutschland von Zuwanderung unberührt bleiben sollten. Und es scheitert der Spagat zwischen dem Bekenntnis zur Energiewende und der Entscheidung, ihren Fortgang durch Streichung der Förderung zu drosseln. Zu vermuten ist, dass die Koalition mit Merkels Rede ganz zufrieden ist. Trotzdem.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 30. Januar 2014 (Kommentar)


Raketen machen nicht satt

LINKE gegen Verlängerung von Bundeswehreinsätzen ***

Die Selbstbespiegelung als »Motor in Europa«, die Sozial- und Rentenpolitik der Großen Koalition, Reaktionen auf auf die NSA-Spionageattacken, sogar die Revolte in Kiew überdeckten weitgehend ein Thema, das in den letzten Tagen für Aufregung gesorgt hatte: Afrika und die wachsende Rolle der Bundeswehr als Instrument deutscher Außenpolitik. Doch um zwei 25-minütige Debatten zur Verlängerung von Auslandseinsätzen kam man nicht herum. Namentlich abgestimmt wurde über die weitere Stationierung von »Patriot«-Flugabwehrraketen in der Türkei sowie über die Operation Active Endeavour. Angesichts der Mehrheiten konnte es keinen Zweifel daran geben, dass die schwarz-rote Koalition beides durchbrachte.

Dennoch war in der SPD-Fraktion ein Hauch von Widerstand zu verspüren: »Ich setze mich dafür ein, dass mehr für eine Verbesserung der humanitären Situation der Menschen in Syrien sowie der Flüchtlinge in den Nachbarländern getan wird«, hatte vorab die Abgeordnete Cansel Kiziltepe erklärt. Sie lehnte die weitere Stationierung von deutschen Raketen in der Türkei ab, denn sie »bedeuten keinen signifikanten Sicherheitszuwachs«. Zudem sei das Konzept des Einsatzes fraglich und setze »ein falsches Signal hin zu Aufrüstung und Gewalt«.

Damit traf sie sich gedanklich mit Katrin Kunert von der Linksfraktion. »Raketen machen nicht satt«, sagte sie und warb dafür, dass man die rund 20 Millionen Euro, die der Einsatz kostet, dafür verwendet, Lebensmittel und Medikamente für die notleidende syrische Zivilbevölkerung zu beschaffen. Als sie diese Argumente im Verteidigungsausschuss vorgebracht habe, seien sie von Vertretern der Union als »unerträglich« abgetan worden.

Verlängert wurde auch das Mandat für die Operation Active Endeavour. Die war nach den Terrorattacken 2001 auf die USA mit dem NATO-Bündnisfall begründet worden. Obwohl der inzwischen völlig gegenstandslos ist, halten Union und SPD an dem Einsatz fest, weil »das Mittelmeer zu den wichtigsten internationalen Transportkorridoren gehört«. So heißt es im Regierungsantrag. Niels Annen (SPD) stimmte zudem das hohe Lied der Bündnissolidarität an und fragte: »Wie käme es denn bei unseren Partnern an, wenn wir uns, nur weil sich die Regierungskoalition geändert hat, einseitig zurückziehen?« hei

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 30. Januar 2014

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